ArchivDeutsches Ärzteblatt46/1996Gelenkfehlstellungen bei juveniler chronischer Arthritis: Entstehungsweise und Behandlung am Beispiel des Handgelenkes

MEDIZIN: Aktuell

Gelenkfehlstellungen bei juveniler chronischer Arthritis: Entstehungsweise und Behandlung am Beispiel des Handgelenkes

Truckenbrodt, Hans; Häfner, Renate; Spamer, Marianne

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LNSLNS Die chronische Arthritis des Kindes verursacht gelenkspezifische Bewegungseinschränkungen und Fehlstellungen mit Ausweich- und Kompensationsbewegungen. In der Entstehung wirken neurophysiologische und pathomechanische Einflüsse zusammen. Am Anfang stehen scheinbar harmlose, schmerzbedingte Schonhaltungen. Auf weite Sicht drohen fixierte Gelenkfehlstellungen und Behinderungen. Das Verständnis für die Entstehungsweise bildet die Voraussetzung für eine gezielte krankengymnastische Behandlung, die sich an der entzündungsinduzierten Schmerzreaktion orientiert.


Mit der Bezeichnung juvenile chronische Arthritis werden die für das Kindesalter typischen Beginn- und Verlaufsformen umfaßt (5). Sie beinhalten das Risiko einer prozeßhaft fortschreitenden Entzündung, mit der Gefahr destruierender Veränderungen der Gelenkstrukturen. Mit oder auch ohne morphologische Gelenkschäden verursacht die chronische Arthritis eine Einschränkung der Beweglichkeit, die in aller Regel mit einer Fehlstellung der Gelenkanteile verbunden ist. Am Anfang stehen scheinbar harmlose Schonhaltungen. Sie stellen jedoch den Beginn von Funktionsbehinderungen bis hin zur fixierten Deformität dar.
Bei den kindlichen Formen der chronischen Arthritis besteht die Chance, eine Remission zu erreichen und schließlich die Krankheit zu überwinden. Sie haben insgesamt gesehen eine günstigere Prognose als die chronische Polyarthritis des Erwachsenenalters. Um so mehr sind wir während der Zeit der Krankheitsaktivität bestrebt, die Entstehung von Gelenkkontrakturen und Achsenfehlstellungen zu vermeiden. Die medikamentöse Langzeittherapie muß daher von Anfang an mit einer krankengymnastischen Behandlung verbunden sein. Diese basiert auf der Entstehungsweise der Bewegungseinschränkungen und Gelenkfehlstellungen.


Neurophysiologie und Pathomechanik
Die Entwicklung der Gelenkfehlstellungen ist nach unseren Erfahrungen bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen (Grafik 1). Die Arthritis löst an allen Gelenken die gleichen Reaktionen aus. Im Vordergrund stehen neurophysiologische oder auch neuropathologische Vorgänge (1, 11, 13). Aufgrund der verschiedenen Bio- und Pathomechanik sowie unterschiedlichen Belastungen der einzelnen Gelenke entstehen jedoch verschiedene, und zwar gelenkspezifische, Fehlstellungen (12). Neben der Entzündungsreaktion mögen der Gelenkinnendruck sowie eine Überdehnung und Schwellung von Kapsel und Bändern bedeutsam sein.
Die Fehlstellungen werden vom Alter des Kindes und der Subgruppe der juvenilen chronischen Arthritis beeinflußt (5).
Liegt eine oligoartikuläre Form mit nur einem oder wenigen erkrankten Gelenken vor, kann die Funktionseinschränkung durch eine Änderung im Bewegungsablauf der gesunden Nachbargelenke zumindest teilweise kompensiert werden. Die Polyarthritis mit überwiegend symmetrischem Befall zahlreicher großer und kleiner Gelenke führt dagegen zwangsläufig zu einer Bewegungsverarmung. Die natürliche Bewegungsfreude und der Bewegungsdrang der Kinder werden erheblich eingeschränkt (Grafik 2). !


