ArchivDeutsches Ärzteblatt48/1996Öffentlicher Gesundheitsdienst: Gesundheitsämter vor neuen Aufgaben

POLITIK: Aktuell

Öffentlicher Gesundheitsdienst: Gesundheitsämter vor neuen Aufgaben

Weth, Claus

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LNSLNS Das Gesundheitsamt Münster hat zusammen mit der Universität Bielefeld bei den Gesundheitsämtern in Nordrhein-Westfalen eine Umfrage zur Neuausrichtung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes gestartet. Zu den Fragen, welchen Stellenwert die Gesundheitsämter ihren klassischen Aufgaben beimessen und wie sie neue Aufgaben in der Gesundheitsvorsorge, dem medizinischen Umweltschutz oder der kommunalen Gesundheitsberichterstattung bewerten, liegen erste Ergebnisse vor.


Der Wandel gesundheitspolitischer und sozialer Bedingungen zwingt dazu, die zukünftige Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) im gesundheitlichen Versorgungssystem neu zu überdenken. Hierzu befragten das Gesundheitsamt Münster in Kooperation mit dem Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld 53 Gesundheitsämter in Nordrhein-Westfalen. Bisher liegen 30 Rückmeldungen vor. Die Beteiligung der städtischen Gesundheitsämter an der empirischen Untersuchung liegt zur Zeit bei 77 Prozent, die der Kreisgesundheitsämter bei 40 Prozent. Somit lassen sich in etwa aus allen Regionen des Landes repräsentative Aussagen treffen. Die Gesundheitsämter messen ihren klassischen Aufgabenfeldern wieder eine steigende Bedeutung zu. Die AIDS-Problematik, das erneut wachsende Tuberkuloserisiko und die noch nicht abzuschätzenden BSE-Risiken fordern staatliche Maßnahmen, die nicht ohne den ÖGD geleistet werden könnten. Das Gesundheitsamt müsse zusammen mit der kurativen Medizin Maßnahmen zur Aufklärung, Prävention und Gefahrenabwehr ergreifen können. Im Gutachtenwesen sollten die Aufträge reduziert, gesetzliche/rechtliche Regelungen aktualisiert und Qualitätskriterien und -normen vereinheitlicht werden.


Aufklärungsbedarf in der Bevölkerung
Eine neue Schwerpunktaufgabe sieht der ÖGD im medizinischen Umweltschutz. Viele Gesundheitsämter wollen mit der Etablierung einer Gesundheitsverträglichkeitsprüfung stärker an der Erarbeitung von Sanierungskonzepten, Schutzmaßnahmen und anderen Problemlösungsstrategien beteiligt werden. Neben Überwachungs- und Beratungsfunktionen für Politik und Verwaltung sollten den Gesundheitsämtern stärkere Informations-, Aufklärungs- und Beratungsfunktionen zukommen. Die Nachfrage nach solchen Serviceleistungen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Die große Informationsdichte über mögliche Gefahren, zum Beispiel Tschernobyl, Glykol-Skandal, Altlasten, Asbest, Trinkwasserbelastung, hat zu Verhaltensunsicherheiten und Ängsten geführt.
Die Neuausrichtung in der Gesundheitsförderung/Prävention vollzieht sich in den Kommunen und Kreisen noch recht zögerlich. Dennoch gibt es neue Formen der Kooperation: mit Krankenkassen und Zahnärzten in der Jugendzahnpflege, mit den niedergelassenen Ärzten bei Präventionsprogrammen zu Hautkrebs und bei "Herzwochen". Mit einer gezielten Verbesserung von Präventionsprogrammen wollen die Gesundheitsämter in Zukunft mit den im Gesundheitswesen Beteiligten vor Ort positive Impulse für ein besseres Gesundheitswissen, Gesundheitsbewußtsein und Gesundheitsverhalten geben. Dabei beabsichtigen sie, sich wieder stärker sozialmedizinisch auszurichten, zum Beispiel auf benachteiligte Bevölkerungs- und Randgruppen. Die gestiegene Zahl von jugendlichen Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Obdachlosen hat die Sucht- und Drogenprobleme mit einem hohen Anteil bereits junger Heroinkonsumenten verschärft und zu einer zunehmenden Gewaltbereitschaft und Kriminalität geführt.
Vor dem Hintergrund drastischer Spar- und Effizienzanforderungen stehen die regionalen und kommunalen Körperschaften, also auch die Gesundheitsämter, mehr denn je auf dem Prüfstand. Sie benötigen zeitgemäße, dienstleistungsorientierte und bürgernahe Strukturen. Eine solche Neuorientierung betrifft zwangsläufig auch das Verhältnis zwischen Verwaltung und Politik. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, daß der Anteil gesundheitsrelevanter Fragestellungen in kommunalpolitischen Fachausschüssen von den Gesundheitsämtern auf nur 10 bis maximal 30 Prozent eingeschätzt wird. Sie sollten die politischen Gremien vor Ort stärker für ihre Aufgaben, die immer mehr auch sozialpolitische Bedeutung erlangen, nutzen.
Starke Eigenkompetenz reklamieren fast alle Gesundheitsämter dann, wenn es darum geht, die Geschäftsstellenfunktionen für die lokale Koordinierung der Gesundheitsvorsorge und Gesundheitssicherung zu übernehmen. In den kommunalen Gesundheitskonferenzen, die zur Zeit als "Runde Tische" innerhalb eines Modellprojektes des Landesgesundheitsministeriums in 27 Kommunen und Kreisen in Nordrhein-Westfalen erprobt werden, sehen sie aber oft nur Gremien mit hohen Fachkompetenzen, jedoch ohne Entscheidungsbefugnisse.
Nach dem geplanten neuen Landesgesundheitsgesetz sollen die Gesundheitsämter neue Funktionen in den Bereichen Koordinierung, Planung und Steuerung übernehmen. Dazu müssen sie auch Informationsgrundlagen für lokale gesundheitspolitische Entscheidungen erarbeiten. Die Gesundheitsämter haben am Auf- und Ausbau einer kommunalen Gesundheitsberichterstattung ein großes Interesse. Dabei wünschen sie sich eine Partnerschaft mit den vor Ort tätigen medizinischen Einrichtungen und Leistungsträgern.


Inhaltliche Weiterentwicklung
Eine Neuorientierung wird aufgrund leerer Kassen zur Zeit voraussichtlich nur durch eine inhaltliche Weiterentwicklung gesundheitspolitischer Zielvorstellungen in den Kreisen und Kommunen und durch Anpassung der Organisationsstrukturen im Rahmen der Strukturreform der öffentlichen Verwaltung erfolgen können. Eine Neuausrichtung und Umorganisation könnte durch Umwidmung von Ressourcen innerhalb der Gesamtverwaltung zugunsten des Gesundheitsamtes erfolgen. Hierzu erwarten die meisten Gesundheitsämter zur Stützung und Stärkung ihrer Institution von seiten des Landes Rechtsverbindlichkeit durch ein Landesgesundheitsgesetz. In diesem sollten nicht nur Empfehlungen, Eckpunkte und Zielvereinbarungen definiert werden. Je nach Interessen- und Finanzlage der Kommunen könnte dies zu unterschiedlichen Aufgabenausrichtungen und Qualitäten in den einzelnen Gesundheitsämtern des Landes führen.


Anschrift des Verfassers:
Claus Weth MPH
Gesundheitsamt der Stadt Münster
Stühmerweg 8
48127 Münster

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