

„Weggetreten sein“, „nicht man selbst sein“, „neben sich stehen“ oder „sich losgelöst fühlen“ – solche gängigen Redewendungen beziehen sich auf Zustände, die jeder manchmal erlebt. Zum Beispiel, wenn wir uns stark konzentrieren oder routinemäßig handeln, etwa beim Autofahren. Dann sind wir nicht bei der Sache oder vergessen alles andere um uns herum. Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen, die wir sonst gleichzeitig und stimmig erleben, sind sekundenlang voneinander getrennt. Dieser Vorgang heißt „dissoziativ“. Das Spektrum an dissoziativen Zuständen ist breit und reicht von harmlosen Alltagserscheinungen bis hin zu pathologischen Formen, die als „dissoziative Störungen“ umschrieben werden. Sie sind gekennzeichnet durch einen Verlust der psychischen Integration des Erlebens und Handelns. Die Betroffenen empfinden nicht mehr die Ganzheitlichkeit der eigenen Person. Dissoziative Symptome treten nur selten als Einzelstörungen auf; sie zählen zur Symptomatik anderer psychischer Störungen, wie Phobien, Depression, Schizophrenie oder Borderline-Persönlichkeitsstörung. Dissoziative Störungen treten meistens erstmals vor dem 30. Lebensjahr auf, bei Frauen dreimal häufiger als bei Männern. Schätzungsweise 1,4 bis 4,6 Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen.
Für dissoziative Phänome und Symptome wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein der Begriff „Hysterie“ gebraucht. Heute ist er veraltet und gilt als stigmatisierend. Im DSM-IV gibt es stattdessen vier Störungskategorien: Somatisierungsstörung, Konversionsstörung, histrionische Persönlichkeitsstörung und die Gruppe der dissoziativen Störungen. In der ICD-10-SGB-V werden hingegen die dissoziativen und die Konversionsstörungen in einer Gruppe zusammengefasst.
„Dissoziative Störungen“ werden als Oberbegriff für sehr unterschiedliche Krankheitsbilder verwendet, die isoliert oder kombiniert vorkommen. Dazu zählt zum Beispiel die „dissoziative Amnesie“. Es handelt sich dabei um Erinnerungslücken an bestimmte Lebensereignisse oder Lebensphasen. Ein weiteres Phänomen ist die „dissoziative
Fugue“. In diesem Zustand entfernen sich die Betroffenen plötzlich und unerwartet aus der gewohnten Umgebung, können sich aber später nicht mehr daran erinnern. Im Zustand des „dissoziativen Stupor“ bewegen sich die Betroffenen kaum oder gar nicht mehr. Sie sprechen fast nicht, sind völlig inaktiv, reagieren nicht mehr, essen und trinken nicht. Von „Depersonalisation“ ist die Rede, wenn das eigene Selbst als verändert, entfremdet und unwirklich wahrgenommen wird. Das eigene Tun erscheint automatenhaft. Bei der „Derealisation“ wird die Umwelt als unwirklich und fremd wahrgenommen. Auch „dissoziative Krampfanfälle“ zählen zu den vielfältigen Erscheinungsformen. Sie können epileptischen Anfällen, Ohnmachten oder Wutanfällen ähneln und mit Missempfindungen einhergehen.
Umstritten: dissoziative Identitätsstörung
Das wohl umstrittenste Krankheitsbild ist die „dissoziative Identitätsstörung“, die besser bekannt ist unter dem Begriff „multiple Persönlichkeitsstörung“. Damit wird ein Zustand beschrieben, bei dem mindestens zwei unterscheidbare Teilidentitäten in einem Individuum vorhanden sind, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten des Betroffenen übernehmen. Von diesen verschiedenen Persönlichkeiten ist jeweils nur eine nachweisbar. Sie haben keinen Zugang zu der Existenz oder den Erinnerungen der anderen. Darüber hinaus gibt es „dissoziative Trancezustände“, die mit dem Verlust des persönlichen Identitätsgefühls und der Umgebungswahrnehmung einhergehen, und „dissoziative Besessenheitszustände“, bei denen der Betroffene überzeugt ist, von einer fremden Macht gesteuert und beherrscht zu werden. Eine seltene dissoziative Störung ist das „Ganser-Syndrom“, das durch das Vorbeireden und Vorbeiantworten des Betroffenen im Gespräch charakterisiert ist.
Zur Funktion dissoziativer Störungen gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Psychoanalytische Konzepte gehen von einer aktiven Verdrängung und Abwehr inakzeptabler Erfahrungen aus. Gefühle und Erfahrungen, die der Betroffene nicht in sein Selbstbild integrieren kann, werden abgespalten. Die Psyche versucht, sich mit dieser Strategie selbst zu schützen. Verhaltenstherapeutische Konzepte nehmen an, dass verschiedene Faktoren bestimmte Menschen für diese Störungen anfällig machen. „Zu diesen Faktoren zählen eine genetische Disposition, eine erhöhte Suggestibilität und frühe traumatisierende Erfahrungen wie Deprivation, Gewalt und sexueller Miss-brauch“, betonen Prof. Dr. Harald Freyberger vom Universitätsklinikum Stralsund und Rolf-Dieter Stieglitz vom Kantonsspital Basel. Dissoziationen ermöglichen es dem Betroffenen, extreme Belastungssituationen erträglich zu machen und zu verarbeiten. Ist der Betroffene wiederholtem Stress ausgesetzt, so etabliert sich im Lauf der Zeit ein Mechanismus, der automatisch abläuft und nicht mehr auf konkrete psychosoziale Belastungen als Auslöser angewiesen ist.