Schmerzentlastende Schonhaltung
Der Schmerz wird in der Kinderrheumatologie häufig unterschätzt. Die Kinder klagen im Gegensatz zu Erwachsenen kaum über Schmerzen. Wir müssen den Schmerz erst sehen und verstehen lernen. Die Kinder erleben offensichtlich den Schmerz; sie verarbeiten ihn jedoch in Abhängigkeit von Alter und Entwicklung anders als Erwachsene. Je jünger sie sind, um so mehr überwiegen die sogenannten nonverbalen Schmerzäußerungen. Die Kinder sind oft quengelig, wollen wenig gehen, viel getragen werden; sie schlafen nachts unruhig. Die wichtigste Schmerzreaktion bildet die Schonhaltung der erkrankten Gelenke (1, 10, 13).
Die Arthritis verursacht eine massive Erregung der Nozizeptoren, die in allen Gelenkstrukturen mit Ausnahme des Knorpels als nichtmyelinisierte, dünne Nervenendigungen in großer Zahl zu finden sind. Selbst sogenannte schlafende Schmerzrezeptoren, die auf Traumen nicht ansprechen, werden durch den Entzündungsreiz erregt (9).
Die vom Gelenk ausgehenden Schmerzimpulse werden spinal verstärkt und auf verschiedenen Ebenen des Zentralnervensystems umgesetzt. Sie werden reflektorisch mit einer Änderung des Muskelgleichgewichtes beantwortet. Diejenigen Muskelgruppen, die die Gelenkanteile in eine schmerzmindernde Schonhaltung ziehen, werden hyperton und verkürzt, die Antagonisten hypoton; sie dystrophieren und verschmächtigen rasch (11). Die Arthritis induziert also immer eine Einschränkung der Beweglichkeit, die zunehmend mit einer Fehlhaltung der Gelenkanteile verbunden ist. Die schmerzentlastende Schonhaltung ist anfangs passiv noch ausgleichbar. Wir müssen dabei behutsam vorgehen, da das Kind sonst mit Schmerzen reagiert.


Schonhaltung als Vorläufer der Fehlstellung
Die hypertonen Muskelgruppen, die die Gelenkanteile in die Schonhaltung ziehen, stabilisieren das Gelenk in Belastung. Dadurch wird auch in der Funktion eine Schmerzentlastung erreicht. Alle Alltagsbewegungen werden unbewußt in der pathologischen Haltung des entzündeten Gelenkes ausgeführt. Durch die ständige Fehlbelastung in der Fehlhaltung entsteht im weiteren Verlauf eine Fehlstellung. Diese Entwicklung wird dadurch begünstigt, daß sich mit jeder Belastung die Schmerzreaktion und somit die Störung des Muskelzusammenspiels verstärkt. Eine wesentliche Bedeutung kommt dabei der ständigen Wiederholung des falschen Bewegungsmusters zu. Dadurch werden pathologische Bewegungsabläufe gebahnt und eingeschliffen. Es drohen Funktionseinschränkungen bis hin zur fixierten Deformität.
Typischerweise können in dieser Phase die Gelenkfehlstellungen auch passiv nicht mehr ausgeglichen werden.


Destruierende Veränderungen und Gelenkfunktion
Neben dem Nervensystem, dem bei der Entstehung der Fehlstellung eine entscheidende Rolle zukommt, können zusätzlich die lokalen Folgen des Entzündungsprozesses bedeutsam sein. Die Lockerung des Kapselbandapparates sowie destruktive Veränderungen an Knorpel, Knochen und Bändern begünstigen und verstärken die Fehlstellungen. Nach unseren Beobachtungen werden die Gelenkdestruktionen zwar durch den immunologischen Entzündungsprozeß hervorgerufen, durch eine ständige Fehlbelastung jedoch begünstigt. Gelenkfunktion und Gelenkstruktur stehen in einem ständigen Wechselspiel.


