ArchivDeutsches Ärzteblatt1-2/2005Zertifizierte Medizinische Fortbildung: Anorexia und Bulimia nervosa im Kindes- und Jugendalter

MEDIZIN

Zertifizierte Medizinische Fortbildung: Anorexia und Bulimia nervosa im Kindes- und Jugendalter

Holtkamp, Kristian; Herpertz-Dahlmann, Beate

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS
Zusammenfassung
Etwa ein bis drei Prozent der weiblichen Jugendlichen erkranken an Anorexia oder Bulimia nervosa. In der letzten Dekade haben sich das Verständnis der Ätiologie und der aufrechterhaltenden Bedingungen sowie die Therapie der Essstörungen gewandelt. So scheinen neben soziokulturellen auch genetisch geprägte Temperamentsfaktoren, sowie biologische Faktoren, wie eine Vulnerabilität des serotoninergen Neurotransmittersystems, ätiologisch bedeutsam. Die Therapie der Essstörungen erfolgt multimodal und stützt sich auf die drei Säulen somatische Rehabilitation und Ernährungstherapie, individuelle psychotherapeutische Behandlung sowie Einbeziehung der Familie.

Schlüsselwörter: Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, somatische Veränderung, Ätiologie, Behandlung

Summary
Anorexia and Bulimia nervosa in Childhood and Adolescence
Anorexia (AN) and Bulimia nervosa (BN) are common psychiatric disorders in adolescent girls. In the last decade the understanding of the etiology, maintaining conditions and therapy has changed. Besides the etiologic relevance of psychosocial factors there is evidence of the importance of temperament and other biological factors, e.g. a vulnerability of the serotonergic system. The multimodal treatment of eating disorders consists of weight rehabilitation and dietary counselling, individual psychotherapy as well as aspects of family therapy.

Key words: Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, somatic symptom, etiology, treatment

