ArchivDeutsches Ärzteblatt PP5/2005Antidepressive Therapie bei Kindern und Jugendlichen: Anwendung und Stellenwert der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

EDITORIAL

Antidepressive Therapie bei Kindern und Jugendlichen: Anwendung und Stellenwert der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

Holtmann, Martin; Bölte, Sven; Wöckel, Lars; Poustka, Fritz

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LNSLNS Wegen des Verdachts, dass die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bei depressiven Kindern und Jugendlichen zu einem erhöhten Suizidrisiko führen könnten, wird der Einsatz dieser Substanzen derzeit kontrovers debattiert. Die Diskussion wurde von Studienergebnissen zum Wirkstoff Paroxetin ausgelöst, denen zufolge das Mittel bei Kindern zu einem erhöhten Risiko von suizidalen Gedanken führt. Mittlerweile wird auch eine durch SSRI induzierte Suizidalität bei Erwachsenen vermutet.
Wegen der Unklarheit bei der Differenzierung von Suizidalität, selbstschädigendem Verhalten und anderen Verhaltensauffälligkeiten in den vorliegenden Studien unterzog die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA ihre Daten einer erneuten Prüfung, deren Ergebnis mittlerweile vorliegt (4). Unter den mehr als 4 000 in Studien mit SSRI behandelten Kindern und Jugendlichen fand sich kein einziger vollendeter Suizid. Das relative Risiko (RR) für Suizidgedanken und suizidale Handlungen lag unter SSRI nicht signifikant über dem einer Placebobehandlung (RR 1,41; 95-Prozent-Konfidenzintervall [KI] 0,84 bis 2,37). Lediglich für Venlafaxin, einen Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, wurde ein signifikant erhöhtes Risiko ermittelt (RR 4,97; KI 1,09 bis 22,72). Allerdings waren die analysierten Studien in Design und Methodik nicht darauf ausgelegt, seltene unerwünschte Wirkungen, wie etwa suizidales Verhalten, zu erfassen. Sie verfügen daher möglicherweise nicht über genügend Sensitivität zur Aufdeckung potenzieller seltener Risiken.
Die FDA verzichtete, im Unterschied zur englischen Zulassungsbehörde darauf, die Kontraindikationen für SSRI generell auf die Behandlung Minderjähriger auszuweiten. Auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft sah keine Notwendigkeit für eine Einschränkung der zugelassenen Indikationen (1). Allerdings ordnete die FDA im Oktober 2004 an, mit einer „black-box warning“, dem strengsten Warnhinweis, den die Behörde für Packungsbeilagen verlangt, auf das nach ihrer Einschätzung erhöhte Risiko für pädiatrische Patienten, die mit Antidepressiva (nicht nur SSRI) behandelt werden, aufmerksam zu machen. Diese Regelung ist wegen ihrer Signalwirkung umstritten. Durch die Verunsicherung, die der Warnhinweis auslösen kann, besteht die Gefahr, dass Depressionen bei Kindern und Jugendlichen und deren Folgen, wie Suizidalität, nicht adäquat behandelt werden (3).
Die Punktprävalenz depressiver Störungen unter Jugendlichen liegt etwa bei fünf Prozent, unter Kindern bei zwei bis drei Prozent. Während der Depression weisen die Betroffenen ein fünf- bis 15fach erhöhtes Suizidrisiko auf; bis zu 60 Prozent der depressiven Kinder und Jugendlichen geben Suizidgedanken an. Eine Behandlung der Depression gilt daher als wirkungsvolle Prophylaxe suizidalen Verhaltens. Die Frage, wie viele Suizide durch die konsequente Behandlung von Depression, auch mit SSRI, verhindert werden können, wird in der gegenwärtigen Debatte weitgehend vernachlässigt.
Psychotherapeutische Behandlungsansätze
Bei jungen Patienten mit leichten und mittelschweren depressiven Episoden (nach ICD-10) ist eine psychotherapeutische Behandlung wirksam und Mittel der Wahl. Am besten untersucht ist die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie. Sie ist bezüglich der depressiven Symptomatik kurzfristig effektiver als eine systemisch-behaviorale Familientherapie oder eine nichtdirektive supportive Therapie. In der Langzeitwirksamkeit zeigte sich kein Unterschied (2). Bei nicht ausreichendem Effekt einer vier- bis sechswöchigen Psychotherapie besteht eine Indikation für eine medikamentöse Unterstützung. Bei schweren depressiven Störungen, deren Ausprägung einen primären Effekt psychotherapeutischer Maßnahmen erschwert oder gar unmöglich macht, ist von Beginn an eine Kombination mit einer psychopharmakologischen Behandlung angezeigt.
Johanniskraut
In Deutschland entfällt annähernd die Hälfte der Verschreibungen antidepressiver Medikamente für Kinder und Jugendliche auf Johanniskraut-Präparate (Hypericum-Extrakt). Die Evidenzbasis hierfür ist bislang unzureichend. Metaanalysen von Studien an Erwachsenen mit leichter bis mittelschwerer Depression ergaben uneinheitliche Ergebnisse gegenüber Standardantidepressiva und Placebo (10). Dagegen zeigte eine aktuelle Studie, in der Johanniskraut mit Paroxetin verglichen wurde, zumindest eine Gleichwertigkeit beider Therapiearme (9). Für die Behandlung depressiver Kinder und Jugendlicher liegen keine kontrollierten Studien mit Johanniskraut vor. Entgegen der Ansicht, es handele sich wegen des pflanzlichen Ursprungs der Wirkstoffe um nebenwirkungsfreie „sanfte“ Präparate, sind unerwünschte Wirkungen wie etwa Fälle von Fotosensibiliserung als auch eine Induktion von Zytochrom CYP 3A4 (mit Beeinflussung der Serumspiegel anderer Pharmaka) belegt. Für trizyklische Antidepressiva ließ sich in zahlreichen kontrollierten Studien bei depressiven Kindern und präpubertären Jugendlichen kein Wirksamkeitsnachweis erbringen (7).
Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
