MEDIZIN: Aktuell
Gelenkfehlstellungen bei juveniler chronischer Arthritis: Entstehungsweise und Behandlung am Beispiel des Handgelenkes
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Mit der Bezeichnung juvenile chronische Arthritis werden die für das Kindesalter typischen Beginn- und
Verlaufsformen umfaßt (5). Sie beinhalten das Risiko einer prozeßhaft fortschreitenden Entzündung, mit der
Gefahr destruierender Veränderungen der Gelenkstrukturen. Mit oder auch ohne morphologische
Gelenkschäden verursacht die chronische Arthritis eine Einschränkung der Beweglichkeit, die in aller Regel
mit einer Fehlstellung der Gelenkanteile verbunden ist. Am Anfang stehen scheinbar harmlose
Schonhaltungen. Sie stellen jedoch den Beginn von Funktionsbehinderungen bis hin zur fixierten Deformität
dar.
Bei den kindlichen Formen der chronischen Arthritis besteht die Chance, eine Remission zu erreichen und
schließlich die Krankheit zu überwinden. Sie haben insgesamt gesehen eine günstigere Prognose als die
chronische Polyarthritis des Erwachsenenalters. Um so mehr sind wir während der Zeit der Krankheitsaktivität
bestrebt, die Entstehung von Gelenkkontrakturen und Achsenfehlstellungen zu vermeiden. Die medikamentöse
Langzeittherapie muß daher von Anfang an mit einer krankengymnastischen Behandlung verbunden sein.
Diese basiert auf der Entstehungsweise der Bewegungseinschränkungen und Gelenkfehlstellungen.
Neurophysiologie und Pathomechanik
Die Entwicklung der Gelenkfehlstellungen ist nach unseren
Erfahrungen bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen (Grafik 1). Die Arthritis löst an allen Gelenken die
gleichen Reaktionen aus. Im Vordergrund stehen neurophysiologische oder auch neuropathologische Vorgänge
(1, 11, 13). Aufgrund der verschiedenen Bio- und Pathomechanik sowie unterschiedlichen Belastungen der
einzelnen Gelenke entstehen jedoch verschiedene, und zwar gelenkspezifische, Fehlstellungen (12). Neben der
Entzündungsreaktion mögen der Gelenkinnendruck sowie eine Überdehnung und Schwellung von Kapsel und
Bändern bedeutsam sein.
Die Fehlstellungen werden vom Alter des Kindes und der Subgruppe der juvenilen chronischen Arthritis
beeinflußt (5).
Liegt eine oligoartikuläre Form mit nur einem oder wenigen erkrankten Gelenken vor, kann die
Funktionseinschränkung durch eine Änderung im Bewegungsablauf der gesunden Nachbargelenke zumindest
teilweise kompensiert werden. Die Polyarthritis mit überwiegend symmetrischem Befall zahlreicher großer und
kleiner Gelenke führt dagegen zwangsläufig zu einer Bewegungsverarmung. Die natürliche Bewegungsfreude
und der Bewegungsdrang der Kinder werden erheblich eingeschränkt (Grafik 2). !
Schmerzentlastende Schonhaltung
Der Schmerz wird in der Kinderrheumatologie häufig unterschätzt. Die Kinder klagen im Gegensatz zu
Erwachsenen kaum über Schmerzen. Wir müssen den Schmerz erst sehen und verstehen lernen. Die Kinder
erleben offensichtlich den Schmerz; sie verarbeiten ihn jedoch in Abhängigkeit von Alter und Entwicklung
anders als Erwachsene. Je jünger sie sind, um so mehr überwiegen die sogenannten nonverbalen
Schmerzäußerungen. Die Kinder sind oft quengelig, wollen wenig gehen, viel getragen werden; sie schlafen
nachts unruhig. Die wichtigste Schmerzreaktion bildet die Schonhaltung der erkrankten Gelenke (1, 10, 13).
