ArchivDeutsches Ärzteblatt49/2003Der Masernausbruch in Coburg: Was lässt sich daraus lernen?
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LNSLNS Zusammenfassung
Im November 2001 begann in der Stadt und im Landkreis Coburg ein Masernausbruch, der insgesamt acht Monate dauerte. In dieser Zeit wurden 1 191 Masernfälle gemeldet, entsprechend einer kumulativen Inzidenz von 882/100 000 Einwohner mit 43 (4 Prozent) gemeldeten stationären Masernfällen. 398 Patienten konnten anhand von Fragebögen untersucht werden; in dieser Gruppe traten bei 28 Prozent Komplikationen auf, es kam jedoch zu keinen Masernenzephalitiden oder Todesfällen. Neun Prozent der Masernpatienten waren geimpft. Bei Durchimpfungsraten von 90 Prozent oder höher in den Nachbarlandkreisen blieb der Ausbruch auf Stadt und Landkreis Coburg beschränkt, wo die Durchimpfungsrate bei 77 Prozent lag. Im Rahmen einer Interventionsmaßnahme während des Ausbruchs, bei der die Eltern persönlich angesprochen wurden, stiegen die Verkaufszahlen des Masernimpfstoffs kurzfristig drastisch an. Schätzungsweise bis zu 50 Prozent der für Masern empfänglichen Population der unter 15-Jährigen konnte dadurch zusätzlich geschützt werden. Durch diese Interventionsmaßnahme wurde ein relevanter Anteil der Bevölkerung für eine Impfung motiviert. Mittels einer kleinräumigen Gesundheitsberichterstattung können Regionen mit einem erhöhten Risiko für Masernausbrüche identifiziert werden. Möglicherweise lässt sich bei einem beginnenden Ausbruch durch personenbezogene Interventionsmaßnahmen die Durchimpfungsrate auch in diesen Regionen mit einem hohen Anteil an Ungeimpften und Impfgegnern kurzfristig erheblich steigern.

Schlüsselwörter: Masern, Schutzimpfung, Epidemiologie, Durchimpfungsrate

Summary
The Outbreak of Measles in Coburg – What Lessons Can we Learn?
An outbreak of measles occurred in Coburg between November 2001 and June 2002. 1 191 cases of measles were reported, accounting for a cumulative incidence of 882/100 000 inhabitants with 43 (four per cent) hospitalized cases. Complications were reported in 28 per cent of the cases, no measles-encephalitis or deaths were observed. In nine per cent of the cases the patients were vaccinated. The outbreak was limited to the district of Coburg, where the vaccination coverage was 77 per cent compared to 90 per cent or above in the surrounding districts. A vaccination campaign directly addressing individuals during this outbreak prompted a dramatic increase in vaccine-sales, which would be enough to vaccinate up to 50 per cent of the susceptible population under 15 years.
A relevant part of the population could be motivated for a vaccination by these interventions. The availability of local vaccine coverage data may be useful to identify these regions at risk for outbreaks. At early stages of the outbreak vaccination campaigns addressing individuals might improve vaccination coverage even in regions with low measles vaccination coverage due to a considerable part of the population opposing vaccination.

Key words: measles, vaccination, epidemiology, vaccination coverage


Die Stadt- und Landkreise Aachen und Coburg und der Landkreis Leer meldeten im ersten Quartal 2002 Masernausbrüche (1). Von diesen Ausbrüchen war der Coburger der größte. Hierüber wurde auch in den internationalen Medien berichtet. In diesem Beitrag werden die Besonderheiten dieses Ausbruchs dargelegt. Dabei werden folgende Fragen fokussiert:
- Warum kam es zu dem Ausbruch – muss auch in anderen Regionen mit solchen Ausbrüchen gerechnet werden?
- Warum blieb der Ausbruch auf Coburg begrenzt?
- Welche Aufklärungskampagnen zur Riegelungsimpfung sind erfolgversprechend?