In der Behandlung depressiver Störungen werden SSRI bei Kindern und Jugendlichen seit einigen Jahren auch in Deutschland vermehrt angewandt, auch wenn die Verschreibungspraxis zurückhaltender ist als in den USA (11). In Deutschland ist bei Kindern ab acht Jahren nur ein SSRI-Präparat (Fluvoxamin) zugelassen, und zwar für die Behandlung von Zwangsstörungen. Bei allen anderen Indikationen, auch bei der Depression, erfolgt die Therapie von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Off-Label-Verordnung als individueller Heilversuch. Derzeit sind Daten zu fünf Substanzen (Fluoxetin, Sertralin, Citalopram, Paroxetin und Venlafaxin) aus elf placebokontrollierten Studien bei depressiven Kindern und Jugendlichen verfügbar. Eine Überlegenheit gegenüber Placebo konnte nur für Fluoxetin und Sertralin empirisch belegt werden. Für Paroxetin und Venlafaxin wurde kein überzeugender Wirksamkeitsnachweis erbracht. Die Studienlage zu Citalopram (eine Studie mit positivem, eine mit negativem Resultat) ist nicht eindeutig. Fluoxetin, Sertralin und Citalopram weisen nach der Metaanalyse der FDA die niedrigsten relativen Suizidalitätsrisiken auf (4). Bei der Behandlung mit SSRI ist wie bei anderen Antidepressiva mit einer Wirklatenz von etwa zwei Wochen zu rechnen. Einzelne Symptome des depressiven Syndroms können unterschiedlich schnell auf die Therapie ansprechen.
Während der ersten Behandlungswochen kann besonders bei gehemmt-depressiven Patienten der Antrieb gesteigert sein, ohne dass die Stimmung bereits ausreichend aufgehellt ist. Dies birgt das vorübergehende Risiko erhöhter Suizidalität. Das Phänomen ist nicht spezifisch für SSRI, sondern der Pharmakotherapie von Depression generell eigen. Darüber hinaus ist unklar, ob Suizidalität unter dem Einfluss eines SSRI bei Kindern und Jugendlichen neu entstehen kann. Dieses Risiko scheint klein, aber real (3). Auch wenn nicht generell ein erhöhtes Suizidrisiko unter SSRI angenommen werden muss, treten offenbar doch in seltenen Einzelfällen psychomotorisch-erregende Nebenwirkungen auf. Diese entsprechen gelegentlich dem Bild einer Akathisie, können aber auch zu als Ich-fremd erlebten dranghaft suizidalen Impulsen führen (1).
Kombinierte Psycho- und Pharmakotherapie
Untersuchungen über die differenzielle Wirksamkeit von kombinierten pharmakotherapeutischen und psychotherapeutischen Behandlungen bei depressiven Kindern und Jugendlichen lagen lange nicht vor. Wegweisend sind nun kürzlich veröffentlichte Ergebnisse (8). Im Unterschied zu den meisten Depressionsstudien, in die suizidale Patienten nicht aufgenommen wurden, repräsentieren die hier behandelten Patienten das ganze in der klinischen Praxis auftretende Spektrum depressiver Störungen. Verglichen wurde die Wirksamkeit einer zwölfwöchigen Behandlung mit dem SSRI Fluoxetin, die Kombination von kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und Fluoxetin, KVT alleine sowie Placebo. Die Ansprechraten betrugen 71 Prozent für die Kombinationsbehandlung, 61 Prozent für Fluoxetin allein, 43 Prozent für KVT alleine und 35 Prozent für Placebo. Im Hinblick auf die depressive Symptomatik ist somit die Kombinationsbehandlung aus KVT und SSRI am wirksamsten, gefolgt von der SSRI-Behandlung; KVT alleine war Placebo nicht überlegen.
Schlussfolgerungen
Unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (1) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (5) ergeben sich folgende Überlegungen: Bei Kindern und Jugendlichen mit leichten und mittelschweren depressiven Episoden stellen psychotherapeutische Behandlungsansätze, insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie, die Therapie der Wahl dar. Schwere depressive Störungen erfordern darüber hinaus die Kombination mit einer psychopharmakologischen Behandlung. Es besteht ein günstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis für Fluoxetin und Sertralin, und das Suizidalitätsrisiko dieser Substanzen scheint gegenüber Placebo nicht erhöht. Ihr Einsatz in der Behandlung depressiver Kinder und Jugendlicher ist derzeit verantwortbar und sinnvoll. Patienten, die bereits erfolgreich mit einem SSRI behandelt werden, sollten diese Therapie nicht abrupt beenden. Mit Eltern und Patienten ist über mögliche Warnhinweise auf Suizidalität sowie ein Sicherheitsmanagement zu sprechen. Insbesondere in den ersten Behandlungswochen und bei Dosissteigerungen ist neben anderen Nebenwirkungen auf das Auftreten dranghafter suizidaler Gedanken, Unruhe, erhöhte Reizbarkeit, Aggressivität, Angstzustände und Schlaflosigkeit zu achten und gegebenenfalls die Medikation unter entsprechender Kontrolle abzusetzen oder die Dosis zu reduzieren. Ob eine längerfristige antidepressive Behandlung suizidprophylaktisch wirkt, ist bisher nicht belegt. Bei depressiven und manisch-depressiven Erwachsenen reduziert eine langfristige Behandlung mit Lithiumsalzen dramatisch das Suizidrisiko (6). Diese Erkenntnisse sind aber nicht auf das Kindes- und Jugendalter generalisierbar; entsprechende Untersuchungen sind daher dringend notwendig. Angesichts der ethischen Probleme der Forschung an Kindern sollten an klinischen Studien beteiligte Institutionen darauf verpflichtet werden, unabhängig vom Ergebnis ihre Daten zeitnah zu publizieren. Zudem sollten Unternehmen nachdrücklich aufgefordert werden, für beispielsweise in den USA zur Behandlung Minderjähriger zugelassene Medikamente auch in Deutschland eine Zulassung zu beantragen, um den Off-Label-Gebrauch zu reduzieren und dadurch für Patienten, Eltern und die Behandler mehr Klarheit zu schaffen.