Die Essstörungen Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN) sind typische Erkrankungen des Jugend- und frühen Erwachsenenalters. Bei der Anorexia nervosa (AN) liegt der Erkrankungsgipfel zwischen 14
und 16 Jahren. Nach ICD-10 handelt es sich bei der AN um ein Krankheitsbild mit fünf zentralen Kennzeichen (Kasten 1). Als kritische Gewichtsgrenze für Kinder- und Jugendliche sollte die 10. BMI-Altersperzentile zur Diagnose der AN herangezogen werden (7) (Grafik 2), Berechnung im Internet: www. mybmi.de.
Das amerikanische Diagnosesystem DSM-IV unterscheidet zudem einem restriktiven Typus und eine bulimische Form (purging type) der AN. Restriktive Patientinnen verringern ihr Körpergewicht durch ausschließliche Kalorieneinsparung, wohingegen Magersüchtige des Purging-Typus auch eingreifende gewichtsreduzierende Maßnahmen wie zum Beispiel Erbrechen oder Abführmittel einsetzen.
Die Bulimia nervosa (BN) ist eine Essstörung jüngerer Frauen mit einem
Erkrankungsgipfel zwischen 16 und 19 Jahren. Nach ICD-10 müssen die in Kasten 1 genannten Kriterien erfüllt sein. Nach DSM-IV werden ein „purging“ (gewichtsreduzierende Maßnahmen) und ein „non Purging“-Typus (Fasten, körperliche Betätigung) unterschieden.
Epidemiologie
Die Inzidenz der AN bei 15- bis 24-jährigen jungen Frauen hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Die Prävalenzrate in dieser Altersgruppe wird derzeit zwischen 0,3 und 1 Prozent geschätzt. Seit den 50er-Jahren wird zudem ein Anstieg bei der kindlichen Magersucht (10 bis 14 Jahre) beobachtet (12). Das Geschlechterverhältnis liegt bei etwa 1:10 (m:w). Die Prävalenz der BN beträgt für weibliche Jugendliche ein bis zwei Prozent, für männliche etwa 0,3 Prozent (2). Bestimmte Risikogruppen weisen eine deutlich höhere Prävalenz an Essstörungen auf. Hierzu gehören Mädchen, die besonders mit dem Schlankheitsideal konfrontiert sind (zum Beispiel Models, Tänzerinnen, Leistungssportlerinnen) (4).
Symptomatik und Komorbidität
Essverhalten
Die Anorexia nervosa beginnt meist schleichend. Die Mehrzahl zeigt ein zunehmend restriktives Essverhalten, ist aber ausgeprägt mit dem Körpergewicht und dem Kalorien- und Fettgehalt der Nahrung beschäftigt. Oft ist wählerisches und ritualisiertes Essverhalten zu beobachten. Kindliche Patientinnen verweigern gelegentlich auch die Flüssigkeitsaufnahme. Beim Übergang zur bulimischen Form wird die Dauerdiät durch Essattacken durchbrochen, die wahrscheinlich durch die mit Heißhunger verbundenen hypoglykämischen Zustände begünstigt werden.
Die Patientinnen haben die tief verwurzelte überwertige Idee, trotz ihres zum Teil massiven Untergewichts zu dick zu sein (Gewichtsphobie). Um das Essverhalten entstehen sowohl bei AN- als auch bei BN-Patientinnen meist ausgeprägte familiäre Konflikte, die mit einem hohen Leidensdruck der Familie verbunden sein können. Viele Patientinnen sind zudem ausgeprägt körperlich aktiv, was auch biologische Ursachen (zum Beispiel Hypoleptinämie) zu haben scheint (9) (Grafik 1).
Essattacken sind pathognomonisch für die Bulimia nervosa. Bei den von der Umgebung häufig unbemerkten Anfällen schlingen die Patientinnen enorme Mengen (bis zu 10 000 kcal) meist hochkalorischer, unzubereiteter und weicher Nahrung herunter. Nach einer Essattacke folgen gewichtsreduzierende Maßnahmen, von denen die häufigste das Erbrechen darstellt. Andere Betroffene bewegen sich exzessiv, betreiben zusätzlich oder ausschließlich Abführmittelmissbrauch und/oder nehmen Diuretika, Schilddrüsenhormonpräparate oder Appetitzügler ein. Zwischen den Essattacken zeigen viele Patientinnen ein gezügeltes Essverhalten. Das Körpergewicht bulimischer Patientinnen ist meist normal. Obwohl bulimische Patientinnen oft den Krankheitswert ihres Essverhaltens erkennen, schämen sie sich für ihre Symptomatik und nehmen Hilfe meist spät oder gar nicht in Anspruch. Weitere typische Verhaltensweisen von Patientinnen mit Essstörungen sind im Kasten 2 angegeben.
Somatische Veränderungen