Epidemiologische Untersuchung
Für die epidemiologische Untersuchung des Masernausbruchs wurden mehrere Datenquellen verwendet. Die Routinedaten der Masernmeldungen gemäß § 6 und § 7 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) wurden zur Beschreibung des Ausbruchs in Coburg und der Erfassung der Masernfälle in den umliegenden Landkreisen herangezogen. Die Meldepflicht für den behandelnden Arzt besteht nach folgender klinischer Falldefinition für Masern: länger als drei Tage anhaltender generalisierter makulopapulöser Ausschlag und Fieber > 38,4°C und mindestens eines der Symptome Husten, wässriger Schnupfen, Kopliksche Flecken, Konjunktivitis. Darüber hinaus ist jede durch labordiagnostischen Nachweis bestätigte Maserninfektion meldepflichtig. Der Beginn des Ausbruchs wurde auf November 2001 festgelegt, nachdem in Stadt und Landkreis Coburg in der 46. Meldewoche zehn Fälle angezeigt wurden, wohingegen zuvor dort keine Masernerkrankungen berichtet worden waren. Als Ende des Ausbruchs wurden ausbleibende Masernmeldungen in zwei aufeinanderfolgenden Meldewochen definiert.
Die Meldungen der Masernfälle waren Veranlassung für die Kontaktaufnahme zu den betroffenen Familien mittels eines Fragebogens. Den gemeldeten Patienten wurde vom Gesundheitsamt Coburg ein anonymer schriftlicher Fragebogen zugesandt. Ziel der Fragebogenaktion war, die Diagnose Masern anhand der klinischen Falldefinition zu überprüfen, Komplikationen – einschließlich stationärer Aufnahmen – im Rahmen der Masernerkrankung zu erfassen und den Impfstatus der Masernfälle zu erheben. Bei fehlender Antwort folgte nach zwei Monaten ein Erinnerungsschreiben. Unplausible Angaben zu den Impfungen wurden in einer schriftlichen und telefonischen Nacherhebung überprüft. Dort wurde nochmals betont, dass nur Angaben zu Masernimpfungen gemacht und diese Angaben dem Impfpass entnommen werden sollten. Die Repräsentativität der zurückgesandten Fragebögen wurde anhand der Kriterien Geschlechtsverteilung, Alter, Rate der stationären Aufnahme und Verteilung auf Stadt und Landkreis Coburg überprüft.
Darüber hinaus wurde für stationäre Patienten um die Übersendung eines Arztbriefes gebeten. Da der Großteil der stationären Masernpatienten in der Kinderklinik Coburg behandelt worden war, wurde dort gezielt nach der Diagnose Masern gesucht, um alle stationären Masernfälle von November 2001 bis Juni 2002 zu erfassen. Zusätzlich wurden alle Kinderkliniken in der weiteren Umgebung von Coburg kontaktiert und es wurde um die Zusendung der anonymisierten Arztbriefe stationär behandelter Kinder mit Masern gebeten. Zur Erfassung hospitalisierter Masernfälle im Erwachsenenalter wurden die betreffenden Medizinischen Kliniken gezielt angeschrieben.
Die Daten der bayerischen Schuleingangsuntersuchungen von 1998/1999 bis 2000/2001 und die Durchimpfungsraten in Thüringen bei Schuleingangsuntersuchungen für 2001 (5) wurden zur Erfassung der Durchimpfungsraten in Coburg und den benachbarten Landkreisen herangezogen. Darüber hinaus wurden die Durchimpfungsraten in allen bayerischen Landkreisen erfasst, um zu überprüfen, ob auch in anderen Landkreisen vergleichbare Masernausbrüche auftreten könnten.