Die Arthritis verursacht eine massive Erregung der Nozizeptoren, die in allen Gelenkstrukturen mit Ausnahme
des Knorpels als nichtmyelinisierte, dünne Nervenendigungen in großer Zahl zu finden sind. Selbst sogenannte
schlafende Schmerzrezeptoren, die auf Traumen nicht ansprechen, werden durch den Entzündungsreiz erregt
(9).
Die vom Gelenk ausgehenden Schmerzimpulse werden spinal verstärkt und auf verschiedenen Ebenen des
Zentralnervensystems umgesetzt. Sie werden reflektorisch mit einer Änderung des Muskelgleichgewichtes
beantwortet. Diejenigen Muskelgruppen, die die Gelenkanteile in eine schmerzmindernde Schonhaltung
ziehen, werden hyperton und verkürzt, die Antagonisten hypoton; sie dystrophieren und verschmächtigen rasch
(11). Die Arthritis induziert also immer eine Einschränkung der Beweglichkeit, die zunehmend mit einer
Fehlhaltung der Gelenkanteile verbunden ist. Die schmerzentlastende Schonhaltung ist anfangs passiv noch
ausgleichbar. Wir müssen dabei behutsam vorgehen, da das Kind sonst mit Schmerzen reagiert.
Schonhaltung als Vorläufer der Fehlstellung
Die hypertonen Muskelgruppen, die die Gelenkanteile in die Schonhaltung ziehen, stabilisieren das Gelenk in
Belastung. Dadurch wird auch in der Funktion eine Schmerzentlastung erreicht. Alle Alltagsbewegungen
werden unbewußt in der pathologischen Haltung des entzündeten Gelenkes ausgeführt. Durch die ständige
Fehlbelastung in der Fehlhaltung entsteht im weiteren Verlauf eine Fehlstellung. Diese Entwicklung wird
dadurch begünstigt, daß sich mit jeder Belastung die Schmerzreaktion und somit die Störung des
Muskelzusammenspiels verstärkt. Eine wesentliche Bedeutung kommt dabei der ständigen Wiederholung des
falschen Bewegungsmusters zu. Dadurch werden pathologische Bewegungsabläufe gebahnt und eingeschliffen.
Es drohen Funktionseinschränkungen bis hin zur fixierten Deformität.
Typischerweise können in dieser Phase die Gelenkfehlstellungen auch passiv nicht mehr ausgeglichen werden.
Destruierende Veränderungen und Gelenkfunktion
Neben dem Nervensystem, dem bei der Entstehung der Fehlstellung eine entscheidende Rolle zukommt,
können zusätzlich die lokalen Folgen des Entzündungsprozesses bedeutsam sein. Die Lockerung des
Kapselbandapparates sowie destruktive Veränderungen an Knorpel, Knochen und Bändern begünstigen und
verstärken die Fehlstellungen. Nach unseren Beobachtungen werden die Gelenkdestruktionen zwar durch den
immunologischen Entzündungsprozeß hervorgerufen, durch eine ständige Fehlbelastung jedoch begünstigt.
Gelenkfunktion und Gelenkstruktur stehen in einem ständigen Wechselspiel.
Sekundäre Fehlstellungen an gesunden Nachbargelenken
Die benachbarten Gelenke werden durch Ausweich- und Kompensationsbewegungen in den Circulus vitiosus
einbezogen. Sie werden fehlbelastet und auch überlastet. Ähnlich wie an den erkrankten Gelenken werden
durch die ständige Wiederholung pathologische Bewegungsabläufe gebahnt. Durch die falsche Belastung
entstehen Fehlhaltungen, die sich schließlich als Fehlstellungen fixieren.
Sind die benachbarten Gelenke ebenfalls erkrankt, wie dies bei der Polyarthritis häufig der Fall ist, überlagern
und summieren sich oft primäre und sekundäre Fehlstellungen. Dies müssen wir in der Befunderhebung
berücksichtigen und die Zusammenhänge von primären und sekundären Störungen durch eine sorgfältige
Bewegungsanalyse klären.
