ArchivDeutsches Ärzteblatt16/2004Palliativmedizin: Eine Alternative zur aktiven Euthanasie

THEMEN DER ZEIT

Palliativmedizin: Eine Alternative zur aktiven Euthanasie

Müller-Busch, Christof; Klaschik, Eberhard; Woskanjan, Susanne

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Angesichts der Defizite in der Versorgung alter und schwerstkranker Menschen sollten die Möglichkeiten der Palliativmedizin stärker gefördert werden. Foto: JOKER
Angesichts der Defizite in der Versorgung alter und schwerstkranker Menschen sollten die Möglichkeiten der Palliativmedizin stärker gefördert werden. Foto: JOKER
Eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für
Palliativmedizin zu verschiedenen Formen der Sterbehilfe

Durch die Entwicklung in den Niederlanden und in Belgien wird inzwischen auch in Deutschland die Frage einer Legalisierung der ärztlichen Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zum Suizid in Situationen „unerträglichen Leids“ lebhaft diskutiert. Innerhalb der Ärzteschaft bestehen noch immer große Unsicherheiten und Wissensdefizite um die Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht und die Bedeutung des Patientenwillens in konkreten Entscheidungssituationen. Viele Ärzte haben Bedenken, ob nicht doch medizinethische und rechtliche Prinzipien verletzt werden, wenn nicht alle Möglichkeiten der modernen Medizin zum Lebenserhalt auch bei schwerstkranken und sogar sterbenden Patienten angewendet werden. Die Möglichkeiten der Palliativmedizin werden besonders in Deutschland als angemessene Antwort auf die Forderungen nach einer ähnlichen Regelung wie in den Niederlanden angesehen.
Angeregt durch Umfragen in anderen Ländern und vor dem Hintergrund der Euthanasiegesetzgebung in den Niederlanden und Belgien hat der Arbeitskreis „Ethik“ der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) im Jahr 2002 die Mitglieder dieser Fachgesellschaft schriftlich befragt. Mit einem Fragebogen, bestehend aus 14 Multiple-Choice-Fragen, wurde in hypothetischen Szenarien nach der Einstellung zu verschiedenen Formen der Sterbehilfe gefragt. Bei den Antworten konnte zwischen „Zustimmung“ und „Ablehnung“ sowie „teilweiser Zustimmung“ und „eher Ablehnung“ gewählt werden. Durch Zusatzfragen wurde die Selbsteinschätzung von Kenntnissen medizinethischer Grundsätze, Richtlinien und Prinzipien ermittelt.
Es wurden 756 Fragebögen ausgewertet. Die Rücklaufquote bei den Mitgliedern der DGP betrug 61 Prozent, sodass die Befragung für die Ärzte dieser Fachgesellschaft repräsentativ ist. Als Vergleichsgruppe wurden 505 von Ärzten beantwortete Fragebögen, die nicht der DGP angehören, herangezogen. Gut vertraut waren die in der Sterbehilfedebatte geläufigen Begriffe bei 76 Prozent der Ärzte der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, während von den Ärzten der Vergleichsgruppe nur 49 Prozent angaben, die Definitionen gut zu kennen. Nur 1,6 Prozent der Ärzte der DGP befürworteten eine gesetzliche Regelung zur Euthanasie, acht Prozent der Ärzte teilweise, wohingegen bei den anderen 8,5 beziehungsweise 17,8 Prozent teilweise eine Legalisierung begrüßen würden (Grafik 1). Bei einer eigenen Erkrankung würden jedoch 11,6 Prozent der DGP-Ärzte und 30,4 Prozent der Ärzte der Vergleichsgruppe eine gesetzliche Regelung zur aktiven Sterbehilfe zumindest teilweise befürworten. Auch für eine gesetzlich gesicherte Regelung des medizinisch assistierten Suizids bei fortgeschrittener unheilbarer Erkrankung ergab sich mit 25,2 Prozent der Ärzte der DGP eine geringere Unterstützung als bei der Vergleichsgruppe mit 40,1 Prozent, wohingegen bei eigener Erkrankung 29,4 beziehungsweise 43,5 Prozent die Möglichkeit einer „legalisierten“ Selbsttötung befürworteten. In beiden Gruppen sprachen sich mehr als 90 Prozent für die Möglichkeit einer Sedierung bis zum Tode bei „unerträglichem Leid“ aus.
Überraschend hoch war bei beiden Gruppen mit 63,3 Prozent beziehungsweise 66,8 Prozent der Wunsch nach einer gesetzlichen Regelung der Möglichkeit einer Therapiebeendigung in aussichtslosen Krankheitssituationen ohne ausdrückliche Willensbekundungen des Betroffenen beziehungsweise der Angehörigen. „Eigene ethische Überzeugungen“ und „professionelle Erfahrung“ waren in beiden Gruppen mit mehr als 80 Prozent der Hauptgrund für die ablehnende Haltung zu einer Legalisierung der Sterbehilfe. „Fachliches Wissen“, „Kenntnis von Alternativen“ und „medizinische Grundsätze“ fanden sich in der Selbsteinschätzung der Ärzte der Vergleichsgruppe weniger häufig als bei den Ärzten der DGP. „Religiöse Überzeugungen“ wurden nur von 27,9 beziehungsweise 20,4 Prozent als wichtiger Grund genannt, wohingegen die „deutsche Vergangenheit“ nur bei 4,7 Prozent aller Ärzte für die eigene Einstellung eine Rolle spielte (Grafik 2).
Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung und die Handreichungen zum Umgang mit Patientenverfügungen waren bei 64,5 beziehungsweise 61,4 Prozent der DGP-Ärzte gut bekannt, wohingegen sich nur 26,7 beziehungsweise 42,2 Prozent der Ärzte der Vergleichsgruppe zu einer Vertrautheit mit diesen Dokumenten bekannten. Auch die Kenntnis der Rechtslage in Deutschland und in anderen europäischen Ländern zur Sterbehilfe lag mit circa 50 Prozent bei den DGP-Ärzten doppelt so hoch wie in der Vergleichsgruppe. Eine „Pro-Euthanasie“-Einstellung scheint bei deutschen Ärzten im Vergleich zu verschiedenen Untersuchungen in anderen Ländern relativ selten zu sein. Die Ergebnisse der Befragung verdeutlichen zudem den hohen Stellenwert palliativmedizinischer Kenntnisse und Prinzipien sowie professioneller Erfahrung.
Unsicherheit im Umgang mit Grenzsituationen
Allerdings zeigte sich in den Antworten aller Ärzte für das in dem Fragebogen dargestellte Szenario einer möglichen Therapiebeendigung bei infauster Prognose ohne Zustimmung des Betroffenen beziehungsweise der Angehörigen eine erstaunlich große Unsicherheit im Umgang mit Grenzsituationen. Die Frage der rechtlichen Zulässigkeit von Therapiebegrenzung beziehungsweise -beendigung bei infauster Prognose beschäftigt die Betroffenen, Pflegenden und die Ärzteschaft, aber auch die praktische Rechtspflege in zunehmendem Maße – in mehr als 60 Prozent der Antworten in dieser Befragung wurde eine rechtliche Regelung gefordert. Mehr als 50 Prozent der Ärzte gaben aber auch an, Therapieverzichtsmaßnahmen ohne ausdrückliche Zustimmung der Betroffenen vorgenommen zu haben. In den Antworten dieser Untersuchung manifestiert sich die Erkenntnis, dass das Leben eines Menschen nicht unter allen Umständen erhalten oder verlängert werden muss. Deutlich wird aber auch eine in Deutschland stärker als in anderen Ländern ausgeprägte „Privatautorität“ einer traditionellen, paternalistischen Haltung, die Urteilsbildung und Verhalten in solchen Grenzsituationen mehr dem individuellen Gewissen als der Auseinandersetzung mit dem Patientenwillen überantwortet. Ob die im März 2003 getroffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Genehmigungsverfahren eines Behandlungsabbruchs bei nichteinwilligungsfähigen Patienten die rechtliche Unsicherheit für die Praxis beseitigen konnte und in Grenzsituationen eine angemessene und ethisch verantwortbare Entscheidungsfindung erleichtert, ist nicht nur in medizinischen Kreisen zumindest umstritten.
In der Untersuchung der DGP wird die Bedeutung der Palliativmedizin als mögliche Alternative in der Debatte zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe eindrucksvoll dokumentiert. Angesichts der Defizite in der Versorgung alter, schwerstkranker und sterbender Menschen sollten allerdings nicht nur die Möglichkeiten der Palliativmedizin bei Studierenden, Ärzten und Pflegenden stärker gefördert werden, sondern auch die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen hinterfragt werden, die das Verlangen nach Euthanasie als moralisch gerechtfertigt erscheinen lassen. Nur wenn es gelingt, im gesellschaftlichen Dialog die Frage des „würdigen Sterbens“ zu enttabuisieren und mit allen Betroffenen Verständigung über Bedingungen und Werte in der Begleitung der letzten Lebensphase zu finden, kann auch das Vertrauen in die Ärzteschaft über ihre Rolle in dieser Frage gefestigt werden.

zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2004; 101: A 1077–1078 [Heft 16]

Das Literaturverzeichnis ist im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit1604 abrufbar. Die Langfassung des Beitrags ist unter www.aerzteblatt.de/plus1604 abrufbar.



Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. H. Christof Müller-Busch
Abteilung für Anästhesiologie, Palliativmedizin und Schmerztherapie am Gemeinschaftskrankenhaus
Havelhöhe
Kladower Damm 221, 14089 Berlin
E-Mail: muebu@havelhoehe.de
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