ArchivDeutsches Ärzteblatt PP11/2003Lebensqualität von Psychotherapeuten: Ständige emotionale Beanspruchung

WISSENSCHAFT

Lebensqualität von Psychotherapeuten: Ständige emotionale Beanspruchung

Sonnenmoser, Marion

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LNSLNS Wissenschaftler untersuchen derzeit die Gründe für die relativ hohen Suizidraten bei Psychiatern und Psychotherapeuten.

An die Persönlichkeit und Integrität von Psychiatern und Psychotherapeuten werden hohe Anforderungen gestellt. Denn sie sind stark persönlich gefordert und ohne Unterlass allen Qualitäten seelischen Leidens ihrer Patienten ausgesetzt: Sie müssen geduldig zuhören, aufnehmen, annehmen, verstehen, akzeptieren, standhalten und konstruktiv bleiben. Die Ausübung dieser Helferberufe setzt daher ein dauerhaftes psychisches Gleichgewicht voraus. Denn nur ein gesunder, emotional unabhängiger und stabiler Therapeut kann seine Kunst ausüben und zugleich dem Patienten gewährleisten, dass er seine Macht und die Abhängigkeit von ihm und seinen Hilfsangeboten nicht missbraucht.
Hohe Suizidraten bei Psychologinnen
Auch Therapeuten erleiden Schicksalsschläge, haben Bedürfnisse und Leidenschaften und geraten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Trotz ihres Wissens und der Techniken, die ihnen ihre Profession zur Verfügung stellt, können sie sich nicht immer selbst helfen. Da Psychotherapeuten ihren eigenen Berufsstand nur selten zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen machen, gibt es nur wenige Erkenntnisse über das Schicksal hilfsbedürftiger Psychiater und Psychotherapeuten. Die wenigen existierenden Studien rütteln jedoch auf: So zeigen beispielsweise Studien aus den Neunzigerjahren, dass innerhalb der Berufsgruppe der Ärzte die Psychiater, gefolgt von den Anästhesisten, am häufigsten den Freitod suchen. Vergleichsweise hohe Suizidraten sind auch bei Psychologinnen zu finden. Die Gründe hierfür sind bislang kaum erforscht. Prof. Dr. med. Christian Reimer, Leiter der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Giessen, und Dr. Harald Jurkat, Dipl.-Psych., gehen zurzeit im Rahmen einer größeren, repräsentativ angelegten Untersuchung diesen Gründen nach. Die Forscher schließen nach Sichtung der spärlichen Literatur zur Lebensqualität von Psychiatern und Psychotherapeuten auf berufliche und persönliche Ursachen.
„Durch ihren Beruf sind Psychiater und Psychotherapeuten ständig mit Krankheit, Leid und Schmerz konfrontiert“, sagt Reimer. Beide Berufsgruppen beschäftigen sich mehr als andere Helfer mit persönlichen, privaten und emotionalen Qualitäten von Störungen. Sie erleben täglich bei ihren Patienten Neigungen zur Negativität, Verleugnungen, Entwertung, Sucht, Suizidalität, Wut, Hass, Perversion, Depression und vieles mehr. Der ständige Umgang mit diesen negativen Aspekten kann sehr belastend für den Behandler sein und dessen Lebensqualität mindern.
Aber auch die Therapeut-Patient-Beziehung birgt Gefahren für das innere Gleichgewicht des Therapeuten. So erleben Therapeuten beispielsweise eine ständige Bedrohung ihrer Grenzen und Integrität durch grenzgestörte Patienten. Die Patienten regen außerdem eigene Erinnerungen an unangenehme biografische Details an. Auch muss sich der
Therapeut darauf gefasst machen, dass er Gemeinsamkeiten zum Patienten entdeckt, die ihm nicht angenehm sind. Darüber hinaus kommt es zu Rückfällen, Stagnation oder Therapieabbrüchen. Vollständige Heilung ist hingegen selten. Das Therapieren vermittelt daher kaum Erfolgserlebnisse, sondern relativ häufig Enttäuschungen und Kränkungen.
