POLITIK
Statt Programm-Medizin: Mehr Vertrauen in die ärztliche Urteilskraft


Bundesärztekammer-Präsident Hoppe: Evidenzbasierte Medizin hat
ihren Platz, aber sie sollte nicht überbewertet werden.
Foto: Georg Lopata
Anderenfalls ist der Weg in die Rationierung vorgezeichnet.
Nach wie vor ist Gesundheit im Urteil der Bevölkerung das höchste Gut. Und der einzelne Arzt steht in der Skala der wertgeschätzten Berufe an erster Stelle. Das ergeben mit schöner Regelmäßigkeit die Meinungsumfragen. Der Arzt wird deshalb so hoch geschätzt, weil Patienten oder potenzielle Patienten von ihm Hilfe bei ihren individuellen gesundheitlichen Problemen erwarten, weil sie Vertrauen in seine medizinischen und menschlichen Fähigkeiten haben. Das ist ein differenzierter Interaktionsprozess zwischen einzelnen Menschen.
Was die Bevölkerung unter Gesundheit versteht, rangiert auf einer breiten Skala. Diese reicht vom „Leben mit der Krankheit“ bis zum „Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1946. Die WHO-Gesundheitsdefinition ist sehr gelobt, aber auch heftig kritisiert worden. Die Kritik richtete sich vor allem dagegen, den Gesundheitsbegriff derart weit zu fassen. Geschätzt wurde die Definition der WHO deshalb, weil sie unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass Gesundheit – um zwei altmodische Begriffe zu verwenden – Leib und Seele umfasst.
Das klingt banal. Doch wer die heutige gesundheitspolitische Diskussion verfolgt, bemerkt sehr schnell, dass Gesundheit und ihr Gegenstück Krankheit zunehmend enger definiert werden. Für die Ärzte ist die damit einhergehende staatliche oder semi-staatliche Veradministrierung von Behandlungsprozessen ein bedeutender Vorgang. Die Wurzeln dieses Paradigmenwechsels liegen in einer Überbewertung der so genannten evidenzbasierten Medizin (EbM) begründet, welche mittlerweile nicht nur Grundlage für vielfältige Leitlinien zum Umgang mit bestimmten Krankheiten ist, sondern auch der Disease-Management-Programme (DMP).
Leitlinien betreffen die individuellen Patient-Arzt-Beziehungen, DMP die medizinische Versorgung großer Bevölkerungsgruppen. Die Protagonisten solcher Programm-Medizin sehen viel zu wenig, dass Ärzte kranke Menschen mit mehr oder weniger definierten Krankheiten behandeln; vielmehr betrachten sie Patienten als Besitzer von Krankheiten, mit denen die entsprechenden Programme checklistenartig abzuarbeiten sind. Patienten werden zu statistischen Größen, so als lasse sich jeder Patient mit einem anderen „Träger“ der gleichen Krankheit vergleichen.
Diese Philosophie basiert auf einer sehr mechanistischen Vorstellung von der Medizin und dem ärztlichen Tun, nämlich auf der Annahme, Medizin sei eine Naturwissenschaft. Die Medizin ist aber keine Naturwissenschaft. Sie kann es gar nicht sein; denn bei den echten Naturwissenschaften gibt es nur Fakten, in der Medizin sprechen wir mehr über das, was sein soll oder was nicht sein soll. Die Medizin ist auch nur bedingt eine theoretische, sie ist im Wesentlichen eine praktische Wissenschaft, eine Erfahrungswissenschaft, eine Humanwissenschaft, die sich auch der Erkenntnisse anderer Wissenschaften – wie der Naturwissenschaften, aber auch der Psychologie, der Ingenieurwissenschaften, der Sozialwissenschaften, der Kommunikationswissenschaften, der Geisteswissenschaften – bedient. Die Ärzte müssen – je nach Fach unterschiedlich ausgeprägt – mit nur wahrscheinlich richtigem Wissen und mit kurzen Halbwertszeiten umgehen. Bei allen Entscheidungsprozessen, sowohl bei Patientinnen und Patienten als auch bei Ärztinnen und Ärzten, spielen zudem Wertungen eine wichtige Rolle.