Nachdem das örtliche Gesundheitsamt den beginnenden Ausbruch erkannte, wurden im Dezember 2001 die Gemeinschaftseinrichtungen von Stadt und Landkreis Coburg sowie die niedergelassenen Ärzte über die Notwendigkeit einer Impfung und die Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes, insbesondere die Meldepflicht bei Masernerkrankungen, informiert. Vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit wurde dann Anfang März 2002 ein umfangreicher Aktionsplan erarbeitet. Wichtigste Maßnahme war ein Aufruf zur Riegelungsimpfung an die Bevölkerung und die niedergelassenen Ärzte. Im Unterschied zu der vorherigen Intervention wurden hierbei die Eltern persönlich angesprochen. Dazu wurden an allen Schulen, städtischen Kindergärten und Kindertagesstätten in Stadt und Landkreis Coburg Merkblätter mit einem Aufruf zur Masernimpfung verteilt. Der Erfolg dieser Intervention wurde anhand der monatlichen Verkaufszahlen der Masernimpfstoffe überprüft. Es wurden die Verkaufssegmente Coburg, Neustadt bei Coburg und Bad Rodach/ Ebersdorf erfasst, die in etwa dem Gebiet von Stadt und Landkreis Coburg entsprechen.
Ergebnisse
Masernausbruch Coburg
Zwischen November 2001 und Juni 2002 wurden dem zuständigen Gesundheitsamt 1191 Masernerkrankungen in Stadt und Landkreis Coburg gemeldet. Ausgangspunkt war eine anthroposophische Schule. Von hier aus breiteten sich die Masern auf das Stadtgebiet und die Gemeinden im Landkreis aus. Die kumulative Inzidenz für alle Altersgruppen betrug 882 Masernfälle pro 100 000 Einwohner für diesen Zeitraum. In der Stadt Coburg lag sie mit 1 015 pro 100 000 etwas höher als im Landkreis Coburg mit 815 pro 100 000 Einwohner. Die Altersgruppe der Ein- bis Vierjährigen hatte die höchste Inzidenz mit 7 182 pro 100 000 Einwohner. Grafik 1 zeigt die epidemiologische Kurve des Masernausbruchs in Stadt und Landkreis Coburg nach Meldewochen.
Das Alter lag im Median bei sechs Jahren, 23 Patienten (2 Prozent) waren jünger als ein Jahr und der älteste gemeldete Patient war 86 Jahre alt (Altersverteilung siehe Tabelle 1). 54 Prozent der Masernfälle waren männlich.
Bei 43 der 1 191 gemeldeten Fälle (4 Prozent) wurde ein stationärer Aufenthalt angegeben. Für 38 Fälle erhielten die Autoren Arztbriefe über die stationäre Behandlung – darunter 34 von Kinderkliniken und 4 von Medizinischen Kliniken. Hierbei zeigte es sich, dass drei Säuglinge zur Behandlung mit Immunglobulinen bei Maserninkubation aufgenommen worden waren und bei zwei Kindern die Diagnose Masern in der Klinik nicht bestätigt wurde. Todesfälle und Enzephalitiden wurden weder gemeldet noch in den Arztbriefen aufgeführt.
In Grafik 2 a und 2 b sind die Durchimpfungsraten und die nach IfSG gemeldeten Masernfälle von Coburg und den umliegenden Landkreisen gegenübergestellt, sodass der Zusammenhang zwischen Durchimpfungsraten und Erkrankungshäufigkeit deutlich wird. In den umliegenden Landkreisen lagen die Durchimpfungsraten durchweg bei 90 Prozent oder höher. Masernerkrankungen blieben dort auf Einzelfälle beschränkt (bei Einwohnerzahlen zwischen 67 000 und 212 000).
Komplikationen und Impfstatus der Masernfälle
An 762 von 1 191 gemeldeten Masernfällen wurden Fragebögen versandt. Den Erkrankten, die zwischen November 2001 und Februar 2002 gemeldet wurden, konnten – mit wenigen Ausnahmen – keine Fragebögen zugeschickt werden, da deren Originalmeldebögen bereits vernichtet worden waren und daher die Adressen nicht mehr zugänglich waren.
Von den 762 versandten Fragebögen wurden 510 zurückgeschickt, was einer Ausschöpfung von 67 Prozent entspricht. Die folgenden Daten beziehen sich auf die 510 auswertbaren Fragebögen. Die Teilnehmer unterscheiden sich hinsichtlich Geschlecht, Alter, Verteilung auf Stadt und Landkreis und Rate der stationären Aufnahmen nicht von der Gesamtheit aller Erkrankten.