Manuskript eingereicht: 11. 8. 2004, revidierte Fassung angenommen: 17. 1. 2005

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Literatur
1. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: SSRI und Suizidalität? Dtsch Arztebl 2004; 101: A 2642 [Heft 39]. Langfassung: www.aerzteblatt.de/plus3904
2. Birmaher B, Brent DA, Kolko D et al: Clinical outcome after short-term psychotherapy for adolescents with major depressive disorder. Arch Gen Psychiatry 2000; 57: 29–36.
3. Brent DA: Antidepressants and pediatric depression – the risk of doing nothing. N Engl J Med 2004; 351: 1598–1601.
4. FDA: Review and evaluation of clinical data. www. fda.gov/ohrms/dockets/ac/04/briefing/2004-4065b110-
TAB08-Hammads-Review.pdf
5. Fegert JM, Herpertz-Dahlmann B: Zur Problematik der Gabe von Selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) bei depressiven Kindern und Jugendlichen. Nervenarzt 2004; 75: 908–910.
6. Goodwin FK, Fireman B, Simon GE, Hunkeler EM, Lee J, Revicki D: Suicide risk in bipolar disorder during treatment with lithium and divalproex. JAMA 2003; 290: 1467–1473.
7. Hazell P, O’Connell D, Heathcote D, Henry D: Tricyclic drugs for depression in children and adolescents. The Cochrane Library, 2003; Issue 3.
8. March J, Silva S, Petrycki S et al.: Treatment for adolescents with depression study (TADS) team. Fluoxetine, cognitive-behavioral therapy, and their combination for adolescents with depression: Treatment for adolescents with depression study (TADS) randomized controlled trial. JAMA 2004; 292: 807–820.
9. Szegedi A, Kohnen R, Dienel A, Kieser M: Acute treatment of moderate to severe depression with hypericum extract WS 5570 (St John’s wort): randomised controlled double blind non-inferiority trial versus paroxetine. BMJ 2005; 330: 503–506.
10. Werneke U, Horn O, Taylor DM: How effective is St John’s wort? The evidence revisited. J Clin Psychiatry 2004; 65: 611–617.
11. Zito JM, Tobi H, de Jong-van den Berg LTW et al: Antidepressant Prevalence for Youths: A Multi-national Comparison. Br J Psychiatry (im Druck).

Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Martin Holtmann
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Deutschordenstraße 50, 60528 Frankfurt
E-Mail: holtmann@em.uni-frankfurt.de

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