Entwicklung von Fehlstellungen am Beispiel Handgelenk
Fehlstellungen entstehen an allen erkrankten Gelenken vom Kiefergelenk bis zu den Zehen. Besonders
gefährdet sind die sogenannten bandgeführten Gelenke wie Hand- und Finger-, Knie- und Fußgelenke. Ihre
Stabilität und Kraftübertragung wird vor allem durch einen festen Kapselbandapparat gewährleistet.
Die Entstehungsweise soll exemplarisch am Handgelenk veranschaulicht werden. Das Handgelenk kann bei
allen Formen der juvenilen Arthritis befallen werden. Die Fehlstellungen wie auch Ausweichbewegungen der
Hand, die für das Greifen sowie das Begreifen gleichermaßen bedeutsam sind, fallen rasch ins Auge
(Tabelle 1).
Volarflexion und Ulnardeviation
Die Arthritis des Handgelenkes führt reflektorisch zur Beugung und Ulnarabweichung der Hand (1, 2, 3, 4, 7,
8). Der M. flexor carpi ulnaris wird hyperton und verkürzt. Er zieht die Hand in die schmerzentlastende
Volarflexion und Ulnardeviation (Abbildung 1). Die Handstrecker (M. extensor carpi ulnaris, M. extensor carpi
radialis brevis et longus) erschlaffen. Frühzeitig wird die aktive Handextension eingeschränkt (Abbildung 2).
Die passive Streckung ist anfangs noch möglich. Alle Funktionen der Hand werden zwangsläufig in der
Schonhaltung ausgeführt. Das Kind spielt, malt und schreibt in der Beugung und Ulnarabweichung. Da die
Schmerzreaktion beim Greifen zunimmt, verstärkt sich die Fehlhaltung.
Subluxation des Handcarpus nach volar
Als dritte Fehlstellung im Handgelenk entwickelt sich häufig eine Subluxation des Carpus nach volar (1-4, 7,
8) (Abbildung 3). Sie wird auch als Bajonettstellung der Hand bezeichnet. Diese Subluxation erklärt sich
ebenfalls aus dem vermehrten Zug des M. flexor carpi ulnaris bei gleichzeitiger Lockerung des
Kapselbandapparates durch den Entzündungsprozeß. Das Gleiten der proximalen Handwurzelreihe nach volar
beginnt auf der ulnaren Seite.
Auch die Subluxation verstärkt sich beim Greifen und nimmt in sich durch die fehlerhafte Funktion weiter zu.
Am Handgelenk entwickelt sich zunächst eine tastbare und bald auch sichtbare Stufe zwischen dem
Ulnaköpfchen und dem Carpus.
Kindliche Handskoliose
Die Ulnardeviation der Mittelhand wird häufig durch eine Radialabweichung der Finger in den Grundgelenken
kompensiert, ohne daß diese selbst erkrankt sein müssen. Die Ulnardeviation im Handgelenk und
Radialabweichung der Finger ergeben zusammen das Bild der sogenannten kindlichen Handskoliose (1, 4, 7, 8)
(Abbildung 4). Diese relativ häufig auftretende "Zickzackhand" des Kindesalters steht im Gegensatz zur
Handskoliose der Erwachsenen. Sie entwickeln bei der chronischen Arthritis eine Radialabweichung der
Mittelhand mit Ulnardrift der Langfinger.
Gelegentlich entsteht auch bei älteren Kindern und Jugendlichen bereits das Bild der adulten Handskoliose.
Die Volarflexion im Handgelenk wird vor allem beim Kleinkind durch eine Überstreckung in den
Fingergrundgelenken funktionell ausgeglichen (Abbildung 5). Dadurch wird das Greifen bei gebeugtem
Handgelenk erleichtert.