Die klinische Falldefinition für Masern wurde bei 398 von 510 Patienten erfüllt. Das entspricht einem Anteil von 78 Prozent. Von den 112
Patienten ohne erfüllte klinische Falldefinition fehlte bei 64 Patienten das länger als drei Tage anhaltende Exanthem, 53 Patienten hatten kein Fieber > 38,4 °C und 18 Patienten hatten keine Koplikschen Flecken, keinen Husten, Schnupfen oder Konjunktivitis (teilweise Mehrfachnennungen). Die 398 klinisch bestätigten Masernfälle bildeten die Grundlage für die Erfassung der Komplikationen. Zu Komplikationen kam es bei 113 Erkrankten (28 Prozent). 21 dieser Patienten (5 Prozent) wurden stationär im Krankenhaus behandelt. Die Komplikationen sind in Tabelle 2 aufgeführt.
In 393 von 398 Fragebögen wurden Angaben zur Impfung gemacht. Insgesamt wurde in 45 Fällen (11 Prozent) eine Masernimpfung angegeben. Für 40 Fälle war das Impfdatum bekannt, sodass man Inkubationsimpfungen identifizieren konnte, 6 dieser Fälle waren in der Inkubationszeit und 3 nach Beginn der Erkrankung geimpft worden. In diesen 9 Fällen handelte es sich jeweils um die Erstimpfung. Insgesamt können somit 9 Prozent der Masernfälle als geimpft gelten (Tabelle 3).
Verkaufszahlen von Masernimpfstoffen in Coburg und Umgebung
Die Anzahl verkaufter Masernimpfdosen (Mono- oder Kombinationsvakzine) im Raum Coburg von Januar 2001 bis September 2002 in Relation zu Impfaufrufen durch das Gesundheitsamt und andere staatliche Institutionen zeigt Grafik 3. Im Zeitraum von November 2001 bis Februar 2002 stiegen die monatlichen Verkaufszahlen um das 1,5-fache im Vergleich zum Jahr 2001 vor Beginn des Ausbruchs. In den zwei Monaten nach der oben beschriebenen Intervention stiegen die Verkaufszahlen noch einmal um das Fünffache.
Masernausbruch in Coburg durch niedrige Impfraten
Bei diesem Masernausbruch kam es erfreulicherweise im Gegensatz zu dem kürzlich berichteten Ausbruch in den Niederlanden (6) zu keinen Enzephalitis- oder Todesfällen, wobei sowohl Meldedaten gemäß IfSG, als auch Arztbriefe der stationär behandelten Patienten analysiert wurden. Auffällig war jedoch, dass die Otitis media als bakterielle Sekundärinfektion häufiger als in anderen Publikationen angegeben wurde. Die Diagnose Otitis media wird möglicherweise etwas überschätzt. So lag auch die Otitis-media-Rate im Sentinel der Arbeitsgemeinschaft Masern für den Ausbruch in Coburg nur bei 9 Prozent (2).
Überraschend war zudem, dass bei 11 Prozent der validierten Fälle mindestens eine Masernimpfung angegeben wurde. Bei einem Teil dieser Fälle stehen Impfung und Erkrankung jedoch in zeitlichem Zusammenhang. Hier wurde entweder zu spät in die Inkubationszeit hinein geimpft, was eine Masernerkrankung nicht mehr verhindern konnte, oder es handelte sich um Impfmasern. Diese Fälle sind als ungeimpft zu werten, sodass der tatsächliche Anteil der Geimpften bei 9 Prozent liegt. Ähnliche Ergebnisse brachte das Sentinel der Arbeitsgemeinschaft Masern, wo deutschlandweit zwischen Oktober 1999 und Juni 2002 für insgesamt 10 Prozent aller labordiagnostisch bestätigten Masernfälle eine Masernimpfung angegeben worden war. Von diesen Impfungen stand ein Drittel in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Erkrankung (1). Die Impfrate der Coburger Masernfälle ist darüber hinaus möglicherweise überschätzt worden, wenn angenommen wird, dass die auf den Fragebogen nicht antwortenden Eltern ihre Kinder auch eher nicht haben impfen lassen. Aus Vergleichen elterlicher Angaben mit Eintragungen in die Impfpässe ist zudem bekannt, dass in Analysen der elterlichen Angaben die Impfraten nicht immer exakt geschätzt werden (5).
