POLITIK: Leitartikel
Gesundheitspolitik: Honorierung und Krisenmanagement


Die "Angemessenheit" war stets ein unbestimmter Rechtsbegriff, wie er im Sozialgesetzbuch (SGB) oft
vorkommt. Während sonst die Sozialgerichte bei der Klärung von Rechtsauslegungen meistens hilfreich gewesen sind – wenn auch nicht immer zur Freude der zahlungspflichtigen Krankenkassen –, haben sie sich bei
der Definition des Begriffs der "Angemessenheit" der Vergütung der ärztlichen Leistungen hinter dem
Vertragsgegenstand "Gesamtvergütung" in Sicherheit gebracht. Bezieht sich aber die "Angemessenheit" auf
die Gesamtvergütung, sind es die Elemente, aus denen die Bewertung der ärztlichen Leistung abgeleitet wird –
der Bewertungsmaßstab und die Honorarverteilungsmaßstäbe (HVM) –, die zur Manövriermasse einer
Angemessenheit der Leistungsvergütung im einzelnen werden.
Zur Zeit gibt es keine stabilen Leistungspreise für die ärztliche Behandlung von Versicherten der gesetzlichen
Krankenkassen (GKV). Die "Honorargerechtigkeit", die von den Ärzten gefordert und die von den Patienten
erwartet wird, ist nicht einmal in den Durchschnittsbewertungen zu garantieren, in denen sich der PreisLeistungs-Bezug in der Vergütung vertragsärztlicher Behandlungen ohnehin aufgelöst hat. Der
"Wirtschaftsbereich Gesundheit" mit leistungsbezogenen Bewertungen der ärztlichen Arbeit ist zugunsten
anderer Bereiche der Marktwirtschaft in einen "Sondermarkt" mit zugeteilten Ressourcen verwandelt worden.
An die Stelle von Marktregeln, in denen sich soziale Unterschiede auswirken können, tritt in einem künstlich
begrenzten, sozial finanzierten Anteil der Gesamtwirtschaft die Verteilung mit der immanenten Forderung
nach "Verteilungsgerechtigkeit". Diese Variante einer Gerechtigkeit ist für den einen gerecht, für den anderen
ungerecht, weil Leistung subjektiv besetzt ist und ihr Erfolg zumindest in der Patientenbehandlung nur selten
vergleichbar ist. Es ist ähnlich wie mit dem politischen Begriff einer "sozialen Gerechtigkeit", der
"Gerechtigkeit" als ordnenden Rechtsbegriff unbrauchbar gemacht hat. Jeder kann ihn zum eigenen Vorteil
drehen und wenden.
Krankenversicherung auf Markt getrimmt?
Zur Zeit läuft in der Gesetzgebung der Versuch, aus dem GKV-System einen sozial finanzierten, geschützten
Marktbereich zu formen. Im Rahmen von Selbstverwaltungsvereinbarungen sollen sich Wettbewerbselemente
ordnend und qualitätsfördernd auswirken und dabei die Vorteile einer pluralistischen Wirtschaftsstruktur
nutzen: mit Freiberuflern, selbständigen Gesundheitsberufen, Handwerkern und mit im eigenen wie im
Patienten-Interesse sparsam arbeitenden Krankenhäusern.
Da aber der politische Machtkampf nicht entschieden ist zwischen denen, die ein sozialistisches
Gesundheitswesen in seiner Funktion als Herrschaftsinstrument in einem entscheidenden Lebensbereich der
Bürger unbedingt erhalten wollen, und denen, die überall in der Gesellschaft soviel Freiheit und Verantwortung
wie möglich wirksam werden lassen wollen, ist es Sache der Ärzte, ihre Option für eine qualifizierte,
persönliche und humane Krankenversorgung offenzuhalten. Unter so instabilen politischen Verhältnissen gerät
die Vorstellung von einer Honorargerechtigkeit für den Arzt zur Utopie. Für die gesamte Berufsgruppe müssen
an die Stelle des Kampfes aller gegen alle um die zu geringen Ressourcen gemeinsame Überlebensstrategien
treten. Die Konzepte dafür müssen in erster Linie die dem Patienten verantwortliche Arztrolle festschreiben.