Sekundäre Fehlstellungen an gesunden Nachbargelenken
Die benachbarten Gelenke werden durch Ausweich- und Kompensationsbewegungen in den Circulus vitiosus einbezogen. Sie werden fehlbelastet und auch überlastet. Ähnlich wie an den erkrankten Gelenken werden durch die ständige Wiederholung pathologische Bewegungsabläufe gebahnt. Durch die falsche Belastung entstehen Fehlhaltungen, die sich schließlich als Fehlstellungen fixieren.
Sind die benachbarten Gelenke ebenfalls erkrankt, wie dies bei der Polyarthritis häufig der Fall ist, überlagern und summieren sich oft primäre und sekundäre Fehlstellungen. Dies müssen wir in der Befunderhebung berücksichtigen und die Zusammenhänge von primären und sekundären Störungen durch eine sorgfältige Bewegungsanalyse klären.


Entwicklung von Fehlstellungen am Beispiel Handgelenk
Fehlstellungen entstehen an allen erkrankten Gelenken vom Kiefergelenk bis zu den Zehen. Besonders gefährdet sind die sogenannten bandgeführten Gelenke wie Hand- und Finger-, Knie- und Fußgelenke. Ihre Stabilität und Kraftübertragung wird vor allem durch einen festen Kapselbandapparat gewährleistet.
Die Entstehungsweise soll exemplarisch am Handgelenk veranschaulicht werden. Das Handgelenk kann bei allen Formen der juvenilen Arthritis befallen werden. Die Fehlstellungen wie auch Ausweichbewegungen der Hand, die für das Greifen sowie das Begreifen gleichermaßen bedeutsam sind, fallen rasch ins Auge (Tabelle 1).


Volarflexion und Ulnardeviation
Die Arthritis des Handgelenkes führt reflektorisch zur Beugung und Ulnarabweichung der Hand (1, 2, 3, 4, 7, 8). Der M. flexor carpi ulnaris wird hyperton und verkürzt. Er zieht die Hand in die schmerzentlastende Volarflexion und Ulnardeviation (Abbildung 1). Die Handstrecker (M. extensor carpi ulnaris, M. extensor carpi radialis brevis et longus) erschlaffen. Frühzeitig wird die aktive Handextension eingeschränkt (Abbildung 2). Die passive Streckung ist anfangs noch möglich. Alle Funktionen der Hand werden zwangsläufig in der Schonhaltung ausgeführt. Das Kind spielt, malt und schreibt in der Beugung und Ulnarabweichung. Da die Schmerzreaktion beim Greifen zunimmt, verstärkt sich die Fehlhaltung.


Subluxation des Handcarpus nach volar
Als dritte Fehlstellung im Handgelenk entwickelt sich häufig eine Subluxation des Carpus nach volar (1-4, 7, 8) (Abbildung 3). Sie wird auch als Bajonettstellung der Hand bezeichnet. Diese Subluxation erklärt sich ebenfalls aus dem vermehrten Zug des M. flexor carpi ulnaris bei gleichzeitiger Lockerung des Kapselbandapparates durch den Entzündungsprozeß. Das Gleiten der proximalen Handwurzelreihe nach volar beginnt auf der ulnaren Seite.
Auch die Subluxation verstärkt sich beim Greifen und nimmt in sich durch die fehlerhafte Funktion weiter zu. Am Handgelenk entwickelt sich zunächst eine tastbare und bald auch sichtbare Stufe zwischen dem Ulnaköpfchen und dem Carpus.