Bei der AN tritt definitionsgemäß eine primäre oder sekundäre Amenorrhoe auf. Aber auch bei Patientinnen mit BN und ausgeprägten Gewichtsschwankungen sind Zyklusstörungen nicht selten. Die meisten körperlichen Veränderungen der AN sind direkt auf den Starvationszustand und den Gewichtsverlust zurückzuführen. Je schneller und ausgeprägter die Gewichtsabnahme und je jünger die Patientinnen sind, desto schwerwiegender sind die körperlichen Veränderungen. Typische somatische Veränderungen und Komplikationen bei AN und BN sind im Kasten 3 aufgeführt. Neben diesen meist reversiblen Veränderungen sind Wachstumsstörungen und Osteoporose ernstzunehmende Langzeitfolgen bei chronischem rezidivierendem Verlauf. Das Risiko ist besonders groß bei Magersucht mit präpubertärem Beginn. Neben einem Verlust an Knochensubstanz ist der für die gesamte Lebensspanne relevante Knochenaufbauprozess durch eine Essstörung in der Pubertät beeinträchtigt (Kasten 3).
Komorbidität
Patientinnen mit AN und BN weisen in hohem Maße zusätzliche psychiatrische Erkrankungen auf (1, 3) (Tabelle). Bei den meisten AN-Patientinnen verbessert sich die komorbide Symptomatik im Rahmen der Gewichtszunahme (14). Allerdings reicht eine alleinige Gewichtsrehabilitation oft nicht aus, um eine vollständige Remission komorbider Störungen zu gewährleisten. Deshalb sollte hier eine weiterführende Behandlung ansetzen.
Ätiologie und Pathogenese
Die Genese der AN und BN ist multifaktoriell, das heißt, es handelt sich um ein Zusammenwirken biologischer, persönlichkeitsbedingter, soziokultureller und familiärer Faktoren (Grafik 3).
Genetische Faktoren
Systematische Familienstudien zeigen, dass die Prävalenz von Essstörungen bei Familienmitgliedern magersüchtiger und bulimischer Patientinnen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen um das sieben bis zwölffache erhöht ist (15). Es scheint, dass Verwandte anorektischer Patientinnen neben dem erhöhten Risiko für eine Magersucht auch ein höheres Risiko für bulimische Essstörungen aufweisen (und umgekehrt) als Familien ohne essgestörte Indexprobanden. Molekulargenetische Studien konzentrieren sich momentan auf Kandidatengene für die Neurotransmission der Appetitregulation, wie zum Beispiel auf Gene für das serotoninerge und dopaminerge System.
Temperaments- und Persönlichkeitsfaktoren
Vor allem anorektische Patientinnen mit vornehmlich restriktiver Symptomatik zeichnen sich durch typische Persönlichkeitsmerkmale aus: Beharrlichkeit, nicht selten Rigidität, Perfektionismus, Introvertiertheit und ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis. Bei diesen Persönlichkeitseigenschaften wird vermutet, dass sie auch genetisch geprägt sind und mit dem serotoninergen System in Zusammenhang stehen. Primär bulimische Patientinnen scheinen weniger ausdauernd und kontrolliert, frustrationsintoleranter, sexuell aktiver und extrovertierter zu sein als anorektische Patientinnen.
Familiäre Faktoren
Neben genetischen Faktoren spielen auch familiäre (das heißt erziehungsbedingte) Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung eine Rolle. Wichtig erscheint hierbei die wechselseitige Interaktion zwischen den kindlichen Eigenschaften und dem Erziehungsverhalten der Eltern. Mangelnde Autonomie, Perfektionismus, ausgeprägtes Harmoniebedürfnis und soziale Ängstlichkeit aufseiten des Kindes fördern möglicherweise einen behütenden und einengenden Erziehungsstil aufseiten der Eltern und vice versa. So greifen genetische und umweltbedingte Einflüsse eng ineinander.
Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen Schwere der Essstörung und familiären Interaktionsschwierigkeiten fanden sich bisher nicht. In den einzelnen Familien existieren erhebliche Unterschiede im Interaktionsstil. Auch wenn die Bedeutung familiärer Faktoren für die Genese der Essstörungen in den letzten Jahren zunehmend infrage gestellt wurde, haben sich familienberatende oder -therapeutische Maßnahmen gerade bei den adoleszenten Essstörungsformen als besonders effizient erwiesen (7).
Sexueller Missbrauch
Bei essgestörten Patientinnen findet sich ein sexueller Missbrauch in der Kindheit, ähnlich wie bei anderen psychiatrischen Erkrankungen, mit höherer Wahrscheinlichkeit.
Demnach muss ein Missbrauch eher als unspezifischer denn als spezifischer Risikofaktor einer Essstörung angesehen werden. Chronischer sexueller Missbrauch in der Kindheit bulimischer Patientinnen scheint allerdings die Prognose der Essstörung zu verschlechtern und führt möglicherweise zu so genannten „biologischen Narben“, das heißt einer Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und des serotoninergen Systems.
Soziokulturelle Faktoren
