ArchivDeutsches Ärzteblatt47/1996Nürnberger Kongreß: Ärztliches Handeln als ethische Herausforderung

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Nürnberger Kongreß: Ärztliches Handeln als ethische Herausforderung

Gerst, Thomas

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LNSLNS Vor fünfzig Jahren begann in Nürnberg vor einem amerikanischen Militärgericht der Prozeß gegen die Verantwortlichen für die Durchführung der Euthanasie und der Menschenversuche in den Konzentrationslagern. Aus diesem Anlaß veranstaltete die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) unter dem Titel "Medizin und Gewissen" vom 25. bis 27. Oktober 1996 in Nürnberg einen Kongreß, der sich über die Erörterung medizinischer Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus hinaus mit der aktuellen Gefährdung ärztlicher Ethik durch medizinischen Fortschritt und Rationalisierungszwänge befaßte.


"[Der Arzt] soll und darf nichts anderes tun als Leben erhalten, ob es ein Glück oder Unglück, ob es Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an. Und maßt er sich einmal an, diese Rücksicht in sein Geschäft mit aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staate. Denn ist einmal die Linie überschritten, glaubt sich der Arzt einmal berechtigt, über die Notwendigkeit eines Lebens zu entscheiden, so braucht es nur stufenweise, um den Wert und folglich die Unnötigkeit eines Menschenlebens auch auf andere Fälle anzuwenden."
Diese Worte Christoph Wilhelm von Hufelands aus dem Jahr 1806 beschreiben für den Gütersloher Psychiater Klaus Dörner eindrucksvoll die Gefahren, der sich die Medizin seit dem 19. Jahrhundert in zunehmender Weise ausgesetzt sah. Ohne die medizinischen Verbrechen in der NS-Zeit verharmlosen zu wollen, ordnete er diese in das Gesamtgefüge eines Modernisierungsprozesses ein, der – ausgehend von der Aufklärung – auf Vernunft und Rationalität gründe und sich von seinen eigenen irrationalen Widersprüchen zu befreien suche. Das "moderne", rational und utilitaristisch bestimmte Denken habe – so Dörner – die Voraussetzung für eine Medizin geschaffen, die sich seit etwa 1890 mit der Lösung der sozialen Frage befaßte und in immer stärkerem Maße die Umsetzung eugenischer und rassehygienischer Maßnahmen einforderte. Das Streben, mit den Mitteln der Medizin durch Ausmerzung zur Schaffung einer gesünderen, glücklichen Gesellschaft beitragen zu können, habe in letzter Konsequenz zur Vernichtung psychisch Kranker und geistig Behinderter sowie zu hunderttausendfacher Zwangssterilisation nach 1933 geführt.
Dörner warnte in seinem Referat "Wenn Ärzte nur das Beste wollen . . ." auch angesichts der heutigen Diskussion um Sterbehilfe, Transplantationsmedizin oder fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen vor einer zu expansiven Definitionsmacht der Medizin für immer mehr Bereiche menschlicher Existenz. Denn gerade die medizinische Forschung neige dazu, sich in ihrem ärztlichen Handeln von einer Subjekt-Objekt-Beziehung, von einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise leiten zu lassen und die beziehungsmedizinische Seite zu vernachlässigen. Hier forderte Dörner die verstärkte Einbeziehung der Patienten und ihrer Selbsthilfegruppen in einen Dialog bei der künftigen Entwicklung medizinethischer Normen.


Blick zurück ist nötig
Mit dem Blick zurück auf die Verfehlungen und Verbrechen der Medizin im Nationalsozialismus den Blick zu schärfen für die Gefahren, mit denen ein an ethischen Grundwerten orientiertes ärztliches Handeln sich auch heute konfrontiert sieht, war eines der Hauptanliegen der Veranstalter des Kongresses "Medizin und Gewissen". Als ein Zeichen der Hoffnung für die Bereitschaft der Ärzte, sich nach einer langen Phase des Verdrängens mit der Rolle der Medizin in der NS-Zeit auseinanderzusetzen und davon ausgehend den eigenen Standpunkt in bezug auf medizinethische Probleme in der heutigen Zeit kritisch zu hinterfragen, wertete Horst-Eberhard Richter die unerwartet große Resonanz auf die Tagung. Rund 1 600 Mediziner und Wissenschaftler anderer Fachrichtungen arbeiteten sich durch ein dichtgedrängtes und mit großem organisatorischen Aufwand auf die Beine gestelltes Programm von über 70 Einzelvorträgen. Nicht allein die Wahl der Stadt Nürnberg als Tagungsort bildete einen historischen Bezugspunkt. In einem der Vortragssäle, in dem nun über "Frauen und Frauenheilkunde im Nationalsozialismus" referiert wurde, fand im Oktober 1942 eine vom Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe veranstaltete Tagung statt, in deren Verlauf vor führenden Medizinern des Deutschen Reiches über die im Konzentrationslager Dachau durchgeführten tödlichen Unterkühlungsversuche an Menschen berichtet wurde. Der Umstand, daß von keinem der anwesenden 95 Mediziner im Rahmen der Tagung ein Widerspruch laut wurde gegen diese grausamen Versuche, wurde bereits von Alexander Mitscherlich während des Nürnberger Ärzteprozesses mit Entsetzen registriert und in seiner 1949 erschienenen Dokumentation "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" akribisch genau belegt. Denn schlaglichtartig wird an diesem Beispiel wie auch in einer Reihe der Kongreßbeiträge deutlich, daß man sich in der historischen Rückschau nicht nur auf die wenigen hundert Ärzte, die direkt an verbrecherischen Aktionen beteiligt waren, beschränken darf, sondern darüber hinaus den Teil der Ärzteschaft, der durch seine in der jeweiligen Ausprägung unterschiedliche Verstrickung mit dem NS-Staat diese erst ermöglicht hat, näher ins Auge fassen muß.