Kindliche Handskoliose
Die Ulnardeviation der Mittelhand wird häufig durch eine Radialabweichung der Finger in den Grundgelenken kompensiert, ohne daß diese selbst erkrankt sein müssen. Die Ulnardeviation im Handgelenk und Radialabweichung der Finger ergeben zusammen das Bild der sogenannten kindlichen Handskoliose (1, 4, 7, 8) (Abbildung 4). Diese relativ häufig auftretende "Zickzackhand" des Kindesalters steht im Gegensatz zur Handskoliose der Erwachsenen. Sie entwickeln bei der chronischen Arthritis eine Radialabweichung der Mittelhand mit Ulnardrift der Langfinger.
Gelegentlich entsteht auch bei älteren Kindern und Jugendlichen bereits das Bild der adulten Handskoliose.
Die Volarflexion im Handgelenk wird vor allem beim Kleinkind durch eine Überstreckung in den Fingergrundgelenken funktionell ausgeglichen (Abbildung 5). Dadurch wird das Greifen bei gebeugtem Handgelenk erleichtert.
Um Schmerzen im Handgelenk zu vermeiden, stützt sich das Kind nicht mehr auf der Handfläche ab; das Gewicht wird auf die Fingergrundgelenke verlagert, entweder in Flexion der Finger zur Faust oder in Hyperextension. Kleinkinder schützen ihre Handgelenke, indem sie wieder auf Ellbogen und Unterarmen krabbeln.


Krankengymnastische Behandlung (Garmisch-Partenkirchener Behandlungskonzept)
Eine effektive Therapie setzt genaue Kenntnisse der gelenkspezifischen Bewegungseinschränkungen und Fehlstellungen voraus. Sie beginnt mit der genauen Befundaufnahme. Wichtig ist, daß auch endgradige Bewegungseinschränkungen und sich anbahnende Schonhaltungen erfaßt werden. Wir müssen den Schmerzkreis so früh wie möglich unterbrechen. Es ist wesentlich leichter, Schmerzschonhaltungen auszugleichen als bereits fixierte Fehlstellungen zu korrigieren.


Befundaufnahme und Bewegungsanalyse
Zunächst werden alle Gelenke auf ihre freie Beweglichkeit untersucht. Dabei müssen wir das physiologische Bewegungsausmaß der Kinder berücksichtigen, um bereits leichte Bewegungseinschränkungen zu erfassen. Liegen Gelenkfehlstellungen vor, wird ihre aktive und passive Korrekturmöglichkeit untersucht. Nach der Beurteilung der Gelenke in Entlastung erfolgt die Untersuchung bei typischen Bewegungsabläufen wie Greifen, Abstützen und Schreiben. Erkrankte Gelenke der unteren Extremität werden im Liegen, Stehen und Gehen beurteilt, wobei dem Gangbild eine wesentliche Bedeutung zukommt. Liegt ein polyarthritischer Gelenkbefall vor, müssen primäre und sekundäre Funktionseinbußen und Fehlstellungen durch eine sorgfältige Bewegungsanalyse differenziert werden.


Allgemeine Behandlungshinweise
Das Ziel der krankengymnastischen Behandlung besteht in der Erhaltung und Wiederherstellung der Gelenkbeweglichkeit und der Gelenkachsen (1, 7, 8). Je früher die krankengymnastische Behandlung einsetzt, um so leichter kann dieses Ziel erreicht werden. Es setzt eine suffiziente medikamentöse Therapie mit Schmerz- und Entzündungshemmung voraus (6).
Zunächst müssen wir ein Vertrauensverhältnis zum Kind und seinen Eltern entwickeln. Nur das entspannte Kind kann erfolgreich behandelt werden. Angst und Schmerz führen zu einer Erhöhung des Muskeltonus und verstärken die reflektorischen Schonhaltungen. Besonders beim Kleinkind wird das Vorgehen spielerisch gestaltet, muß aber dennoch effektiv bleiben. Die Kinder müssen abgelenkt werden und sich wohl fühlen. Das erfordert vom Therapeuten viel Geduld, Einfühlungsvermögen und vor allem auch Einfallsreichtum.


Passiv-assistives Durchbewegen
Das Therapiekonzept leitet sich aus dem Schmerzkreis ab (1, 7, 8) (Grafik 2). Es beginnt mit dem passivassistiven Bewegen der erkrankten Gelenke unter Abnahme der Schwere. Die Gelenke werden vorsichtig, langsam und gleichmäßig innerhalb des schmerzfreien Bewegungsausmaßes und der bestmöglich korrigierten Achse bewegt. Hebelwirkungen und Drucksteigerung im Gelenk sind zu vermeiden. Subluxationsgefährdete Gelenkanteile müssen gestützt werden. Das langsame, passiv-assistive Bewegen führt zu einer Entspannung der hypertonen Muskulatur und somit auch zur Schmerzlinderung.