Die ständige emotionale Überbeanspruchung kann krank machen und zu Anspannung, Verspannungen, Erschöpfung, Müdigkeit, Schlafstörungen, Substanzmissbrauch und Burn-out führen. Darüber hinaus entwickeln die Betroffenen aggressive Gefühle gegenüber ihren Patienten, die sich in Feindseligkeit, Wut und Desinteresse äußern. Viele Helfer fühlen sich aber auch hilflos, depressiv, ohnmächtig, resigniert und erschöpft. Für die therapeutische Beziehung und den Prozess haben solche Affekte fatale Folgen.
Denn die Affekte drücken sich in Gegenübertragungsreaktionen aus, vor allem in unbewusster Feindschaft und Feindseligkeit, die zu einem machtorientierten, sadistischen Umgang mit Patienten führen können. Sie treten häufig gegenüber solchen Patienten auf, die sich den Wirkmöglichkeiten des Therapeuten entziehen und bei ihm Frustration, Angst, Ablehnung provozieren. Beispielhaft dafür sind Sucht- und Suizidpatienten, aber auch die so genannten Vorwurfspatienten. Deren nicht enden wollende Anklagen, Beschuldigungen und Entwertungen können heftige Gegenübertragungsgefühle auslösen. Feindseligkeiten sind ein häufiges Phänomen in psychotherapeutischen Behandlungen. Dennoch gelingt es nach Reimer selbst erfahrenen Psychotherapeuten nicht immer, sadistische Projektionen und Feindseligkeit rechtzeitig zu erkennen und mit ihnen adäquat umzugehen.
Auch die Persönlichkeit bestimmt die Berufswahl
Neben den berufsbedingten Belastungen können auch persönliche Probleme die Lebensqualität von Psychiatern und Psychotherapeuten beeinträchtigen. Die Forscher nehmen an, dass sich ganz bestimmte Persönlichkeiten zu diesen Berufen hingezogen fühlen. Es sind häufig Individualisten, sensible und verletzte Menschen – oft auch mit Persönlichkeitsstörungen – die selbst Hilfe suchen. Ob sie diese in der Ausbildung auch finden, bleibt fraglich. Persönliche Probleme können Therapeuten dazu verleiten, ihre Bedürftigkeiten an den Patienten auszuleben. So laufen Therapeuten Gefahr, sich entgangene Akzeptanz und Zuwendung bei den Patienten zu holen. Einsamkeit und Unzufriedenheit kann dazu verleiten, in Patienten Partner und Freunde zu sehen oder nach Liebespartnern und sexuellen Beziehungen zu suchen. Auch akute und chronische Lebenskrisen, Mangel an sozialen Kontakten und Zustände erhöhter Verletzbarkeit bei Therapeuten können zu Missbrauch und vielfältigen Verstrickungen führen.
Beruf nicht zum Lebensinhalt machen
Zur Prävention solcher Probleme raten Reimer und Jurkat dazu, innere Distanz zu wahren, Berufliches und Privates nicht zu vermischen und den Beruf nicht zum Lebensinhalt zu machen. Auch eine gesunde Lebensführung mit genügend Zeit für Entspannung und die Pflege nichtberufsbezogener Aktivitäten und Beziehungen gehört zur Psychohygiene für diese Berufsgruppen. Anders als beispielsweise in den USA gibt es in Deutschland jedoch weder Selbsthilfegruppen noch Anlaufstellen für gefährdete, hilfsbedürftige Therapeuten. Daher fordern die Forscher eine regelhafte, verpflichtende und schulenübergreifende Vermittlung von ethischen Fragen und Problemen in psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungsinstitutionen. Hilfreich und sinnvoll sind nach Meinung der Autoren außerdem regelmäßige Selbsterfahrung, Intervision und eine kontinuierliche professionelle Unterstützung – auch nach Abschluss der Weiterbildung.
Dr. phil. Marion Sonnenmoser

Literatur
Reimer C, Jurkat HB: Lebensqualität von Psychiatern und Psychotherapeuten. Schweizerische Ärztezeitung 2001; 92: 32/33: 1733–1738.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. C. Reimer, Justus-Liebig-Universität
Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
Friedrichstraße 33, 35392 Giessen
Telefon: 06 41/99 45 60 01
E-Mail: christian.reimer@psycho.med.uni-giessen.de

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