Eindrucksvoll zeigen diese Daten, dass der Coburger Masernausbruch durch niedrige Impfraten in dieser Region ermöglicht wurde und dass Durchimpfungsraten von 90 Prozent und darüber in den benachbarten Landkreisen ausreichten, um den Ausbruch lokal zu begrenzen. Die Impfrate für mindestens eine Masernimpfung betrug im Landkreis Coburg bei Schuleingangsuntersuchungen 1998/1999 bis 2000/2001 durchschnittlich 77 Prozent. Sie lag damit deutlich unter dem bayerischen Durchschnitt von 88 Prozent in dieser Altersgruppe (Bandbreite 58 Prozent bis 96 Prozent). Bei weiteren 7 von insgesamt 77 Landkreisen oder Städten in Bayern lagen die Impfprävalenzen jedoch ebenfalls unter 80 Prozent, sodass auch in diesen Landkreisen unter ungünstigen Umständen ähnliche Masernausbrüche auftreten könnten. Durch verstärkte und gezielte Aufklärungsarbeit soll versucht werden, die Durchimpfungsraten in diesen Landkreisen zu steigern. Da kleinere Masernausbrüche in den letzten Jahren auch in anderen Bundesländern beobachtet wurden, muss angenommen werden, dass es auch dort Landkreise mit Durchimpfungsraten unter 80 Prozent gibt. Erfreulicherweise wurden in immerhin 36 bayerischen Landkreisen Durchimpfungsraten von 90 Prozent oder höher beobachtet (3), die – wie die hier gezeigten Daten zeigen – offenbar ausreichen, um ein Übergreifen von Masernausbrüchen zu verhindern.
Auffallend ist der zeitliche Zusammenhang zwischen den Interventionen an Schulen und anderen Institutionen in Stadt und Landkreis Coburg und dem Anstieg der Verkaufszahlen der Masern-, Mumps-, Rötelnvakzine. Offenbar konnte durch eine gezielte Aufklärungskampagne noch ein bedeutsamer Teil der Bevölkerung innerhalb kurzer Zeit für eine Masernimpfung mobilisiert werden. Unter der Annahme, dass die gesamte Impfrate aller Altersgruppen der Impfrate bei den Einschulungsuntersuchungen entspricht, waren in Coburg zu Beginn des Masernausbruchs von circa 22 300 Kindern im Alter von 1 bis 15 Jahren etwa 5 100 (23 Prozent) nicht geimpft. Vor Beginn des Masernausbruchs wurden in der Region Coburg monatlich im Durchschnitt etwa 240 Impfdosen verkauft. Diese Zahl wurde zwischen November 2001 und Juni 2002 deutlich überschritten. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum mehr als 2 750 Impfdosen mehr verkauft, als ohne den Ausbruch zu erwarten gewesen wäre. Die daraus folgende deutliche Steigerung der Durchimpfungsrate ist insbesondere in Coburg überraschend, da in dieser Region von einer besonders großen Zahl von Impfgegnern ausgegangen werden musste: 90 Prozent der Eltern von im AGM-Sentinel erfassten Masernfällen hatten die Impfung abgelehnt. Im Bundesdurchschnitt waren dies nur 35 Prozent (4). Bei der Abschätzung des Einflusses der Aufklärungskampagne wurden die Verkaufszahlen der Vakzine als Surrogat der durchgeführten Impfungen eingesetzt, unter der Annahme, dass der verkaufte Impfstoff auch in der Verkaufsregion verwendet wurde. Dies erscheint plausibel. Nicht differenziert werden konnte jedoch, wie viele der verkauften Impfstoffe für Erst- und Zweitimpfungen verwendet wurden. Selbst wenn die Hälfte der Impfstoffe für Zweitimpfungen verwendet wurde, wäre durch die Impfkampagne immer noch der Anteil der masernempfänglichen Population um mehr als ein Viertel reduziert worden.