Dehnen der hypertonen Muskulatur
Im nächsten Schritt werden die verkürzten, hypertonen Muskelgruppen vorsichtig gedehnt, um das physiologische Bewegungsausmaß wiederzuerlangen. Die Dehnung erfolgt in der bestmöglich korrigierten Ausgangsstellung. Sie muß den Gelenkschutz berücksichtigen. Wir dehnen in gelenkentlastenden Stellungen, beispielsweise im Sitzen, in Rücken- oder auch Bauchlage. Handstütz, Kniebeuge oder Fersensitz sind zu vermeiden. Immer muß die Schmerzgrenze beachtet werden; spannt das Kind dagegen, wird die Dehnung unterbrochen. Die verkürzten Muskeln müssen über einen längeren Zeitraum gedehnt werden. Um das erreichte Bewegungsausmaß zu erhalten, lagern wir das Gelenk anschließend in der bestmöglich korrigierten Stellung auf provisorischen Schienen, die aus Gips oder Plastik angefertigt werden.


Aktivierung der hypotonen Muskelgruppen
Sobald die passive Beweglichkeit mit Wiederherstellung der Gelenkachsen erarbeitet ist, beginnen wir mit der Aktivierung der hypotonen Muskelgruppen. Das Kind lernt, zunächst vom Therapeuten unterstützt und dann selbständig, die hypotone Muskulatur anzuspannen und das Gelenk in der physiologischen Stellung aktiv zu halten und schließlich selbst zu korrigieren. Auch die aktiven Bewegungsübungen müssen in der bestmöglich korrigierten Gelenkstellung ausgeführt werden.


Wiedererlernen des physiologischen Bewegungsmusters
Kann das erkrankte Gelenk aktiv und passiv wieder in seinem physiologischen Umfang bewegt werden, wird das Muskelzusammenspiel eingeübt. Die verlorengegangenen Bewegungsmuster müssen wieder gebahnt und neu erlernt werden. Zunächst trainieren wir einfache Bewegungsabläufe. Durch häufiges Wiederholen fördern wir die physiologischen Bewegungsmuster und integrieren sie in Alltagsbewegungen. Auch dabei muß behutsam vorgegangen werden. Wird das Kind zu früh mit komplexen Bewegungskombinationen überfordert, fällt es wieder in sein pathologisches Bewegungsmuster zurück.
Das physiologische Muskelzusammenspiel fördert gleichzeitig die Muskelkraft. Bei Abklingen der Entzündungsaktivität und freier Beweglichkeit der Gelenke baut sich die Muskelkraft spontan wieder auf. Ein Krafttraining gegen Widerstände oder mit Gewichten – wie es oft praktiziert wird – muß vermieden werden, da es die Gelenkstrukturen belastet und zu neuerlichen Gelenkschmerzen führen kann.


Ergänzende Hilfsmittel
Unter der Versorgung mit Hilfsmitteln verstehen wir in der Kinderrheumatologie weniger die Hilfen für das Selbständigkeitstraining, sondern vor allem therapeutische Maßnahmen, um die Gelenkachsen zu erhalten, die erkrankten Gelenke vor Überlastungen zu schützen und physiologisch einzusetzen. Dazu gehören vor allem stabilisierende Funktions- und Lagerungsschienen für die Hand- und Fingergelenke, Lagerungsschienen für die Kniegelenke bei Flexionskontraktur sowie individuell angefertigte, schmerzentlastende Einlagen. Alle diese Maßnahmen erfordern umfangreiche Erfahrung und eine enge Zusammenarbeit von Arzt, Krankengymnastin, Ergotherapeutin und Orthopädiemechaniker. Die Hilfsmittel müssen in der Funktion kontrolliert und eingeübt werden. Sind Gelenke der unteren Extremitäten betroffen, streben wir eine Teilentlastung vom Körpergewicht an. Sie erfolgt im frühen Kindesalter durch Schedepferdchen, Dreirad und Therapieroller, bei älteren Kindern und Jugendlichen durch Unterarmstützen und dem Einsatz des Fahrrades (Abbildung 6).


