ArchivDeutsches Ärzteblatt47/2004Erinnerung an Prof. Dr. Nathan Zuntz: Ballonfahrten über Berlin, Laufbänder für Pferde

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Erinnerung an Prof. Dr. Nathan Zuntz: Ballonfahrten über Berlin, Laufbänder für Pferde

Rieser, Sabine

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So genannter Zuntz-Geppertscher Respirationsapparat bei einem Ruheversuch (links). Prof. Dr. Nathan Zuntz auf einem Foto im Alter von etwa 65 Jahren (rechts) Quelle: Aviat. Space Environ. MED 1995.66: 168
So genannter Zuntz-Geppertscher Respirationsapparat bei einem Ruheversuch (links). Prof. Dr. Nathan Zuntz auf einem Foto im Alter von etwa 65 Jahren (rechts) Quelle: Aviat. Space Environ. MED 1995.66: 168
Um Stoffwechselvorgänge von Mensch und Tier zu erforschen, ging ein Berliner Wissenschaftler ungewöhnliche Wege.

Forschungsarbeiten zum Thema Stoffwechsel? Klingt nicht sofort nach einem facettenreichen Wissenschaftlerleben. Die Karriere von Nathan Zuntz (1847–1920) kann einen eines Besseren belehren. Zuntz, geboren in Bonn als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, beendete mit 21 Jahren sein Medizinstudium summa cum laude. Nach kurzem Zwischenspiel als Landarzt und weiteren Studien übernahm er 1881 die Professur für Tierphysiologie an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin. Auf diesem Posten machte er sich einen Namen als Mann für origi-
nelle Laborarbeit wie für außergewöhnliche Feldversuche. Er wollte herausfinden, wie Menschen und Tiere auf extreme Belastungen durch große Hitze, Kälte oder Höhenluft reagieren.
Um mehr über den Stoffwechsel von Tieren zu erfahren, entwickelte Zuntz eine Apparatur mit Laufband – ähnlich den Exemplaren, auf denen sich Gesundheitsbewusste heute in Fitness-Studios abrackern. Gemeinsam mit einem Kollegen plante er um die Jahrhundertwende pneumatische Kabinette. In diesen Stahlkammern ließen sich Luftverhältnisse wie in 11 000 Metern Höhe simulieren – Grundlage für Experimente, ebenso aber für die Behandlung Tuberkulosekranker. Um Stoffwechselvorgänge in Extremsituationen zu erforschen, unternahm Zuntz von 1895 an mehrere Reisen ins Gebirge. Eine führte ihn ins Monte-Rosa-Massiv. Dort wurden unendlich komplizierte Versuchsreihen durchgeführt und ebenso Selbstversuche. Die Expeditionsteilnehmer sammelten ihre Ausscheidungen und werteten sie im Dienste der Wissenschaft aus.
1881 wurde der „Deutsche Verein zur Förderung der Luftschifffahrt“ gegründet. 1892 stiftete der Kaiser ihm 25 000 Reichsmark für Versuche. 1901 stieg man mithilfe diverser Geräte auf 10 500 Meter auf, ein Höhenrekord, den 30 Jahre lang niemand brach. Die notwendigen Tests dafür fanden in den pneumatischen Kabinetten statt. Die Versicherungskasse für die Ärzte Deutschlands beeindruckte das allerdings nicht. Sie wollte die Extremsportler nicht länger krankenversichern und ließ sich davon nur durch eindringliche Hinweise auf die Wissenschaftlichkeit der Ballonfahrten abhalten. Dass es um eine ernste Angelegenheit ging, zeigte sich später: Zuntz’ Abhandlung „Zur Physiologie und Hygiene der Luftfahrt“ von 1912 sorgte dafür, dass sich Luftfahrtmedizin und -physiologie als eigenständiger Forschungszweig der Medizin etablierten. Daher gilt Zuntz heute als Nestor der Luftfahrtmedizin.
An ihn erinnerte Prof. Dr. Hanns-Christian Gunga Mitte Juni in Berlin. Gunga arbeitet am Institut für Physiologie des Berliner Universitätsklinikums Charité und hat kürzlich die Spendenprofessur „Nathan Zuntz“ für Weltraummedizin und extreme Umwelten übernommen. Dieses Vorhaben wurde im Berliner Centrum Judaicum gefeiert. Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und (derzeit noch) der KV Berlin, ver
wies auf das Forschungsprojekt, im Rahmen dessen die Schicksale jüdischer Ärztinnen und Ärzte während des Nationalsozialismus aufgearbeitet werden (siehe „Die KV Berlin arbeitet ihre Geschichte auf“). Ebenso gehe es darum, die Leistungen jüdischer Wissenschaftler und Forscher zu würdigen. Zuntz habe ja zu einer Zeit gearbeitet, wo dies für ihn als Juden noch ohne Einschränkung möglich gewesen sei, sagte Richter-Reichhelm.
Auf den ersten Blick stimmt das. Prof. Gunga hat jedoch vor kurzem das Tagebuch von Zuntz’ Enkelin Emma gelesen. Ihr Großvater, schreibt sie dort, hätte eigentlich gern eine Professur an der Universität und nicht „nur“ an der Landwirtschaftlichen Hochschule übernommen. Dort wäre der Antisemitismus aber noch schlimmer gewesen, vermutete Zuntz. Er blieb bei den Landwirten. Sabine Rieser

Literatur
Martin Rüther: Ärztliches Standeswesen im Nationalsozialismus 1933–1945, in: Robert Jütte (Hrsg.): Geschichte der deutschen Ärzteschaft, Köln (Deutscher Ärzte-Verlag) 1997.
Thomas Gerst: Alt-Rehse – Verschworene Gemeinschaft im Dienste der NS-Gesundheitspolitik, DÄ, Heft 22/1995.
Werner Friedrich Kümmel: Die „Ausschaltung – Wie die Nationalsozialisten die jüdischen und politisch mißliebigen Ärzte aus dem Beruf verdrängten, in: Johanna Bleker, Norbert Jachertz (Hrsg.): Medizin im „Dritten Reich“, 2. Aufl., Köln (Deutscher Ärzte-Verlag) 1993.
Hanns-Christian Gunga: Leben und Werk des Berliner Physiologen Nathan Zuntz (1847–1920), Dissertation, Matthiesen Verlag, 1989.
Marlies Lehmann-Brune: Der Koffer des Karl Zuntz. Fünf Jahrhunderte einer jüdischen Familie, Droste Verlag, 1997.

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