Um Schmerzen im Handgelenk zu vermeiden, stützt sich das Kind nicht mehr auf der Handfläche ab; das
Gewicht wird auf die Fingergrundgelenke verlagert, entweder in Flexion der Finger zur Faust oder in
Hyperextension. Kleinkinder schützen ihre Handgelenke, indem sie wieder auf Ellbogen und Unterarmen
krabbeln.
Krankengymnastische Behandlung (Garmisch-Partenkirchener Behandlungskonzept)
Eine effektive Therapie setzt genaue Kenntnisse der gelenkspezifischen Bewegungseinschränkungen und
Fehlstellungen voraus. Sie beginnt mit der genauen Befundaufnahme. Wichtig ist, daß auch endgradige
Bewegungseinschränkungen und sich anbahnende Schonhaltungen erfaßt werden. Wir müssen den
Schmerzkreis so früh wie möglich unterbrechen. Es ist wesentlich leichter, Schmerzschonhaltungen
auszugleichen als bereits fixierte Fehlstellungen zu korrigieren.
Befundaufnahme und Bewegungsanalyse
Zunächst werden alle Gelenke auf ihre freie Beweglichkeit untersucht. Dabei müssen wir das physiologische
Bewegungsausmaß der Kinder berücksichtigen, um bereits leichte Bewegungseinschränkungen zu erfassen.
Liegen Gelenkfehlstellungen vor, wird ihre aktive und passive Korrekturmöglichkeit untersucht. Nach der
Beurteilung der Gelenke in Entlastung erfolgt die Untersuchung bei typischen Bewegungsabläufen wie Greifen,
Abstützen und Schreiben. Erkrankte Gelenke der unteren Extremität werden im Liegen, Stehen und Gehen
beurteilt, wobei dem Gangbild eine wesentliche Bedeutung zukommt. Liegt ein polyarthritischer Gelenkbefall
vor, müssen primäre und sekundäre Funktionseinbußen und Fehlstellungen durch eine sorgfältige
Bewegungsanalyse differenziert werden.
Allgemeine Behandlungshinweise
Das Ziel der krankengymnastischen Behandlung besteht in der Erhaltung und Wiederherstellung der
Gelenkbeweglichkeit und der Gelenkachsen (1, 7, 8). Je früher die krankengymnastische Behandlung einsetzt,
um so leichter kann dieses Ziel erreicht werden. Es setzt eine suffiziente medikamentöse Therapie mit
Schmerz- und Entzündungshemmung voraus (6).
Zunächst müssen wir ein Vertrauensverhältnis zum Kind und seinen Eltern entwickeln. Nur das entspannte
Kind kann erfolgreich behandelt werden. Angst und Schmerz führen zu einer Erhöhung des Muskeltonus und
verstärken die reflektorischen Schonhaltungen. Besonders beim Kleinkind wird das Vorgehen spielerisch
gestaltet, muß aber dennoch effektiv bleiben. Die Kinder müssen abgelenkt werden und sich wohl fühlen. Das
erfordert vom Therapeuten viel Geduld, Einfühlungsvermögen und vor allem auch Einfallsreichtum.
Passiv-assistives Durchbewegen
Das Therapiekonzept leitet sich aus dem Schmerzkreis ab (1, 7, 8) (Grafik 2). Es beginnt mit dem passivassistiven Bewegen der erkrankten Gelenke unter Abnahme der Schwere. Die Gelenke werden vorsichtig,
langsam und gleichmäßig innerhalb des schmerzfreien Bewegungsausmaßes und der bestmöglich korrigierten
Achse bewegt. Hebelwirkungen und Drucksteigerung im Gelenk sind zu vermeiden. Subluxationsgefährdete
Gelenkanteile müssen gestützt werden. Das langsame, passiv-assistive Bewegen führt zu einer Entspannung
der hypertonen Muskulatur und somit auch zur Schmerzlinderung.
