POLITIK: Leitartikel
Sparmaßnahmen/GKV-Neuordnung: Gruselkatalog der Kassen


Der Milliarden DM schwere Streichkatalog der Spitzenverbände der Krankenkassen übertrifft die geplante
Streichaktion der Koalition bei weitem. Die Krankenkassen handelten sechs Tage vor Beginn des Hearings in
Bonn zum zweiten GKV-Neuordnungsgesetz (2. NOG) nach der Devise: Druck erzeugt Gegendruck;
auf Aktion folgt harsche Reaktion. Nachdem Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer mit Rückendeckung
aller führenden Gesundheitspolitiker der Regierungskoalition den Krankenkassen und Leistungserbringern
wiederholt eingeschärft hatte, die Selbstverwaltung sei jetzt am Zuge und müsse das
Ausgabenkrisenmanagement selbst bewältigen, das drohende Kassendefizit in Höhe von 10 Milliarden DM in
diesem Jahr durch unkonventionelle und auch unpopuläre Maßnahmen aus der Welt schaffen, listeten die
Kassen in einem hilflosen Konglomerat alter Vorschläge alles auf, was bei der "Gegenseite" ins Kontor schlägt
und was kaum politisch mehrheitsfähig ist.
Der Kassen-Katalog stellt alles in den Schatten, was die Koalition jetzt in der Stafette von GKVNeuordnungsgesetzen ohne Einschaltung der Länder im Eilzugstempo schaffen will und was die Opposition
(SPD; Bündnis 90/ Die Grünen) als Hinwendung zu anderen Ufern in der Strukturreformdebatte ständig
offeriert.
Selbst Bundesgesundheitsminister Seehofer, der eine Unterstützung seiner Sparpolitik erwartete, kritisierte den
Kassenaktionismus als einen "Schnellschuß", der keine seriöse Diskussionsgrundlage in der jetzigen heißen
Phase liefere. Viele Forderungen seien ungenügend durchdacht und dienten offenbar nur dazu, die
Öffentlichkeit, Patienten wie Leistungserbringer, weiter zu verunsichern. Dagegen sei es pure
Selbstverständlichkeit, wenn sich die Krankenkassen jetzt dazu einschwören, die Sparpolitik konsequent
fortzusetzen.
Bundesärztekammer: "Kassenstaat" droht
Wie die KBV hat auch der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. med. Karsten Vilmar, den Krankenkassen
vorgeworfen, sie versuchten, "zu Lasten von Patienten und Ärzten einen Kassenstaat aufzubauen". Es zeuge
von wenig Sachverstand, einen drohenden Ärzteüberschuß allein für die Kostenexpansion im
Gesundheitswesen verantwortlich zu machen. Die geforderte Verschärfung der Zulassungskriterien für Ärzte
würde besonders jungen Medizinern jede Lebensperspektive rauben. Eine striktere Budgetierung auch für
Krankenhäuser werde den Bedürfnissen der Patienten ebenfalls nicht gerecht.