Für den Einfluss soziokultureller Faktoren sprechen die hohe Prävalenz der Essstörungen in der westlichen Welt gegenüber anderen Kulturkreisen, die Zunahme in den letzten Jahrzehnten und die immer noch vorhandene höhere Prävalenz in Mittel- und Oberschichten sowie bei Risikogruppen (Sportler, Models). Junge Frauen unterliegen dem Druck des Schlankheitsideals mehr als ihre männlichen Altersgenossen, sodass unter anderem auch kulturelle Einflüsse eine Erklärung für die Häufung von Essstörungen beim weiblichen Geschlecht liefern.
Zwischen der Durchführung von Diätprogrammen und der Inzidenz von
Essstörungen besteht ein signifikanter Zusammenhang. Allerdings sollte darauf hingewiesen werden, dass zwar ein Drittel bis zwei Drittel aller Teenager eine Diät durchführt (13), jedoch nur bis zu ein Prozent von ihnen an einer Magersucht und weitere zehn Prozent an einer partiellen oder bulimischen Essstörung erkranken.
Biologische Faktoren
Zahlreiche Studien belegen die pathophysiologische Relevanz neuroendokriner, neurochemischer und metabolischer Faktoren bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung der AN. Im Stadium der Starvation kommt es zu Wechselwirkungen zwischen neuroendokrinen Veränderungen und Verhalten: Zum Beispiel verstärkt sich depressives, zwanghaftes und ängstliches Verhalten bei niedrigem Gewicht (6).
Ähnlich wie bei anderen psychiatrischen Störungen weisen auch anorektische Patientinnen eine erhöhte Anzahl perinataler Risikofaktoren auf. Durch perinatale Komplikationen hervorgerufene Beeinträchtigungen zerebraler Funktionen könnten einen unspezifischen Risikofaktor in der Ätiologie der AN darstellen.
Bei der Bulimia nervosa wird angenommen, dass ein gezügeltes Essverhalten und Fastenperioden die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Essattacken erhöhen und zur Aufrechterhaltung biologischer und psychischer Störungen führen. Erbrechen und/oder die Einnahme von Abführmitteln und Appetitzüglern tragen somit zu einer Destabilisierung der psychophysiologischen Regulation der Nahrungsaufnahme bei.
Multifaktorielles Ätiologiemodell
Die zuvor beschriebenen Befunde zur Ätiologie integrieren sich in ein Ätiologiemodell, welches von einer Vulnerabilität des serotoninergen Neurotransmittersystems ausgeht. Diese scheint genetisch bedingt zu sein. Frühe Umwelteinflüsse (zum Beispiel perinatale Risikofaktoren) und frühe traumatisierende Erfahrungen (Missbrauch, Misshandlung) können im Sinne einer biologischen Narbe eine genetische Vulnerabilität verstärken.
Laboruntersuchungen bei erwachsenen AN-Patientinnen ergaben im Akutzustand der Erkrankung eine Verminderung der 5-Hydroxyindolessigsäure im Liquor; bei BN-Patientinnen wurden hingegen normale Konzentrationen gefunden. Nach der Gewichtsrehabilitation (AN) beziehungsweise Normalisierung des Essverhaltens (BN) war der 5-Hydroxyindolessigsäure-Spiegel bei beiden Essstörungen im Vergleich zu gesunden jungen Frauen erhöht (10). Dieser Befund könnte unter anderem eine Erklärung dafür sein, warum essgestörte Patientinnen auch nach Überwindung der Essstörung ängstliche und zwanghafte Verhaltensweisen zeigen und häufig depressive Symptome aufweisen.
Biologisch determinierte ängstlich angepasste und vermeidende Verhaltensweisen werden durch behütende und kontrollierende Erziehung gefördert, flexibles oder exploratives Verhalten eher gehemmt, sodass Einflüsse der Umgebung die genetisch bedingten Temperaments- und Persönlichkeitsfaktoren verstärken können. Im Gegensatz zur Kindheit, in der abhängig vermeidendes Verhalten noch toleriert wird, erwartet die Gesellschaft vom Jugendlichen zunehmende Autonomie und Selbstbehauptung. Es liegt nahe, dass weibliche Jugendliche mit einem niedrigen Selbstwertgefühl und rigiden Verhaltensweisen auf diese Anforderungen mit noch mehr Anpassungsbereitschaft reagieren und versuchen, gesellschaftliche Normen in Sinne des Schlankheitsideals optimal zu erfüllen. Es wird vermutet, dass Diät und Starvation zu einer „Entgleisung“ des ohnehin vulnerablen serotoninergen Systems führen, und somit weitere Komplikationen (Körperschemastörung, depressive und zwanghafte Symptomatik, körperliche Hyperaktivität) nach sich ziehen (14, 6).
Diagnose und Differenzialdiagnose