Dehnen der hypertonen Muskulatur
Im nächsten Schritt werden die verkürzten, hypertonen Muskelgruppen vorsichtig gedehnt, um das
physiologische Bewegungsausmaß wiederzuerlangen. Die Dehnung erfolgt in der bestmöglich korrigierten
Ausgangsstellung. Sie muß den Gelenkschutz berücksichtigen. Wir dehnen in gelenkentlastenden Stellungen,
beispielsweise im Sitzen, in Rücken- oder auch Bauchlage. Handstütz, Kniebeuge oder Fersensitz sind zu
vermeiden. Immer muß die Schmerzgrenze beachtet werden; spannt das Kind dagegen, wird die Dehnung
unterbrochen. Die verkürzten Muskeln müssen über einen längeren Zeitraum gedehnt werden. Um das
erreichte Bewegungsausmaß zu erhalten, lagern wir das Gelenk anschließend in der bestmöglich korrigierten
Stellung auf provisorischen Schienen, die aus Gips oder Plastik angefertigt werden.
Aktivierung der hypotonen Muskelgruppen
Sobald die passive Beweglichkeit mit Wiederherstellung der Gelenkachsen erarbeitet ist, beginnen wir mit der Aktivierung der hypotonen Muskelgruppen. Das Kind lernt, zunächst vom Therapeuten
unterstützt und dann selbständig, die hypotone Muskulatur anzuspannen und das Gelenk in der
physiologischen Stellung aktiv zu halten und schließlich selbst zu korrigieren. Auch die aktiven
Bewegungsübungen müssen in der bestmöglich korrigierten Gelenkstellung ausgeführt werden.
Wiedererlernen des physiologischen Bewegungsmusters
Kann das erkrankte Gelenk aktiv und passiv wieder in seinem physiologischen Umfang bewegt werden, wird
das Muskelzusammenspiel eingeübt. Die verlorengegangenen Bewegungsmuster müssen wieder gebahnt und
neu erlernt werden. Zunächst trainieren wir einfache Bewegungsabläufe. Durch häufiges Wiederholen fördern
wir die physiologischen Bewegungsmuster und integrieren sie in Alltagsbewegungen. Auch dabei muß
behutsam vorgegangen werden. Wird das Kind zu früh mit komplexen Bewegungskombinationen überfordert,
fällt es wieder in sein pathologisches Bewegungsmuster zurück.
Das physiologische Muskelzusammenspiel fördert gleichzeitig die Muskelkraft. Bei Abklingen der
Entzündungsaktivität und freier Beweglichkeit der Gelenke baut sich die Muskelkraft spontan wieder auf. Ein
Krafttraining gegen Widerstände oder mit Gewichten – wie es oft praktiziert wird – muß vermieden werden, da
es die Gelenkstrukturen belastet und zu neuerlichen Gelenkschmerzen führen kann.
Ergänzende Hilfsmittel
Unter der Versorgung mit Hilfsmitteln verstehen wir in der Kinderrheumatologie weniger die Hilfen für das
Selbständigkeitstraining, sondern vor allem therapeutische Maßnahmen, um die Gelenkachsen zu erhalten, die
erkrankten Gelenke vor Überlastungen zu schützen und physiologisch einzusetzen. Dazu gehören vor allem
stabilisierende Funktions- und Lagerungsschienen für die Hand- und Fingergelenke, Lagerungsschienen für die
Kniegelenke bei Flexionskontraktur sowie individuell angefertigte, schmerzentlastende Einlagen. Alle diese
Maßnahmen erfordern umfangreiche Erfahrung und eine enge Zusammenarbeit von Arzt, Krankengymnastin,
Ergotherapeutin und Orthopädiemechaniker. Die Hilfsmittel müssen in der Funktion kontrolliert und eingeübt
werden. Sind Gelenke der unteren Extremitäten betroffen, streben wir eine Teilentlastung vom Körpergewicht
an. Sie erfolgt im frühen Kindesalter durch Schedepferdchen, Dreirad und Therapieroller, bei älteren Kindern
und Jugendlichen durch Unterarmstützen und dem Einsatz des Fahrrades (Abbildung 6).