Die Verbände der Pharmaindustrie und Arzneimittelhersteller erklärten unisono: Der Gruselkatalog der
Krankenkassen kuriere an Symptomen, ohne die hausgemachten Strukturprobleme der Kassen an der Wurzel
anzupacken. Die Vorschläge liefen auf einen weiteren Fehlversuch hinaus, ausschließlich mit massiven
dirigistischen Sparmaßnahmen notwendige Reformen im Gesundheitswesen ersetzen zu wollen. Viele
Forderungen an den Gesetzgeber auch im Arzt- und Arzneimittelbereich gingen ausschließlich zu Lasten der
Patienten und der Leistungserbringer.Vielfach werde von bloß behaupteten und vermuteten Einspar- und
Rationalisierungspotentialen ausgegangen, ohne den Status quo detailliert zu analysieren und die
Sparmilliarden nachzuweisen. Allenorten würde das Einkaufsmodell der Krankenkassen als Reformoption
hervorlugen. Auch rigorose Einschnitte bei lebenserhaltenden Behandlungen seien kein Tabu mehr. Eine Zwei-
und Mehrklassenmedizin sowie eine lebensbedrohliche Ausgrenzung medizinisch notwendiger
Behandlungsmaßnahmen und Leistungen würden in Kauf genommen – mithin eine Bankrotterklärung einer
zukunftsweisenden Gesundheitspolitik und das Ende einer kooperativen, loyalen Partnerschaft in der
gemeinsamen Selbstverwaltung. Nach eigenem Bekunden wollen die Kassen jetzt nicht mehr tatenlos zuwarten
und sich vom Gesetzgeber die Daumenschrauben anlegen lassen, sondern die "begrenzten
Handlungsspielräume so extensiv wie möglich nutzen". Erklärtes Ziel ist es, alles und jedes auch auf
vertraglicher Ebene zur Disposition zu stellen, um Einnahmenverluste zu vermeiden und die Ausgaben zu
drosseln. Im Klartext: In allen Sektoren soll die Ausgabendeckelung unbefristet und noch rigider als bisher
gelten. Die Budgets müßten entsprechend gekürzt werden, sämtliche vertraglichen Vereinbarungen mit den
Leistungserbringern sollen zur Disposition gestellt und die gesetzlichen Vorschriften zur Qualitätssicherung
und zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit noch strikter angewandt werden.
l Gemeinsam mit den Vertragsärzten sollen die verordneten Leistungen auf den Umfang zurückgeführt werden,
der medizinisch notwendig ist. Dies gelte insbesondere für eine rationelle und rationale Versorgung mit
Arznei- und Heilmitteln (freiwillige Arzneiverordnungslisten werden empfohlen);
l Die GKV-Spitzenverbände wollen unverzüglich die Arzneimittel-Festbeträge überprüfen und möglichst
drastisch senken;
l Fortschreibung des Honorarbudgets für Zahnärzte unter Berücksichtigung der Entwicklung der
beitragspflichtigen Einnahmen der Rentner (analog zur Regelung bei Ärzten); Einbeziehung des
Zahnarzthonorars bei Zahnersatz und Kieferorthopädie in die Gesamtvergütung; Verschärfung der
Degressionsgrenzen für zahnärztliche Leistungen; Verstärkung der Zahnprophylaxe in Gruppen statt eines
weiteren Ausbaus der Individualprophylaxe;
l Schaffung der Möglichkeit differenzierter Verträge mit Zahnärzten;
l Kündigung unwirtschaftlicher Kapazitäten in Krankenhäusern, um so den Bettenabbau zu beschleunigen;
l Überprüfung der Richtlinien und Empfehlungen für die sonstigen Leistungen, insbesondere die häusliche
Krankenpflege, Fahrkosten, Heilmittel/Massagen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK).
Sämtliche Indikationen sollen aktualisiert und präziser gefaßt und das Verordnungsverhalten der Ärzte
systematisch beobachtet werden. Verordnet oder handelt ein Leistungserbringer unwirtschaftlich, soll er in
Regreß genommen werden.
Honorar-Budget
Obwohl die Krankenkassen während des Gesetzgebungsverfahrens nicht in der Lage waren, behauptete Einsparpotentiale nachvollziehbar darzustellen, ging eine frühere, wesentlich zahmere Streichliste von mehr
als 11,5 Milliarden DM aus. Inzwischen wurden Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)
bekannt, denen zufolge durch Verzicht auf medizinisch "unnötige" Leistungen 25 Milliarden DM eingespart
werden könnten – eine auch von Seehofer angepeilte fiskalische Zielgröße. Die Folterwerkzeuge der
Krankenkassen:
1. Fortschreibung des Honorarbudgets unter Berücksichtigung der beitragspflichtigen Einnahmen der Rentner.
So soll die angebliche Asymmetrie bei der Einhaltung der Beitragssatzstabilität beseitigt werden.