Eine Zeitzeugin berichtet
Eine späte Genugtuung muß es für Alice Ricciardi-von Platen, Mitglied der von der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern mit der Beobachtung des Nürnberger Ärzteprozesses beauftragten Kommission unter Mitscherlich, bedeutet haben, daß man sie als Kongreßpräsidentin der IPPNW-Tagung erkoren hatte. Als junge Assistenzärztin hatte sie gemeinsam mit dem Medizinstudenten Fred Mielke den gesamten Prozeßverlauf vor Ort verfolgt und die Dokumente für die spätere Publikation zusammengetragen. In weiten Teilen der Ärzteschaft seien damals ihre Bemühungen, über die medizinischen Irrwege in der NS-Zeit aufzuklären, auf Desinteresse oder Ablehnung gestoßen. Die öffentliche Wirkung der von Mitscherlich und Mielke vorgelegten Dokumentationen sei gleich Null gewesen, und die von ihr selbst vorgelegte Publikation über die Durchführung der Euthanasie sei in der Öffentlichkeit ebensowenig beachtet worden.
Als eine vertane Chance der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit bezeichnete der Medizinhistoriker Richard Toellner das Verhältnis der deutschen Ärzteschaft zum Nürnberger Ärzteprozeß. Von vornherein habe für die medizinischen Fakultäten das Ergebnis des Prozesses festgestanden. Ihrer Ansicht nach hatte sich nur eine verschwindend kleine Zahl von Ärzten medizinischer Verbrechen schuldig gemacht. Die Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozeß fungierten als Sündenböcke, während eine Reihe exponierter Mediziner in der NS-Zeit ungehindert ihre Karrieren im Nachkriegsdeutschland fortsetzen konnte. Um so verständlicher ist vor diesem Hintergrund etwa der Zorn der von der Zwangssterilisation Betroffenen, denen bis heute die rechtliche Rehabilitierung versagt geblieben ist und die über Jahrzehnte hinweg auf eine nur geringe finanzielle Entschädigung für das ihnen zugefügte Leid warten mußten.