Krankengymnastik und Ergotherapie am Beispiel Handgelenk
Therapeutisch beginnen wir auch am Handgelenk mit dem vorsichtigen passiv-assistiven Bewegen. Der
gelenknahe Griff unterstützt den Carpus von volar, um einer Subluxation vorzubeugen und Schmerzen zu
verhindern. Gleichzeitig muß die Mittelhandachse soweit wie möglich korrigiert werden (Abbildung 7).
Langsame Bewegungen unterhalb der Schmerzgrenze setzen den Tonus des M. flexor carpi ulnaris herab.
Dann wird der M. flexor carpi ulnaris, der einzige Beugemuskel, der am Carpus ansetzt, vorsichtig gedehnt,
um die Dorsalextension zunächst passiv zu erarbeiten. Sobald eine ausreichende Streckung erreicht ist, üben
wir die Extension im Handgelenk auch aktiv. Es werden vor allem die kurzen Handextensoren aktiviert. Das
Spreizen der Finger und Strecken des Daumens werden in die Behandlung einbezogen, da die
Abduktionsbewegung des Daumens der Ulnardeviation im Handgelenk entgegenwirkt. Die aktive
Dorsalextension kann beim Kind spielerisch geübt werden, zum Beispiel durch Verwischen von Rasierschaum
am Spiegel oder durch Anspannen der Extensoren bei gespreizten Fingern zum "Handstern". Mit dem passiven
Dehnen der Flexoren und aktiven Trainieren der Extensoren wird auch die Subluxationsstellung im
Handgelenk gebessert. Bei allen aktiven Übungen muß der Therapeut darauf achten,
Kompensationsbewegungen, beispielsweise die Überstreckung der Fingergrundgelenke, sofort zu korrigieren.
Ist auch die aktive Streckung im Handgelenk möglich, kann mit dem Einüben von Bewegungsabläufen
begonnen werden. Dies erfolgt zum Beispiel durch Winken oder Werfen mit kleinen Bällen, durch Malen und
Schreibtraining.
Die Behandlung wird unterstützt durch individuell angefertigte Funktionsschienen (Abbildung 8). Sobald die
Gelenkachsen passiv wiederhergestellt sind und das Gelenk abgeschwollen ist, fertigen wir leichte
Plastikschienen an. Sie stabilisieren das Handgelenk in der physiologischen Achse und ermöglichen
gleichzeitig eine physiologische Funktion der Finger (1, 2, 3, 4, 6, 7, 8). Eine Atrophie der Muskulatur muß dadurch
nicht befürchtet werden, da bis auf den M. flexor carpi ulnaris alle übrigen Unterarm- und Handmuskeln distal
des Handgelenkes ansetzen. Durch Stabilisierung des Handgelenkes wird vielmehr die Kraftübertragung auf die
Finger begünstigt.
Das Anfertigen stabilisierender Funktionsschienen für das Handgelenk erfordert viel Erfahrung. Immer muß
der Umgang mit den Schienen durch die Ergotherapeutin für die Alltagsbewegungen eintrainiert werden. Das
Schulkind muß lernen, mit der Schiene zu schreiben. Beim Schreibtraining werden neue Bewegungsmuster
eingeübt, wobei wir gleichzeitig auf den Gelenkschutz der Finger achten müssen (Abbildung 9). Eine
Verdickung des Stiftes kann dabei hilfreich sein.
Information und Schulung der Eltern
Wissen und Engagement der Eltern beeinflussen den Verlauf der chronischen Arthritis erheblich. In
Elternabenden und Einzelgesprächen, ergänzt durch eine ausführliche Broschüre, informieren wir die Eltern
detailliert über das Krankheitsgeschehen. Sie werden in den Therapieplan bezüglich Medikamenten,
Krankengymnastik und Ergotherapie einbezogen und in sozialen Fragen beraten und betreut. Im Bereich der
Krankengymnastik erklären wir ihnen die Entstehungsweise der Gelenkfehlstellungen und die Prinzipien der
Behandlung. Anschließend werden sie praktisch angeleitet.
