VARIA: Feuilleton
Augenbewegungsforschung: Der gefesselte Blick


Vorläufige Versuchsanordnung
(Digitalkamera zur Aufzeichnung
der Blickbewegung ist auf
einem Fahrradhelm montiert)
Fotos: Martin Pötter
Wenn im Psychologischen Institut der Universität Freiburg Studenten mit verkabeltem Schädel und Kleinkameras vor den Augen 20 Minuten schweigend vor einem großformatigen Bild an der Wand sitzen, ist das kein Grund zur Besorgnis. Die Forschergruppe um Dr. Christoph Klein und Dr. Raphael Rosenberg vom Psychologischen und vom Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Freiburg wollen nur wissen, was sich im Auge des Betrachters abspielt, wenn er ein gemaltes Kunstwerk anschaut. Das kunsthistorische Neuland, das auch Psychologen Ersteinsichten verschafft, ist ein weites Feld.
Die erstmalige Erforschung der Zusammenhänge zwischen Augenbewegungen, ästhetischem Empfinden und Abspeicherung des Gesehenen im Gedächtnis begann im Febru-ar 2002 mit der Gründung ei-
ner interdisziplinären Arbeitsgruppe von Kunsthistorikern, Psychologen und Sozialwissenschaftlern der Universität Freiburg. Das Rektorat sponserte das Projekt mit einer „Anschubförderung“ in Höhe von 22 000 Euro.
Kunstwerke mit Augenbewegungen zu erläutern hat eine lange Tradition. Formulierungen vom gefesselten, gebannten, gesenkten, geführten oder gleitenden Blick sind typisch für die Nomenklatur von Bildbeschreibungen. Nur: Die unterschwellige Unterstellung einer fließenden Augenbewegung des Betrachters ist irreführend. Der französische Ophthalmologe Emile Javal entdeckte schon 1878, dass Augen ein Bild durch eine schnelle Folge von ruckartigen Bewegungen, so genannten Sakkaden (von französisch „saccade“ – Ruck), abtasten, um seinen Inhalt zu erfassen. Da setzt das Freiburger Forscherteam an. „126 Jahre später beschreiben Kunsthistoriker weiterhin Bilder anhand hypothetischer Augenbewegungen, ohne diese je empirisch untersucht zu haben.“
Grafische Darstellung aller Blickbahnen zwischen bestimmten
Bildpunkten, die im Verlauf der Betrachtung (17 Min. 9 Sek.) von
Bruegels Gemälde des Blindensturzes mindestens viermal und
bis zu 47-mal von einer Expertin wiederholt wurden. Die Versuchsperson
ist Studentin der Kunstgeschichte (Expertin).
Fotos: Forschungsgruppe Rosenberg/Klein
Anders als bei der Expertin (Abb. oben) wurde bei der Laiin (Abb. unten) keine einzige Blickbahn mehr als
siebenmal wiederholt. Die Struktur des Bildes wurde dabei offensichtlich nicht erkannt.
Grafische Darstellung aller Blickbahnen zwischen bestimmten
Bildpunkten, die im Verlauf der Betrachtung (20 Min. 10 Sek.)
von Bruegels Gemälde des Blindensturzes mindestens viermal
wiederholt wurden. Die Versuchsperson ist Studentin des Europalehramtes
(Laie).
Laien outeten sich durch die Angabe, noch nie im Leben ein Kunstwerk länger als fünf Minuten angeschaut zu haben. Während die „Profis“ im Wesentlichen Geisteswissenschaftler waren, kamen die „Kunstbanausen“ mehr aus der technischen, mathematisch-informatischen sowie aus der sportwissenschaftlichen Zunft.
Das Ergebnis überrascht nicht: Während die Exper-
ten das Wesentliche eines Gemäldes schon nach wenigen Sekunden und mit gezielten Blickbahnwiederholungen unter Kontrolle hatten, irrten Laien orientierungslos durch das Bild, erkannten keine Struktur und ließen ihren Blick häufig abschweifen; Interviews mit den Probanden nach der Bildbetrachtung bestätigten die digital aufgezeichneten „Blicksprünge“ der Minikameras vor den Augen.
Die Erkenntnisse des ersten Projektabschnitts bilden die Grundlage für weitere Forschungsvorhaben mit dem Ziel zu „wissen, was sich physiologisch wirklich abspielt“. So viel legen die Freiburger Wissenschaftler professionellen Kunstkritikern jetzt schon nah: „Die undifferenzierte Verwendung des Begriffs Blickbewegung ist zu vermeiden; es muss realisiert werden, dass Blicke nun mal nicht gleiten, sondern springen.“ Ulla Bettge
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