Masernausbrüche können frühzeitig entdeckt werden
Die vorliegenden Daten zeigen eindrucksvoll, dass Durchimpfungsraten von mehr als 90 Prozent vor solchen Ausbrüchen schützen. Durch die hohen Durchimpfungsraten der benachbarten Landkreise blieb der Ausbruch in diesem Fall auf Stadt und Landkreis Coburg begrenzt.
Mit Masernausbrüchen muss jedoch auch in anderen Landkreisen mit niedrigen Durchimpfungsraten gerechnet werden. Aus diesem Grund ist eine kleinräumige Gesundheitsberichterstattung nötig, um Gegenden mit niedriger Impfprävalenz identifizieren und gegebenenfalls Interventionsmaßnahmen einleiten zu können.
Bei gehäuften Masernmeldungen sollte in Regionen, in denen die Durchimpfungsraten unter 90 Prozent liegen, unverzüglich versucht werden, durch rechtzeitige Interventionen einen möglichst großen Teil der (nicht geimpften) Bevölkerung für eine Impfung zu gewinnen. Wie an diesem Beispiel sichtbar, ist es Erfolg versprechend, die Eltern unter Einbeziehung der Kindereinrichtungen direkt anzusprechen. Dadurch könnten eventuell beginnende Ausbrüche noch eingedämmt beziehungsweise verhindert werden.
Darüber hinaus können die niedergelassenen Ärzte ihre Kenntnisse über den Impfstatus ihrer Patienten nutzen und diese an die Impfung erinnern und gegebenenfalls impfen. Auch die Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes und die sozialmedizinischen Assistenten können bei den Schuleingangsuntersuchungen Impflücken erkennen und die Eltern auf die Notwendigkeit der Impfung ansprechen.
Die Routinedaten der Meldungen gemäß IfSG sind geeignet, Masernausbrüche frühzeitig zu entdecken.

Die Autoren danken den Mitarbeitern des Gesundheitsamtes Coburg (Leiter: Dr. med. Helmut Weiß) für ihre Mitarbeit. Die Daten zu den Verkaufszahlen von Masernimpfstoffen wurden freundlicherweise von IMS Health zur Verfügung gestellt.

Manuskript eingereicht: 13. 3. 2003; revidierte Fassung angenommen: 21. 7. 2003

zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 3245–3249 [Heft 49]

Literatur
1. Arbeitsgemeinschaft Masern: Sentinel-Surveillance der Arbeitsgemeinschaft Masern (AGM) – Ergebnisse bis zum Ende des 1. Halbjahres 2002. Epid Bull 2002; 32: 269–273.
2. Arbeitsgemeinschaft Masern: Sentinel-Surveillance der Arbeitsgemeinschaft Masern (AGM). Unveröffentlichte Daten 2002.
3. Kalies H, von Kries R: Gesundheit im Kindesalter. Kurzbericht über die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen 1998/1999–2000/2001. Homepage des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz. http://www.stm-gev.bayern.de/blickpunkt/gesundheit/schul_unters.pdf (2002)
4. Siedler A: Masern-Epidemie in Coburg – Warum es dazu kommen konnte. Kinderärztliche Praxis 2002; Sonderheft „Impfen 2002“: 13–15.
5. Thüringer Landesamt für Statistik: Unveröffentlichte Daten 2002.
6. van den Hof S, Conyn-van Spaendonck MAE, van Steenbergen JE: Measles epidemic in the Netherlands, 1999–2000. J Infect Dis 2002; 186: 1483–186.

Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Stephan Arenz, MPH
Bayerisches Landesamt für Gesundheit
und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim
E-Mail: stephan.arenz@lgl.bayern.de

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