Die Eltern sollen in der Lage sein, einfachere krankengymnastische Übungen durchzuführen, damit die in der
Klinik begonnenen Maßnahmen zu Hause in Zusammenarbeit mit der Krankengymnastin am Wohnort täglich
fortgesetzt werden. Auf diese Weise erleben und kontrollieren die Eltern auch den Erfolg ihrer Maßnahmen.
Sie gewinnen Sicherheit im Umgang mit der Erkrankung. Informierte und geschulte Eltern tragen maßgebend
dazu bei, die Beweglichkeit der betroffenen Gelenke zu verbessern. Dadurch wird die Chance für eine
altersgemäße körperliche und psychosoziale Entwicklung der Kinder wesentlich verbessert.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-3014–3021
[Heft 46]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Hans Truckenbrodt
Chefarzt der Rheuma-Kinderklinik Garmisch-Partenkirchen
Rummelsberger Anstalten der
Inneren Mission e.V.
Gehfeldstraße 24
82467 Garmisch-Partenkirchen
1. | Altenbockum von C, Hibler M, Spamer M, Truckenbrodt H: Juvenile chronische Arthritis. Entwicklung von Achsenfehlstellungen an Hand, Knie und Fuß und ihre krankengymnastische Behandlung. München: Hans Marseille Verlag, 1993 |
2. | Chaplin D, Pulkki T, Saarimaa A, Vaino K: Wrist and finger deformities in juvenile rheumatoid arthritis. Acta Rheum Scand 1969; 15: 206-223 |
3. | Findley TW, Halperin D, Easton JKM: Wrist subluxation in juvenile rheumatoid arthritis: pathophysiology and management. Arch Phys Med Rehabil 1983; 64: 69-73 |
4. | Granberry WM, Mangum GL: The hand in the child with juvenile rheumatoid arthritis. J Hand Surg 1980; 5: 105-113 |
5. | Häfner R, Truckenbrodt H: Juvenile chronische Arthritis. Die unterschiedlichen Verlaufsformen. Dt Ärztebl 1991; 88: 2913-2921 |
6. | Häfner R, Truckenbrodt H, Michels H, Altenbockum von C: Therapie der juvenilen chronischen Arthritis. Dt Ärztebl 1991; 88: 3622-3632 |
7. | Häfner R, Pieper M, Altenbockum von C: Die Behandlung der juvenilen chronischen Arthritis. Jahrbuch der Orthopädie, 1995; 147-167 |
8. | Melvin JL: Rheumatic disease in the adult and child: Occupational therapy and rehabilitation. Philadelphia: FA Davis Company, 1989 |
9. | Schmidt RF: Physiologie und Pathophysiologie der Schmerzentstehung und Schmerzverarbeitung im Bewegungssystem. Kongreßband Rheuma und Schmerz. 24. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie, Hannover, September 1990 |
10. | Scott PJ, Ansell BM, Huskinsson EC: Measurement of pain in juvenile chronic polyarthritis. Ann Rheum Dis 1977; 36: 186-187 |
11. | Senn E: Neurophysiology of pain. Vortrag beim Second International Workshop of Physiotherapy in Juvenile Chronic Arthritis. Garmisch-Partenkirchen, 1992 |
12. | Seyfried A: Pathophysiologische Grundlagen der Bewegungstherapie chronisch entzündeter Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen. Basel: EULAR-Verlag, 1984 |
13. | Truckenbrodt H: Pain in juvenile chronic arthritis: Consequences for the musculoskeletal system. Clin Exp Rheumatol 1993; 11: 59-63 (Suppl 9) |