ArchivDeutsches Ärzteblatt PP2/2004Legasthenie: Genetische Ursachen

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Legasthenie: Genetische Ursachen

Bühring, Petra

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LNSLNS Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie weist auf neue Forschungsergebnisse hin.

Neuere Forschungen weisen darauf hin, dass eine Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) zu einem großen Teil genetisch bedingt ist. Dies teilte die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) mit. Sprachwahrnehmung und -verarbeitung sind bereits früh gestört; äußere Faktoren, wie Elternhaus und soziale Umgebung, wurden bisher überbewertet. Legasthenie gehört zu den häufigsten Entwicklungsstörungen, vier bis fünf Prozent der Schulkinder sind davon betroffen. Die betroffenen Kinder fallen häufig durch Herumkaspern, aggressive Durchbrüche oder emotionale Probleme vor Klassenarbeiten auf.
Gestörte Funktionen der Hirnrinde
Bisher wurden sechs Regionen auf den Chromosomen 1, 2, 3, 6, 15 und 18 identifiziert, die die Lese- und Rechtschreibfähigkeit indirekt beeinflussen. „Möglicherweise liegen dort Gene, die bestimmte Funktionen der Sprachverarbeitung steuern. Sind diese gestört, kann es zu Problemen beim Erwerb der Schriftsprache kommen“, erläutert Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt, Marburg, Ehrenpräsident der DGKJP. Rund 50 Prozent der Lese- und 60 Prozent der Rechtschreibfähigkeit beruhen auf Vererbung. Bei Jungen ist der genetische Einfluss im Vergleich zu Mädchen größer. Auch die familiäre Vorbelastung spielt eine Rolle: In Familien, in denen bereits LRS vorkommt, ist die Rate der Betroffenen höher.
Gestörte Funktionen des visuellen und auditiven Cortex (Hirnrinde) spielen inzwischen in der Ursachendiskussion eine große Rolle. Mit der Positronenemissionstomographie und der Magnetresonanztomographie kann inzwischen bildlich dargestellt werden, wie bestimmte Hirnregionen bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Wörtern und Buchstaben reagieren. So werden bei Kindern mit LRS Areale der linken Hirnrinde erst mit deutlicher Verzögerung aktiviert. Gebiete in der Schläfengegend, in denen hauptsächlich das Zusammenführen der Buchstaben zur Lautformation stattfindet, sind deutlich geringer aktiviert. In anderen Regionen kommt es hingegen zu Überaktivierungen, die darauf hinweisen, dass die Kinder die Leseschwäche auf ineffektive Weise zu kompensieren versuchen. Die DGKJP weist darauf hin, dass häufig vermutete Zusammenhänge mit Linkshändigkeit, Geburtsschädigungen oder motorischen Schwächen nicht nachgewiesen werden konnten.
Training im Kindergarten erfolgreich
Die neuen Erkenntnisse machen es möglich, Risikokinder schon im Vorschulalter zu erkennen. Standardisierte Verfahren zur Früherkennung im Kindergarten wurden bereits getestet. „Damit ließen sich Lese- und Rechtschreibschwächen, die dann etwa ab der zweiten Klasse auftraten, recht gut vorhersagen“, betonte Remschmidt. Darauf aufbauend wurde ein intensives Training entwickelt, mit dem bereits im Kindergarten die Lese- und Rechtschreibleistung in den ersten drei Grundschuljahren positiv beeinflusst werden kann. „Es ist sehr wichtig, eine Lese-Rechtschreib-Störung frühzeitig zu erkennen“, betonte Remschmidt. „Die Schwierigkeiten verringern sich entgegen der häufigen Ansicht mit Einsetzen der Pubertät nicht.“ Längsschnittstudien haben ergeben, dass eine LRS sehr entwicklungsstabil ist. Die Betroffenen erreichen eine deutlich weniger qualifizierte Berufsausbildung und sind häufiger arbeitslos. 6,4 Prozent der erwachsenen Deutschen erreichen nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht einmal das Lese- und Rechtschreibniveau von Viertklässlern. PB

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