Der Charakter der medizinischen Wissenschaft kann also niemals der einer exakten Naturwissenschaft sein. Dieser Ansicht wird auch der überzeugte Leitlinienvertreter prinzipiell sofort zustimmen. Gleichwohl hat sich sowohl bei manchen Ärzten, mehr aber noch bei Gesundheitspolitikern und besonders deren Politikberatern die Auffassung durchgesetzt, die ärztliche Versorgung, ja das gesamte Leistungsgeschehen, könne durch planerische Vorgaben für die individuelle Patientenbetreuung gesteuert werden. Natürlich gibt es Krankheitsbilder, bei denen diagnostische und therapeutische Maßnahmen sozusagen algorithmisch abgearbeitet werden können, weil relativ exakte Wenn-dann-Entscheidungen möglich sind. Wenn durch diese Maßnahmen die vorgesehenen oder gewünschten Ergebnisse punktgenau erreicht werden, kommt ein solches System naturwissenschaftlichem Denken zumindest sehr nahe.
Der glaubwürdige Arzt
Aber bei vielen Fragestellungen, die sich bei der ärztlichen Betreuung Kranker ergeben, entspricht ein solcher Ablauf nicht der Realität. In den meisten Fällen kann der Arzt den Patienten doch nur zusichern, bei der Auswahl von Behandlungsvorschlägen und der Durchführung von Behandlungsmaßnahmen größtmögliche Sorgfalt anzuwenden, niemals kann aber ein therapeutisches Ergebnis mit Sicherheit vorhergesagt oder gar versprochen werden. Dies gilt umso mehr, je komplexer die therapeutische Maßnahme angelegt ist und je mehr der ganze Mensch als somatisches, psychisches und soziales Wesen einbezogen sein soll. Hinzu kommt, dass die ärztlichen Überlegungen, Entscheidungen und Handlungen subjektiv beeinflusst sind. Das gilt selbst für eigentlich klare Feststellungen, wie Messen und Wiegen.
Wenn Ärzte also gegenüber der Öffentlichkeit und den Patienten von evidenzbasierter Medizin sprechen, sollten sie dies mit der nötigen Relativierung verbinden; sonst fördern sie die mechanistische Vorstellung von der Medizin und vom ärztlichen Handeln und unterminieren damit die eigene Vertrauenswürdigkeit.
Mit der beschriebenen weit gefassten Definition von Medizin wird verdeutlicht, dass Ärzte trotz ihrer ausgefeilten Spezialisierungen und der technischen und medikamentösen Hilfsmittel keine Programmmedizin exekutieren, sondern dass sie individuelle Urteilskraft in die Patientenbetreuung einbringen und so ihre Rolle als Hoffnungsträger keineswegs preisgeben wollen. Glaubwürdig können Ärzte das nur tun, wenn Kompetenz, Verschwiegenheit, die Annahme der Rolle des Patientenanwaltes, die Beachtung des Grundsatzes „nihil nocere“ und die Gewissheit für Patienten, dass merkantile Aspekte für die ärztliche Entscheidung unbedeutend sind, die Grundlagen ihrer Berufsausübung bleiben.
Entgegen allen Behauptungen bedeuten die Disease-Management-Programme in Deutschland für die betroffenen Patienten sowie ihre Ärzte eine starke Einschränkung der tradierten Therapiefreiheit, was besonders an der ursprünglichen Absicht erkennbar ist, die Honorierung von Ärzten von einer sorgsamen Befolgung der Programme abhängig zu machen. Die Protagonisten gehen von einer mechanistischen Vorstellung der Abläufe in der Patientenversorgung aus. EbM-Programme werden als abzuhakende Handlungen in einem relativ engen Korridor gesehen, um so tatsächlich Leistungsausgaben steuern zu können. Die Behauptung, Disease-Management-Programme seien lediglich eine Hilfestellung für die Betreuung namentlich chronisch Kranker und die individuelle Patient-Arzt-Steuerung sei im Einzelfall nicht gefährdet, ist nicht nachvollziehbar und auch nicht glaubwürdig.
