ArchivDeutsches Ärzteblatt PP12/2003Psychosomatische Erkrankungen: „Schieflage“ in der Versorgung

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Psychosomatische Erkrankungen: „Schieflage“ in der Versorgung

Bühring, Petra

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An der Psychosomatischen Universitätsklinik in Mainz wird seit 20 Jahren insbesondere über (stressbedingte) Somatisierungs- und Konversionsstörungen geforscht. Foto: Universitätsklinikum Mainz
An der Psychosomatischen Universitätsklinik in Mainz wird seit 20 Jahren insbesondere über (stressbedingte) Somatisierungs- und Konversionsstörungen geforscht. Foto: Universitätsklinikum Mainz
Die Fachärzte für Psychosomatische Medizin beklagen die
häufigen Fehldiagnosen bei Patienten mit Somatisierungsstörungen.

Patienten mit somatoformen Störungen suchen im Durchschnitt 10 bis 14 verschiedene Ärzte auf, bevor die richtige Diagnose gestellt wird. Dabei vergehen rund sieben bis acht Jahre. Darauf machte Priv.-Doz. Dr. med. Ulrich T. Egle, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Mainz, beim 11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie e.V. (DGPM)* in Mainz aufmerksam. „Für die Patienten sind diese jahrelangen Fehldiagnosen und -behandlungen – ganz abgesehen von den Kosten für das Gesundheitswesen – eine große Stresserfahrung, die die früheren Stresserfahrungen wiederholt“, erklärte Egle. Denn inzwischen sei nachgewiesen, dass traumatische Erlebnisse in der Kindheit wie körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch oder auch eine misslungene frühkindliche Bindung die Stressverarbeitung ein Leben lang beeinträchtigen können (siehe auch „Kindheit hat Folgen“, DÄ, Heft 20/2003).
Diese frühen Stresserfahrungen hinterlassen „Narben“, sowohl im Verhalten als auch im Hirnstoffwechsel, die biologisch nachweisbar sind. Die Betroffenen sind dann ein Leben lang stressvulnerabler und reagieren in Belastungssituationen mit körperlichen Symptomen, wie zum Beispiel Schwindelgefühlen, Herzrasen oder Reizdarm, ohne dass es dafür organische Ursachen gibt. Egle führt sowohl die beim Fibromyalgiesyndrom empfundenen Schmerzen als auch die übermäßige Müdigkeit beim Chronic Fatigue Syndrome auf eine solche gestörte Stressverarbeitung zurück.
Nach epidemiologischen Untersuchungen erkrankt jeder siebte Bundesbürger einmal im Leben an einer Somatisierungsstörung. Darauf wies Priv.-Doz. Dr. med. Ralf Nickel, Mainz, hin. Schätzungen zufolge gingen 30 bis 50 Prozent der Arztbesuche bei Allgemeinärzten auf Beschwerden zurück, für die es keine organische Ursache gibt. Doch auch bei den Fachärzten sei der Anteil der Patienten mit ursächlichen psychischen Erkrankungen hoch. Frühe Stresserfahrungen können auch das Risiko erhöhen, an einer Konversionsstörung oder einer dissoziativen Störung zu erkranken. Die durch „pseudoneurologische“ Symptome, wie Lähmungen, Sensibilitätsstörungen oder Seh- und Hörstörungen, gekennzeichneten Konversionsstörungen treten zwar deutlich seltener auf als die Somatisierungsstörung. Doch auch sie müssen richtig diagnostiziert werden, um dem Patienten helfen zu können.
Ralf Nickel kritisiert die „Schieflage“ in der Versorgung der Patienten mit psychosomatischen Störungen: „Nur bei gut der Hälfte der Betroffenen erkennen Hausärzte das Vorliegen einer psychosomatischen Erkrankung.“ Die Ursachen dafür sind vielfältig. Bei den Ärzten trage die einseitig akut- und organmedizinisch ausgerichtete Aus- und Weiterbildung dazu bei. Bereits im Studium würden psychosoziale Faktoren der Krankheitsentstehung zu wenig berücksichtigt. Das oftmals rein biologische statt bio-psycho-soziale Krankheitsverständnis vieler Haus- und Fachärzte korrespondiere mit dem organorientierten Krankheitsverständnis der Patienten. „Lange Verweildauern in rein somatisch orientierten Kliniken und unsinnige chirurgische Eingriffe sind bei somatoform Kranken leider keine Seltenheit“, beklagt Nickel. Egle spricht provozierend von einer „Misshandlung der Patienten durch die invasiven Maßnahmen“ vieler Ärzte. Auch suchtfördernde Opiatgaben seien bei somatoformen Störungen kontraindiziert.
Verbessert werden müsste die psychosomatische Kompetenz aller Ärzte, darin waren sich die DGPM-Vertreter einig. Für den Hausarzt bedeutete das, sich in Kursen zur Psychosomatischen Grundversorgung** fortzubilden oder die Zusatzbezeichnung Psychotherapie zu erwerben, um sich in Psychodiagnostik und Gesprächsführung weiterzubilden. „Auch eine frühzeitige Zusammenarbeit mit einem Facharzt für Psychosomatische Medizin kann die Versorgung verbessern“, sagte Nickel. Der Vorsitzende der DGPM, Prof. Dr. med. Paul L. Janssen, Bochum, wies allerdings auch darauf hin, wie schwierig es für den somatisch behandelnden Arzt sein kann, die Patienten zu einer Psychotherapie zu motivieren. „Die Patienten nehmen Psychotherapie nur zu 30 Prozent an“, kritisierte er. Die Folgen seien Chronifizierungen, eventuell weitere Fehldiagnosen – oder der Ausstieg aus dem Versorgungssystem hin zu alternativen Heilmethoden.
Petra Bühring

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