Dissoziative Störungen werden häufig falsch diagnostiziert oder nicht erkannt. Das liegt einerseits an Symptomen, die denen neurologischer Erkrankungen und der Borderline-Störung stark ähneln, andererseits an der hohen Komorbidität mit anderen psychischen Störungen. Voraussetzung für jede psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung ist daher eine gründliche Diagnose. In den letzten Jahren sind dafür eine Reihe valider Selbstbeurteilungsverfahren und Interviewleitfäden entwickelt worden. Zu Beginn der Therapie muss der Patient über das Krankheitsbild aufgeklärt werden. Er sollte darüber informiert werden, dass es sich bei Dissoziationen um normale Wirkungen einer innerpsychischen Belastungsverarbeitung handelt. Außerdem muss er wissen, dass das Wiedererleben traumatischer Erfahrungen zur Behandlung zählt. Manchmal ist ein Patient auch erst therapiefähig, wenn die Symptome verringert sind. Zur Symptomreduktion eignen sich unter anderem Krankengymnastik, logopädische Therapie, kognitive Verfahren und Pharmakotherapie.
Zuerst emotional stabilisieren
„Zentral für die erste Therapiephase ist der Aufbau von Sicherheitserleben“, meint Dr. Monika Vogelsang von der Psychosomatischen Fachklinik Münchwies. Erst wenn der Patient emotional stabilisiert ist und sich physisch und psychisch sicher fühlt, können die eigentlichen Ursachen angegangen werden. Traumata sind häufig die Ursache, dennoch lässt sich von dissoziativen Symptomen nicht automatisch auf eine Traumatisierung schließen. Nach Vogelsang ist im weiteren Verlauf der Therapie darauf zu achten, dass Dissoziationen während der Therapiesitzungen frühzeitig erkannt und gestoppt werden und der Patient alternative Verhaltensweisen zum Rückzug in dissoziative Zustände einübt. In der zweiten Therapiephase werden dann mögliche Traumata explizit bearbeitet. „Dazu können verschiedene Verfahren eingesetzt werden, wie Konfrontation, kognitive Restrukturierung, therapeutische Gespräche, Hypnose oder psychodynamische Fokaltherapie“, sagt Priv.-Doz. Dr. med. Annegret Eckhardt-Henn vom Universitätsklinikum Mainz. Auch Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) wurde mit wechselnden Erfolgen versucht. Ziel der Traumabearbeitung ist die Reintegration der abgespaltenen Erfahrungen. Zunächst kann mithilfe kreativer Verfahren der Patient dazu gebracht werden, Unsägliches zum Ausdruck zu bringen. Es wird danach angestrebt, dass er seine Erinnerungen ausspricht und Zugang zu verdrängten Erfahrungen gewinnt. Indem sie verbalisiert werden, gewinnt der Patient Kontrolle und Distanz. Das traumatische Geschehen wird weniger bedrohlich, und der Patient kann sein Abwehr- und Vermeidungsverhalten allmählich aufgeben und alternative Bewältigungsstrategien erlernen. „Oft gibt es Schwierigkeiten, die tatsächlich stattgefundene Traumatisierung festzustellen, weil die Erinnerungen der Patienten verzerrt sind“, weiß Priv.-Doz.
Dr. Ursula Gast von der Medizinischen Hochschule Hannover. Bei diesem Problem habe sich die therapeutische Haltung bewährt: „Skeptisch zu glauben und empathisch zu zweifeln“.
Die aktuellen psychotherapeutischen Behandlungskonzepte ähneln in vieler Hinsicht einer psychologischen Psychotherapie bei posttraumatischer Belastungsstörung sowie der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Panikstörungen und Phobien. Vergleichsstudien zeigen, dass Psychotherapien wirksamer als Pharmakotherapien sind. „Besonders bewährt haben sich Expositionsansätze und kognitiv-narrative Umstrukturierung“, betont Prof. Dr. Peter Fiedler von der Universität Heidelberg. Er rät dazu, dissoziative Störungen in jedem Fall multimodal zu behandeln. Dr. phil. Marion Sonnenmoser
Literatur
1. Eckhardt-Henn A: Dissoziative Störungen des Bewusstseins. Psychotherapeut 2004; 1: 55–66.
2. Vogelsang M: Verhaltenstherapie bei dissoziativen Störungen. Psychotherapeut 2004; 2: 139–147.
3. Eckhardt-Henn A, Hoffmann SO (Hrsg.): Dissoziative Bewusstseinsstörungen. Theorie, Symptomatik, Therapie. Stuttgart: Schattauer 2004.
4. Freyberger H, Stieglitz RD: Dissoziative Störungen. In: Berger M: Psychische Erkrankungen. München: Urban & Fischer 2004; 757–768.
5. Fiedler P: Dissoziative Störungen. Göttingen: Hogrefe 2002.
6. Fiedler P: Dissoziative Störungen und Konversion. Weinheim: Beltz 2001.