Mit diesen kritischen Einwänden gegen Leitlinien und den darauf basierenden DMP wird keineswegs der Nutzen – sinnvoll angewandter – Leitlinien in Abrede gestellt. Entscheidend ist vielmehr, wie Leitlinien gemacht und wie sie angewandt werden. Die Bundesärztekammer und die wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften bemühen sich seit Jahren, Ordnung in die Vielfalt des Erscheinungsbildes von Leitlinien zu bringen. Stichwortartig seien genannt:
- die Erarbeitung von Qualitätskriterien für Leitlinien
- die Einrichtung des Clearingverfahrens für Leitlinien
- die begriffliche Klärung von Standards, Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen und ihre Bedeutung für die ärztliche Versorgung sowie
- sozial- und haftungsrechtliche Implikationen.
Interne und externe Evidenz
Leitlinien müssen selbstverständlich den Kriterien in der evidenzbasierten Medizin folgen. EbM ist aber lediglich eine Hilfe zur Lösung eines individuellen Patientenproblems. Eine evidenzbasierte Leitlinie besagt: Im weltweiten Durchschnitt ist etwas richtig. Der Arzt hingegen muss im Einzelfall entscheiden, was richtig ist. Eine evidenzbasierte Leitlinie ist somit Ausfluss einer Systembetrachtung. Bei der ärztlichen Entscheidung handelt es sich um eine Einzelfallbetrachtung.
Die konkrete Anwendung einer evidenzbasierten Leitlinie kann erst nach Erkennung des Patientenproblems erfolgen. In dieser Phase dominiert zunächst die interne Evidenz des Arztes oder des Ärzteteams. Die ergibt sich aus dem medizinischen Wissen, aus der Praxiserfahrung und den Informationen aus der konkreten Patienten-Arzt-Beziehung. Externe Evidenz tritt hinzu, wenn sich der individuell behandelnde Arzt oder das Ärzteteam fragen: Was sagt der Rest der Welt zu dieser Frage, was sagen zum Beispiel andere erfahrene Ärzte, Fallbeschreibungen in der Literatur, randomisierte kontrollierte Studien, Lehrbücher, die Cochrane-Zentren und andere? Die so eingeholten Antworten aus der externen Evidenz sind für den Einzelfall kritisch zu bewerten im Hinblick auf ihre Validität, auf ihre klinische Relevanz und konkrete Anwendbarkeit im Einzelfall. Alsdann ist zu entscheiden, welche externe Evidenz in die interne Evidenz zu integrieren ist und welche nicht.
In der nächsten Zeit kommt es entscheidend darauf an, ob interne Evidenz von Ärzten oder die externe Evidenz von Programmgestaltern in der Krankenversorgung dominieren wird. Oder anders ausgedrückt: Wird die Orientierung am statistischen Denken oder aber die ärztliche Urteilskraft bei den Menschen hierzulande das höhere Vertrauen genießen?
Das Vertrauen in die Ärzte, und überhaupt in das Gesundheitswesen, wird auch davon abhängen, wieweit ökonomische Vorgaben die medizinische Betreuung beherrschen dürfen. Die Orientierung an Leitlinien und Disease-Management-Programmen soll zwar eine medizinische und ökonomisch effiziente Betreuung gewährleisten. Da aber die Ressourcen begrenzt sind, wird es kaum zu verhindern sein, dass das medizinisch Notwendige den finanziellen Möglichkeiten angepasst wird und damit eben nicht die optimale Betreuung, so wie die Medizin und die Ärzte sie leisten könnten, gewährleistet ist.
Die Patienten sind bei einer solchen Entwicklung in einer fast aussichtslosen Position. Wer in ein Disease-Management-Programm eingeschrieben ist, wird in der Regel nach ein und demselben Schema versorgt. Das bedeutet zwar weitgehende Gleichheit der Behandlungsqualität, aber auch eine begrenzte Vergleichbarkeit im Sinne von Benchmarks. Wenn dann noch Patientenverbände oder Selbsthilfeorganisationen bei der Beschlussfassung von Disease-Management-Progammen als Paten mitgewirkt haben, wird es für den Patienten, der spezielle Leistungen benötigt oder begehrt, die nicht Inhalt des Programms sind, schwer sein, vor Gericht Recht zu bekommen.
Der Weg zur Rationierung von Gesundheitsleistungen ist somit durch eine derartige Medizin nach Programm vorgezeichnet. Dem müssen wir Ärzte widerstehen, wenn wir weiterhin das Vertrauen unserer Patienten haben wollen.
Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe
Präsident der Bundesärztekammer
Peulen, J.-F.
Kaufmann, Daniel
Moos, Daniel
Kartzinski, Ralf
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