Krankengymnastik und Ergotherapie am Beispiel Handgelenk
Therapeutisch beginnen wir auch am Handgelenk mit dem vorsichtigen passiv-assistiven Bewegen. Der gelenknahe Griff unterstützt den Carpus von volar, um einer Subluxation vorzubeugen und Schmerzen zu verhindern. Gleichzeitig muß die Mittelhandachse soweit wie möglich korrigiert werden (Abbildung 7). Langsame Bewegungen unterhalb der Schmerzgrenze setzen den Tonus des M. flexor carpi ulnaris herab.
Dann wird der M. flexor carpi ulnaris, der einzige Beugemuskel, der am Carpus ansetzt, vorsichtig gedehnt, um die Dorsalextension zunächst passiv zu erarbeiten. Sobald eine ausreichende Streckung erreicht ist, üben wir die Extension im Handgelenk auch aktiv. Es werden vor allem die kurzen Handextensoren aktiviert. Das Spreizen der Finger und Strecken des Daumens werden in die Behandlung einbezogen, da die Abduktionsbewegung des Daumens der Ulnardeviation im Handgelenk entgegenwirkt. Die aktive Dorsalextension kann beim Kind spielerisch geübt werden, zum Beispiel durch Verwischen von Rasierschaum am Spiegel oder durch Anspannen der Extensoren bei gespreizten Fingern zum "Handstern". Mit dem passiven Dehnen der Flexoren und aktiven Trainieren der Extensoren wird auch die Subluxationsstellung im Handgelenk gebessert. Bei allen aktiven Übungen muß der Therapeut darauf achten, Kompensationsbewegungen, beispielsweise die Überstreckung der Fingergrundgelenke, sofort zu korrigieren.
Ist auch die aktive Streckung im Handgelenk möglich, kann mit dem Einüben von Bewegungsabläufen begonnen werden. Dies erfolgt zum Beispiel durch Winken oder Werfen mit kleinen Bällen, durch Malen und Schreibtraining.
Die Behandlung wird unterstützt durch individuell angefertigte Funktionsschienen (Abbildung 8). Sobald die Gelenkachsen passiv wiederhergestellt sind und das Gelenk abgeschwollen ist, fertigen wir leichte Plastikschienen an. Sie stabilisieren das Handgelenk in der physiologischen Achse und ermöglichen gleichzeitig eine physiologische Funktion der Finger (1, 2, 3, 4, 6, 7, 8). Eine Atrophie der Muskulatur muß dadurch nicht befürchtet werden, da bis auf den M. flexor carpi ulnaris alle übrigen Unterarm- und Handmuskeln distal des Handgelenkes ansetzen. Durch Stabilisierung des Handgelenkes wird vielmehr die Kraftübertragung auf die Finger begünstigt.
Das Anfertigen stabilisierender Funktionsschienen für das Handgelenk erfordert viel Erfahrung. Immer muß der Umgang mit den Schienen durch die Ergotherapeutin für die Alltagsbewegungen eintrainiert werden. Das Schulkind muß lernen, mit der Schiene zu schreiben. Beim Schreibtraining werden neue Bewegungsmuster eingeübt, wobei wir gleichzeitig auf den Gelenkschutz der Finger achten müssen (Abbildung 9). Eine Verdickung des Stiftes kann dabei hilfreich sein.