Einheitliche Bewertungsmaßstäbe und HVM sind Versuche, eine hochentwickelte und effiziente ambulante
Krankenversorgung durch unruhige und finanziell magere Jahre zu steuern. Mehr sollte von ihnen nicht
erwartet werden. In ihrem Rahmen bleibt den Ärzten nur übrig, für die Krankenversorgung das Beste daraus zu
machen. Dafür wird ein Krisenmanagement benötigt. Denn trotz der Finanzierungsdefizite gebietet es der
ärztliche Auftrag, die leistungsfähigen Versorgungsstrukturen zu erhalten. Dazu haben die Kassenärztlichen
Vereinigungen einen gesetzlichen Sicherstellungsauftrag. Sie müssen möglich machen, was weder der einzelne
Arzt noch eine Gruppe von Ärzten zustande bringen kann.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind eben nicht nur Honorarverteilungs- und Verwaltungsbehörden. Sie
sind auch nicht nur dazu da, mit den Krankenkassenverbänden Verträge zu schließen. Sie sind in erster Linie
eine Genossenschaft von Ärzten, eine ärztliche Organisation, die ermöglichen soll, was ein Vertragsarzt auch
in finanziell bedrängten Zeiten an qualifizierter Krankenversorgung, unter Einsatz seiner und seiner Kollegen
persönlichen und medizinisch-technischen Möglichkeiten, für seine Patienten leisten kann.
Die Ärzte in der Krankenversorgung dürfen in solchen Zeiten nicht gegeneinander streiten. So hervorragend ist
keiner, daß er durch kollegiale Zusammenarbeit nicht noch besser werden könnte. Mit ihren Genossenschaften,
den Kassenärztlichen Vereinigungen, dienen die Ärzte ebenso der Patientenversorgung wie mit ihrer eigenen
Arbeit. Organisation, Kommunikation und Qualitätssicherung sind Gemeinschaftsaufgaben, die nicht jeder für
sich aufbauen kann. Die "Monopolstellung", die von den volkswirtschaftlichen Dogmatikern lediglich als
Marktprivileg beurteilt wird, ist unverzichtbarer Teil einer modernen Arbeitsteilung in der praktizierten
Medizin. Sie steht deshalb nicht als beliebig austauschbare Vertragsvariante zur Disposition.
Es ist notwendig, daß der Gesellschaft wieder klar wird, daß die persönliche Krankenversorgung nicht im
Dienste von Krankenkassen oder, von Ausnahmen abgesehen, auch nicht im Dienste des Staates erfolgt,
sondern im Dienste der Gesundheit des einzelnen Menschen. Daran ändert auch der soziale Ausgleich nichts,
der durch die Krankenkassenbeiträge oder durch eine Steuerfinanzierung erfolgt. Nicht wer zahlt, schafft an,
sondern es ist der Auftrag des Arztes in hippokratischer Tradition, der sich auch in der deutschen
Gesetzgebung wiederfindet. Insbesondere die Krankenkassen als privilegierte Kassierer von BeitragsMilliarden scheinen sich nicht immer darüber bewußt zu sein, daß sie dieses Geld verwalten, um in Anspruch
genommene Leistungen zugunsten ihrer Versicherten bezahlen zu können, und nicht dafür, die Versicherten
als Nutznießer von Dumping-Preisen einer fragwürdigen Situation auszusetzen. Auch das könnte einmal Anlaß
zum Wechsel einer Krankenkasse werden.
Nach ihrem beruflichen Selbstverständnis können sich die Ärzte nicht ökonomisch fremdbestimmen lassen. Sie
müssen jeweils tun, was sie können, nach bestem Wissen und Gewissen. Eine Gesellschaft, die dies erhalten
will, muß wissen, daß sie dafür Spielräume offenhalten muß. Die Menschen und ihre Schicksale sind
verschieden, und aus dieser Verschiedenheit resultiert ein unterschiedlicher Bedarf an Ressourcen für ihre
Heilbehandlung. Das verbietet auch bei Nutzung statistischer Durchschnitte eine Budgetierung. Ebenso
verbietet sich unter Ärzten ein vorrangiger Wettbewerb um hohe Gewinne aus ihrer Berufstätigkeit. Wer darauf
nicht verzichten will, sollte einen anderen Beruf wählen. Die hohe Zahl an Interessenten am Arztberuf läßt
vermuten, daß dieses Merkmal des Arztberufes nicht allen gegenwärtig ist.
Die finanzielle und strukturelle Krise in der Krankenversorgung ist mit motivierten und kollegial eingestellten
Ärztinnen und Ärzten jedenfalls eher zu überwinden als mit einem Wettbewerb, bei dem der Arztberuf unter
die Räder gerät.
Prof. Dr. med. Ernst-Eberhard Weinhold
Dorfstraße 140
27637 Nordholz
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