Die Diagnose einer Magersucht ist im Allgemeinen leicht zu stellen, wenn Symptomatik, Lebensalter und Geschlecht typisch sind. Die AN muss von körperlichen Erkrankungen mit Gewichtsverlust abgegrenzt werden (Kasten 4). Junge Mädchen mit Morbus Crohn und Colitis ulcerosa können zusätzlich an einer Magersucht erkranken. Häufiger sind anorektische oder bulimische Essstörungen beim Diabetes mellitus, wo Einsparen oder Weglassen von Insulin als gewichtsreduzierende Maßnahme genutzt wird. Die bulimischen Erkrankungen werden leichter übersehen als die anorektischen und werden dementsprechend später behandelt. Differenzialdiagnostisch müssen Heißhungerattacken bei somatischen Erkrankungen ausgeschlossen werden, zum Beispiel bei Tumoren des ZNS und Schädel-Hirn-Traumen (Kasten 4). Unerlässlich in der Routinediagnostik beider Essstörungen sind in jedem Falle die Feststellung des Elektrolytstatus und ein Differenzialblutbild.
Therapie
Die Therapie der Essstörungen stützt sich auf drei Säulen (7):
- somatische Rehabilitation und Ernährungstherapie
- individuelle psychotherapeutische Behandlung
- Einbeziehung der Familie (insbesondere bei jugendlicher AN).
Bei den psychotherapeutischen Methoden haben sich kognitiv behaviorale Therapien, aber auch andere Therapieformen (zum Beispiel Familientherapie) als effektiv erwiesen. Folgende Ziele sollten dabei grundsätzlich berücksichtigt werden:
- Behandlung körperlicher Komplikationen (insbesondere während der akuten Krankheitsphase).
- Gewichtsrehabilitation mit Erreichen des Gewichts, bei dem die Menstruation wieder eintritt. Berücksichtigt werden muss hierbei, dass nach dem Erreichen des notwendigen Gewichts Wochen bis Monate vergehen können, bis die Regelblutung wieder eintritt. Es empfiehlt sich, die 25. Altersperzentile des Bodymass-Index als Zielgewicht festzulegen (mindestens aber die 10. Perzentile) (Grafik 2).
- Normalisierung des Essverhaltens. Hierbei bietet sich unter anderem die Durchführung eines Ernährungstagebuchs und Erstellung eines Essensplans im Rahmen einer Ernährungsberatung und -therapie an.
- Veränderung dysfunktionaler Gedanken, die zur Aufrechterhaltung der Essstörung beitragen, durch kognitive Verhaltenstherapie und gegebenenfalls Psychoedukation.
- Verbesserung von Defiziten in der Affektregulation, um zu vermeiden, dass in Belastungssituationen mit Störungen des Essverhaltens und/oder einer Gewichtsabnahme reagiert wird.
- Verbesserung von begleitenden psychischen Problemen, zum Beispiel Depressionen, Ängsten und Zwängen.
- Einbeziehung der Familie zur Bewältigung intrafamiliärer Konflikte. Hierbei haben sich familienberatende und -therapeutische Verfahren als gleich wirksam erwiesen.
Eine stationäre Behandlung sollte bei Vorliegen der im Kasten 5 genannten Kriterien eingeleitet werden.
Medikamentöse Therapie
Bei der Bulimia nervosa kann bei hoher Frequenz von Essattacken und nachfolgendem Erbrechen eine zusätzliche medikamentöse Therapie mit einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) indiziert sein (7). Die Wirksamkeit einer medikamentösen Behandlung der Anorexia nervosa ist bisher nur schlecht belegt. Bei Erwachsenen weist lediglich eine Studie darauf hin, dass SSRI möglicherweise die Rückfallrate senken können (11). Die Wirksamkeit von SSRI für die adoleszente oder kindliche Magersucht ist nicht belegt (8). In Einzelfällen kann bei chronifizierter AN und ausgeprägter Gewichtsphobie die Behandlung mit Olanzapin, einem atypischen Neuroleptikum, indiziert sein.
Eine Hormonbehandlung zur Osteoporoseprophylaxe wird zum jetzigen Zeitpunkt nicht empfohlen (5). Sinnvoll ist eine Substitution von Vitaminen und Calcium (400 IU Vitamin D, 1 000 bis 1 500 mg Calcium pro Tag). Einen gewissen, aber nicht ausreichenden Schutz gegen Osteoporose, scheint körperliche Aktivität zu bieten. Zum jetzigen Zeitpunkt stellt die Gewichtsrehabilitation die effektivste Maßnahme zur Minderung des Osteoporoserisikos dar. (5). Eine längerfristige Bettruhe während der stationären Behandlung magersüchtiger Patientinnen ist kontraindiziert.
Fazit für die Praxis
Bei einem BMI zwischen der 10. und 25. Altersperzentile sind eine Ernährungsanamnese, ein Menstruationskalender sowie regelmäßige Gewichtskontrollen angezeigt. Erhärtet sich der Verdacht einer Essstörung, sollte das Gewicht in etwa vierwöchigen Abständen kontrolliert werden. Bei zunehmender Gewichtsabnahme und/oder Heißhungerattackenfrequenz ist eine ambulante Psychotherapie indiziert. Bei einem BMI < 10. Altersperzentile sollte zeitnah eine stationäre Behandlung in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie erfolgen. Viele Verlaufsuntersuchungen zeigen, dass die Langzeitprognose einer essgestörten Patientin umso ungünstiger ist, je niedriger das Gewicht und je länger die Krankheitsdauer vor Beginn der Behandlung war.