Information und Schulung der Eltern
Wissen und Engagement der Eltern beeinflussen den Verlauf der chronischen Arthritis erheblich. In Elternabenden und Einzelgesprächen, ergänzt durch eine ausführliche Broschüre, informieren wir die Eltern detailliert über das Krankheitsgeschehen. Sie werden in den Therapieplan bezüglich Medikamenten, Krankengymnastik und Ergotherapie einbezogen und in sozialen Fragen beraten und betreut. Im Bereich der Krankengymnastik erklären wir ihnen die Entstehungsweise der Gelenkfehlstellungen und die Prinzipien der Behandlung. Anschließend werden sie praktisch angeleitet. Die Eltern sollen in der Lage sein, einfachere krankengymnastische Übungen durchzuführen, damit die in der Klinik begonnenen Maßnahmen zu Hause in Zusammenarbeit mit der Krankengymnastin am Wohnort täglich fortgesetzt werden. Auf diese Weise erleben und kontrollieren die Eltern auch den Erfolg ihrer Maßnahmen. Sie gewinnen Sicherheit im Umgang mit der Erkrankung. Informierte und geschulte Eltern tragen maßgebend dazu bei, die Beweglichkeit der betroffenen Gelenke zu verbessern. Dadurch wird die Chance für eine altersgemäße körperliche und psychosoziale Entwicklung der Kinder wesentlich verbessert.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-3014–3021
[Heft 46]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die Verfasser.


Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Hans Truckenbrodt
Chefarzt der Rheuma-Kinderklinik Garmisch-Partenkirchen
Rummelsberger Anstalten der Inneren Mission e.V.
Gehfeldstraße 24
82467 Garmisch-Partenkirchen

1.Altenbockum von C, Hibler M, Spamer M, Truckenbrodt H: Juvenile chronische Arthritis. Entwicklung von Achsenfehlstellungen an Hand, Knie und Fuß und ihre krankengymnastische Behandlung. München: Hans Marseille Verlag, 1993
2.Chaplin D, Pulkki T, Saarimaa A, Vaino K: Wrist and finger deformities in juvenile rheumatoid arthritis. Acta Rheum Scand 1969; 15: 206-223
3.Findley TW, Halperin D, Easton JKM: Wrist subluxation in juvenile rheumatoid arthritis: pathophysiology and management. Arch Phys Med Rehabil 1983; 64: 69-73
4.Granberry WM, Mangum GL: The hand in the child with juvenile rheumatoid arthritis. J Hand Surg 1980; 5: 105-113
5.Häfner R, Truckenbrodt H: Juvenile chronische Arthritis. Die unterschiedlichen Verlaufsformen. Dt Ärztebl 1991; 88: 2913-2921
6.Häfner R, Truckenbrodt H, Michels H, Altenbockum von C: Therapie der juvenilen chronischen Arthritis. Dt Ärztebl 1991; 88: 3622-3632
7.Häfner R, Pieper M, Altenbockum von C: Die Behandlung der juvenilen chronischen Arthritis. Jahrbuch der Orthopädie, 1995; 147-167
8.Melvin JL: Rheumatic disease in the adult and child: Occupational therapy and rehabilitation. Philadelphia: FA Davis Company, 1989
9.Schmidt RF: Physiologie und Pathophysiologie der Schmerzentstehung und Schmerzverarbeitung im Bewegungssystem. Kongreßband Rheuma und Schmerz. 24. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie, Hannover, September 1990
10.Scott PJ, Ansell BM, Huskinsson EC: Measurement of pain in juvenile chronic polyarthritis. Ann Rheum Dis 1977; 36: 186-187
11.Senn E: Neurophysiology of pain. Vortrag beim Second International Workshop of Physiotherapy in Juvenile Chronic Arthritis. Garmisch-Partenkirchen, 1992
12.Seyfried A: Pathophysiologische Grundlagen der Bewegungstherapie chronisch entzündeter Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen. Basel: EULAR-Verlag, 1984
13.Truckenbrodt H: Pain in juvenile chronic arthritis: Consequences for the musculoskeletal system. Clin Exp Rheumatol 1993; 11: 59-63 (Suppl 9)

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