

Ich stimme dem von Herrn Reimann zitierten Jörg Blech darin zu, dass apparative Befunde, die außerhalb des Normbereiches liegen, nicht automatisch zur Diagnose und Therapie einer Krankheit führen sollten. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Patient keine oder nur unspezifische Beschwerden hat. Einem Zwei-Meter-Mann hänge ich nicht gleich die Diagnose „Riesenwuchs“ an, nur weil seine Körpergröße mehr als zwei Standardabweichungen über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt. Die diagnostische und therapeutische Zurückhaltung von Herrn Reimann bezüglich orthostatischer Beschwerden bei jüngeren Menschen teile ich allerdings nicht. Ich empfehle vielmehr den folgenden Umgang mit POTS-positiven Kipptischbefunden: Bei Patienten ohne eine Vorgeschichte mit Synkopen oder orthostatischer Intoleranz (zunehmende Benommenheit bei längerem Stehen) wird das Kipptischergebnis als Zufallsbefund gewertet. Sie erhalten zwar die Kipptischdiagnose „POTS ohne orthostatische Intoleranz“, es wird ihnen aber erläutert, dass diese Diagnose für sie keinen Krankheitswert hat. Eine Therapie wird nicht empfohlen. Patienten ohne orthostatische Intoleranz, die zur Synkopenabklärung geschickt wurden, erhalten ebenfalls die Diagnose „POTS ohne orthostatische Intoleranz“. In diesem Fall leistet die Diagnose einen wertvollen Dienst für die ätiologische Einordnung der Synkopen. Das POTS ist ja, wie ich bereits in der Übersicht dargestellt habe, ein wichtiger Risikofaktor für das Auftreten von neurokardiogenen Synkopen. Die Einleitung einer entsprechenden Therapie kann unter Gesamtwürdigung des Falles sinnvoll sein. Bei Patienten, die zur Abklärung von orthostatischer Intoleranz kommen, erklärt der Kipptischbefund die Beschwerden. Eine auf die Ernährung, das Trinkverhalten und die Atemkontrolle abzielende Beratung und gegebenenfalls ein Atemtraining unter Kipptischkontrolle erfolgen als Maßnahmen der ersten Wahl vor der Erwägung einer medikamentösen Therapie. Letztere darf dem Non-Responder für die nichtmedikamentösen Maßnahmen natürlich nicht vorenthalten werden. Dabei erfolgt der „Griff in den Medikamentenschrank“ keineswegs „lässig“. Immerhin weisen viele Betroffene durch die orthostatische Intoleranz eine erhebliche Minderung der Lebensqualität auf, oft kann ein Beruf nicht mehr ausgeübt werden, und bei Patienten mit Synkopen besteht Verletzungsgefahr. Mit der unspezifischen Empfehlung von gesunder Ernährung, Sport, Schlafhygiene und Nikotinkarenz wird man den meisten Betroffenen jedenfalls nicht gerecht.
Im Übrigen hatte Jörg Blech mit seiner Kritik an den „erfundenen Krankheiten“ vor allem solche Pseudodiagnosen im Sinne, die ohne erkennbaren Nutzen für den Patienten den Diagnostik- und Therapieanbietern oder den Pharmafirmen viel Geld einbringen. Die Diagnose „POTS“ kann er damit wohl nicht gemeint haben. Die Kipptischuntersuchung, die einschließlich Anamneseerhebung und Auswertung etwa eine Stunde ärztlicher Arbeitszeit in Anspruch nimmt, kann nicht einmal kostendeckend abgerechnet werden. Auch die Therapiekosten, sofern sie überhaupt anfallen, sind zu vernachlässigen.
Viele Leser haben mich nach der Bedeutung des Adjektivs „postural“ gefragt, das offenbar außerhalb der Neurologie kaum verwendet wird. Es ist, wie auch im Englischen, im Sinne von „die Körperhaltung betreffend“ zu verstehen.
Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Rolf R. Diehl
Klinik für Neurologie mit Klinischer Neurophysiologie
Alfried Krupp Krankenhaus
Alfried-Krupp-Straße 21
45117 Essen
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