2. Die mit dem Gesundheitsstrukturgesetz ab 1993 eingeführte verschärfte Bedarfsplanung soll rigoros
durchexerziert, die zum 1. Januar 1999 vorgesehene Bedarfszulassung soll bereits zum 1. Januar 1998 wirksam
werden – mit zum Teil existenzvernichtenden Auswirkungen auch für ältere Ärzte, die zwangsausscheiden
müssen bei verschlechterten Konditionen zur Praxisabgabe.
3. Eröffnung von Möglichkeiten für Kassen, Verträge außerhalb der "zwangsmonopolisierten Kassenärztlichen
Vereinigungen" mit einzelnen Ärzten oder Arztgruppen abzuschließen. Darüber hinaus soll die Zuständigkeit
der Vertragsärzte für die Dialyseversorgung durchbrochen werden, indem künftig auch Verträge mit
Heilmittellieferanten ermöglicht werden sollen. Damit sollen die Ausgaben für die Dialysebehandlung um 500
Millionen DM und mithin um 20 Prozent der Gesamtausgaben gesenkt werden, so Berechnungen der
Deutschen Dialysegesellschaft niedergelassener Ärzte e.V., Wuppertal.
Und eine weitere Keule gegen Ärzte und Versicherte: Streichung der Gesundheitsuntersuchungen gemäß § 25
SGB V (1989 für über 35jährige als Check-up eingeführt). Die Gesundheitsuntersuchung enthält zum Beispiel
eine eingehende Untersuchung mit EKG und Laborprogramm. Dagegen soll das Früherkennungsprogramm
gegen Krebs für Frauen ab dem 20. und für Männer ab dem 45. Lebensjahr nicht tangiert werden. Begründung
der Kassen: Der Check-up sei ungezielt und ineffektiv; nur etwa 10 Prozent aller Anspruchsberechtigten
nähmen pro Jahr die Untersuchung in Anspruch.
Bei Zuschüssen zu Fahrkosten sollen die Patienten jährlich 200 DM (in Härtefällen: 100 DM) selbst tragen. Für
Haushaltshilfen sollen nicht mehr die vorgelegten Rechnungen erstattet, sondern es soll nur noch gezahlt
werden, wenn die Kosten für Hilfen zuvor genehmigt wurden. Die Haushaltshilfe soll nur noch als
Sachleistung unter Einschaltung anerkannter Fachdienste gewährt werden.
Mit drastischen Eingriffen soll der Pharmaindustrie, den Apothekern und Patienten in die Kassen/
Taschen gegriffen werden:
l Erleichterte Bildung von Festbeträgen für patentgeschützte Arzneimittel;
l Senkung der Apotheken-Zuschläge der Preisspannenverordnung von durchschnittlich 30 auf 20 Prozent und
Kürzung der Großhandelsspanne um drei Prozent;
l Zulassung lizenzierter Apotheken zum Direktversand, insbesondere für Arzneimittel zur Behandlung
chronisch und chronisch-degenerativer Krankheiten; Direktvertrieb von Arzneimitteln in der Arztpraxis bei
solchen Therapeutika, die unmittelbar in der Arztpraxis anzuwenden sind und ärztlich beobachtet werden
müssen;
l Schaffung einer Arzneimittel-"Positivliste" (§ 92 a. F. SGB V). Angeblich sind von 46 000 Arzneimitteln
bislang etwa 30 000 nicht auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit überprüft;
l Einführung einer dreistufigen Zuzahlung, mit der Unterscheidung zwischen unentbehrlichen, unumstrittenen
und umstrittenen Arzneimitteln. Die Apotheker sollen verpflichtet werden, das kostengünstigere importierte
Mittel abzugeben. Der Kassenrabatt soll von fünf auf zehn Prozent erhöht werden. Dr. Harald Clade
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