Die Autoren versichern, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors vorliegt.

Manuskript eingereicht: 9. 8. 2004, revidierte Fassung angenommen: 6. 9. 2004

zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2005; 102: A 50–58 [Heft 1–2]

Literatur
1. American Psychiatric Association Work Group on Eating Disorders: Practice guideline for the treatment of patients with eating disorders (revision). Am J Psychiatry 2000; 157: 1–39.
2. Kaltiala-Heino R, Rissanen A, Rimpela M, Rantanen P: Bulimia and bulimic behaviour in middle adolescence: more common than thought? Acta Psychiatr Scand 1999;100: 33–39.
3. Godart NT, Flament MF, Lecrubier Y, Jeammet P: Anxiety disorders in anorexia nervosa and bulimia nervosa: co-morbidity and chronology of appearance. Eur Psychiatry 2000; 15: 38–45.
4. Herpertz-Dahlmann B, Müller B: Leistungssport und Essstörungen aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht. Monatsschr Kinderheilk 2000; 148: 462–468.
5. Herpertz-Dahlmann B, Dahlmann J: Anorexia nervosa in der gynäkologischen Praxis. Gynäkologe 2001; 34: 57–62.
6. Herpertz-Dahlmann B: Essstörungen. In: Herpertz-Dahlmann B, Resch F, Schulte-Markwort M, Warnke A, Hrsg.: Entwicklungspsychiatrie. Stuttgart, New York: Schattauer 2003; 668–693.
7. Herpertz-Dahlmann, Hebebrand J, Remschmidt H: Essstörungen. In: Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2003, 117–129.
8. Holtkamp K, Konrad K, Kaiser N, Ploennes Y, Heussen N, Grzella I, Herpertz-Dahlmann B: A retrospective study of SSRI treatment in adolescent anorexia nervosa: insufficient evidence for efficacy. J Psychiatr Res (in Druck).
9. Holtkamp K, Herpertz-Dahlmann B, Mika C et al.: Elevated physical activity and low leptin levels co-occur in patients with anorexia nervosa. J Clin Endocrinol Metab 2003; 88: 5169–5174.
10. Kaye WH, Gendall K, Shober M: Serotonin neuronal function and selective serotonin reuptake inhibitor treatment in anorexia and bulimia nervosa. Biol Psychiatry 1998; 44: 825–838.
11. Kaye WH, Nagata T, Weltzin TE, et al.: Double-blinded placebo-controlled administration of fluoxetine in restricting-purging-type anorexia nervosa. Biol Psychiatry 2001; 49:644–652.
12. Lucas AR, Crowson CS, O'Fallon WM, Melton LJ 3rd.: The ups and downs of anorexia nervosa. Int J Eat Disord 1999; 26: 397–405.
13. Patton GC, Carlin JB, Shao Q, Hibbert ME, Rosier M, Selzer R, Bowes G.: Adolescent dieting: healthy weight control or borderline eating disorder? J Child Psychol Psychiatry 1997; 38: 299–306.
14. Pollice C, Kaye WH, Greeno CG, Weltzin TE: Relationship of depression, anxiety, and obsessionality to
state of illness in anorexia nervosa. Int J Eat Disord; 1997; 21: 367–376.
15. Strober M, Freeman R, Lampert C, Diamond J, Kaye W: Controlled family study of anorexia nervosa and bulimia nervosa: evidence of shared liability and transmission of partial syndromes. Am J Psychiatry 2000; 157: 393–401.

Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Beate Herpertz-Dahlmann
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und -psychotherapie der Rheinisch Westfälischen
Technischen Hochschule Aachen
Neuenhofer Weg 21
52074 Aachen
E-Mail: bherpertz-dahlmann@ukaachen.de

Weitere Informationen im Internet:
Leitlinien „Essstörungen“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V.
www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/ll_kjpp.htm


Fragen zur zertifizierten Fortbildung (nur eine Antwort pro Frage ist jeweils möglich)

Frage 1:
Welche der folgenden Symptome der Anorexia nervosa sind diagnostische Kriterien nach ICD-10 ?
1. rezidivierendes Erbrechen
2. Amenorrhoe
3. mangelhafte Krankheitseinsicht
4. „überwertige“ Idee , zu dick zu werden

a) nur 1., 3. und 4. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 3. und 4. treffen zu
d) nur 2. und 3. treffen zu
e) nur 2. und 4. treffen zu

Frage 2:
Im Vergleich zu Anorexia nervosa
1. tritt die Bulimia nervosa typischerweise bereits im späten Kindesalter auf.
2. haben Patientinnen mit Bulimia nervosa meist ein ähnlich niedriges Gewicht.
3. treten bei Patientinnen mit Bulimia nervosa Heißhungerattacken auf.
4. haben auch bulimische Patientinnen die Vorstellung, zu dick zu sein.

a) nur 1., 3. und 4. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 3. und 4. treffen zu
d) nur 2. und 3. treffen zu
e) nur 2. und 4. treffen zu

Frage 3:
Welche der folgenden Aussagen treffen zu?
1. Die Prävalenzrate der Anorexia nervosa ist höher als die der Bulimia nervosa.
2. Im Kindesalter ist in den letzten Jahrzehnten die Prävalenzrate der Anorexia nervosa gesunken.
3. Bei Leistungssportlern treten Essstörungen in geringerem Maße auf, da durch den Sport eine Verbesserung des Körpergefühls erzielt wird.
4. Anorexia und Bulimia nervosa treten überwiegend beim weiblichen Geschlecht auf.

a) nur 1., 3. und 4. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 3. und 4. treffen zu
d) nur 2. und 3. treffen zu
e) nur 4. trifft zu

Frage 4:
Patientinnen mit Anorexia nervosa
1. vermeiden die Beschäftigung mit dem Thema Essen und Ernährung.
2. weisen ein ritualisiertes Essverhalten auf.
3. geraten oft mit den Eltern beim Thema Essen in Konflikt.
4. fühlen sich entsprechend ihres erheblichen Untergewichts zu dünn.

a) nur 1., 3. und 4. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 3. und 4. treffen zu
d) nur 2. und 3. treffen zu
e) nur 2. und 4. treffen zu