Wirksamkeit ethischer Kodizes
Die im Urteilsspruch des Nürnberger Ärzteprozesses formulierten Richtlinien über zulässige medizinische Versuche, der sogenannte Nürnberger Kodex, stehen am Anfang einer ganzen Reihe von Deklarationen, die international verbindlich Zulässigkeit und Grenzen ärztlicher Behandlung und medizinischer Forschung festlegen sollen. Daß es trotz des Bestehens medizinethischer Kodizes zum Beispiel in den USA seit 1947 mehrfach zu großangelegten medizinischen Versuchsreihen mit Personen kam, ohne daß deren Einwilligung dazu vorlag oder sie über die Art des Experiments aufgeklärt wurden, ist für Jay Katz von der Yale University ein Beleg dafür, daß die Umsetzung solcher Vorschriften so lange beschränkt bleibt, wie sie sich einer über die Ärzteschaft hinausgehenden öffentlichen Diskussion und Kontrolle entzieht. In dem Maße, in dem etwa Laien zu den Beratungen medizinischer Ethikkommissionen hinzugezogen würden, verringere sich die Gefahr, daß sich hier Forschungsinteressen gegenüber dem Schutz von Versuchspersonen durchsetzen könnten.
Angesichts des rasanten medizinischen Fortschritts, der mit den Mitteln der Gentechnologie oder der Transplantationsmedizin immer mehr in Grenzbereiche menschlichen Lebens vorstößt, scheint für Mediziner mehr denn je die Notwendigkeit geboten, ihr eigenes Handeln vor dem Hintergrund neu zu schaffender medizinethischer Standards kritisch zu hinterfragen. Daß die Bioethik-Konvention des Europarates mit der Bestimmung über die Zulässigkeit von Humanexperimenten an nicht einwilligungsfähigen Personen dazu nicht das geeignete Instrument sei, wurde im Rahmen des IPPNW-Kongresses deutlich zum Ausdruck gebracht. An die Bundesärztekammer erging die Mahnung der Kongreßteilnehmer, von einer in der Diskussion befindlichen Neufassung der Sterbehilferichtlinien abzusehen und nicht dem Beispiel anderer europäischer Länder folgend bei Wachkoma-Patienten die Herbeiführung des Todes durch Nahrungsentzug für zulässig zu erklären.
Auch aus der zunehmenden Beschränkung der für das Gesundheitssystem zur Verfügung stehenden Finanzen erwächst für ein am Grundsatz egalitärer medizinischer Versorgung orientiertes ärztliches Handeln ein kaum noch lösbarer Konflikt. Ein Diskurs über die Prioritäten in der Medizin, so Klinikdirektor Walter Gallmeyer, sei unabdingbar; hier vermisse er jedoch ein politisches Konzept, das Vorgaben macht hinsichtlich dessen, was nötig und unnötig ist. Es gehe nicht an, daß konzeptionslos Sparvorgaben in elementar wichtigen Bereichen gemacht werden.
Daß eine ungesteuerte Liberalisierung des Gesundheitsmarktes nicht das geeignete Mittel sein kann, um eine an ethischen Grundsätzen orientierte medizinische Versorgung zu gewährleisten, wurde in zwei Beiträgen aus den USA deutlich zum Ausdruck gebracht. Schon das Wesen der Gesundheit verbiete es, so David Himmelstein von der Harvard Medical School, diese als eine beliebige, allein den Gesetzen des Marktes gehorchende Ware zu betrachten. Profitmaximierung als oberstes Gebot bei den immer größere Marktanteile besitzenden privaten Krankenversicherern in den USA gehe vor allem zu Lasten einer zweckmäßigen gesundheitlichen Versorgung der Versicherten. Gerade das Beispiel der privaten Krankenversicherer in den USA mache deutlich, daß freie Marktwirtschaft im Gesundheitsbereich nicht über gesteigerte Effizienz zur Kostensenkung beitrage, sondern überraschenderweise zu einer im Vergleich zu gemeinnützigen Anbietern sehr viel größeren Ausdehnung des administrativen und bürokratischen Sektors sowie zu exorbitant hohen Unternehmensgewinnen geführt habe. Leon Eisenberg, ebenfalls von der Harvard Medical School, zeigte auf, wie ärztliches Handeln innerhalb eines solchen Systems notwendigerweise in Konflikt geraten muß mit ausschließlich am Wohl des Patienten orientierten medizinethischen Grundsätzen. Wenn etwa – wie geschehen – Ärzte vertraglich dazu verpflichtet werden, geeignete Behandlungsweisen mit dem Patienten erst nach Rücksprache mit dem Versicherungsunternehmen zu erörtern, bedeute dies einen nicht mehr hinzunehmenden Einbruch in die ArztPatienten-Beziehung. Unübersehbar sei inzwischen die Tendenz, den Arzt nicht mehr zum Wohl des Patienten einzusetzen, sondern als Instrument zur Vermeidung von Behandlungskosten zu mißbrauchen.


Nürnberger Erklärung
Mit der auf der Abschlußveranstaltung verabschiedeten Nürnberger Erklärung, die in zehn Thesen ethische Grundlagen ärztlichen Handelns zusammenfaßt, will die IPPNW über die auf dem Kongreß erfolgte Bestandsaufnahme hinaus Stellung beziehen und einen Anstoß geben zu einer weiterführenden Diskussion, die möglicherweise zu einer innerärztlichen Verständigung auf breiterer Basis über einen den Erfordernissen der Zeit entsprechenden medizinethischen Kodex führt. Augenfällig war, daß insgesamt der Kongreß nicht Konfrontation, sondern Dialogbereitschaft signalisierte, fast so, als hätten sich die Teilnehmer den im Grußwort des bayerischen Ärztekammerpräsidenten Hans Hege ausgesprochenen Wunsch, "daß die Tagung einen fruchtbaren Beitrag zum Konsens innerhalb der Ärzteschaft über ihr Selbstverständnis leistet", zu Herzen genommen.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-3104–3107
[Heft 47]


Anschrift des Verfassers:
Thomas Gerst
Ottostraße 12
50859 Köln

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