Frage 5:
Patientinnen mit Bulimia nervosa
1. verheimlichen Essbrechanfälle oft über einen langen Zeitraum.
2. schlingen während eines Essanfalls hochkalorische Nahrung, die wenig gekaut werden muss, rasch hinunter.
3. zeigen überwiegend restriktives Essverhalten, welches durch Essanfälle unterbrochen wird.
4. haben immer deutliches Untergewicht.

a) nur 1., 2. und 3. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 1. und 3. treffen zu
d) nur 2. und 3. treffen zu
e) nur 2. und 4. treffen zu

Frage 6:
Welche der folgenden Aussagen treffen zu?
1. Patientinnen mit Anorexia nervosa haben ein erhöhtes Osteoporoserisiko.
2. Die Entwicklung einer Osteoporose bei Patientinnen mit Anorexia nervosa kann durch eine Hormonsubstitution verhindert werden.
3. Patientinnen mit Anorexia nervosa sollte bei Stagnation der Gewichtszunahme eine mehrwöchige Bettruhe verordnet werden.
4. Der beste Schutz gegen die Entwicklung einer Osteoporose bei Patientinnen mit Anorexia nervosa ist die Gewichtsrehabilitation.

a) nur 1., 3. und 4. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 1. und 3. treffen zu
d) nur 2. und 3. treffen zu
e) nur 1. und 4. treffen zu

Frage 7:
Welche der folgenden Aussagen treffen zu?
1. Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen werden durch die Eltern verursacht.
2. Biologische Veränderungen zum Beispiel im serotinergen oder Leptinsystem während des Hungerzustandes sind vermutlich an der Aufrechterhaltung der Anorexia nervosa beteiligt.
3. Patientinnen mit Bulimia nervosa zeichnen sich typischerweise durch Beharrlichkeit, nicht selten Rigidität, Introvertiertheit und ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis aus.
4. Die Genese der Essstörungen ist multifaktoriell.

a) nur 1., 3. und 4. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 1. und 4. treffen zu
d) nur 2. und 3. treffen zu
e) nur 2. und 4. treffen zu

Frage 8:
Bei der Anorexia nervosa
1. sollten maligne Erkrankungen und Hirntumoren ausgeschlossen werden.
2. schließt ein juveniler Diabetes mellitus das Vorliegen einer Essstörung aus.
3. sollte eine Bestimmung des Elektrolytstatus erfolgen.
4. sind Zwangssymptome und depressive Störungen abzuklären.

a) nur 1., 3. und 4. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 1. und 4. treffen zu
d) nur 2. und 3. treffen zu
e) nur 3. und 4. treffen zu

Frage 9:
Bei der Therapie der Anorexia nervosa
1. sollte die Gewichtszunahme zu Beginn der Therapie nicht im Vordergrund stehen, da die Patientinnen hierdurch zu stark belastet würden.
2. sollten ausschließlich familientherapeutische Verfahren angewendet werden.
3. ist auch die Behandlung komorbider Störungen zu gewährleisten.
4. ist eine stationäre Behandlung in jedem Fall zu vermeiden.

a) nur 1., 3. und 4. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 1. und 4. treffen zu
d) nur 1 trifft zu
e) nur 3 trifft zu

Frage 10:
Bei der Therapie der Essstörungen
1. sollte trotz deutlichem Gewichtsverlust und/oder einer hohen Frequenz von Essbrechanfällen erst der Verlauf abgewartet werden, da eine hohe Rate an Spontanremissionen besteht.
2. sollte neben der somatischen Rehabilitation und Ernährungstherapie eine individuelle psychotherapeutische Behandlung sowie eine Einbeziehung der Familie erfolgen.
3. haben sich kognitiv behaviorale Therapien als wirkungsvoll erwiesen.
4. hat sich eine unterstützende Behandlung mit einem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bei Patientinnen mit Bulimia nervosa als wirksam erwiesen.

a) nur 1., 3. und 4. treffen zu
b) nur 2., 3. und 4. treffen zu
c) nur 1. und 4. treffen zu
d) nur 1 trifft zu
e) nur 3 trifft zu

Fachgebiet

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote