VARIA: Feuilleton
Wolfgang Petrick: Der Tod ist ein Meister


Ein Mandala des Narziss, androgyn, ein eigenartig faszinierendes Bildwerk von Wolfgang Petrick, abgebildet auf dem Faltblatt zu seiner Ausstellung im Jahr 2000 in der Berliner Akademie der Künste. Eine Vermännlichung der Mona Lisa, wie sie Marcel Duchamp 1919 mit einem simplen Schnurrbart vorgenommen hat.
Der rätselhafte Gesichtsausdruck lässt sich leicht erklären: Das Modell, 21 Jahre alt, hatte Hautunterblutungen mit kleineren Hautdurchtrennungen im Bereich des Gesichts, flächenhafte und punktförmige Unterblutungen beider Augenbindehäute, fleckförmige Unterblutungen und Einrisse in der Lippenschleimhaut, eine leicht gebogene und eine etwa dreieckige Hautvertrocknung an der linken Halsseite mit geringgradiger Unterblutung der Haut.
Abbild (oben) und Modell (links): „Glückskopf“, 1999, Collage/Computer-Simulation, als Vorlage diente das Opfer einer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang
S. Karger Basel/München verlegt, mit „Alleinauslieferungsrecht für alle Länder des nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes“. Ein international einzigartiges Standardwerk.
In der den 60er-Jahren zu kritischer figuraler Malerei in Westberlin aufbrechenden Maler-Generation der 20-/30-Jährigen hat sich das Gerücht von der Existenz dieses Atlas aus dem Osten schnell verbreitet: Der Sowieso malt nach Prokop, die Sowieso zeichnet nach Prokop. Einzelne Fotokopien verschiedener Seiten des Atlas, über die Mauer gelangt, kursierten, wurden wieder und wieder kopiert, bis zur Unkenntlichkeit. Die Spuren in der Bildenden Kunst sind vereinzelt, verwischt, nur bei wenigen Malern/Malerinnen zu belegen.
So bei Wolfgang Petrick, der schon als Meisterschüler der Berliner Kunsthochschule 1962/1963 mit provokativ-fratzenhaften Menschenbildern hervorgetreten war, lässt sich der Einfluss des „Weimann/ Prokop“ auf die Physiognomie seiner frühen Bildgestalten eindeutig nachweisen, zumindest nach 1965, nachdem er ein komplettes Exemplar des Atlas aus einem Kölner Antiquariat (!) erhalten hatte.
„Teufelsbälger, Schweinefratzen, ungeschlachte Ungeheuer . . . blecken die Zähne, Blut tropft“ hatten die Westberliner Kritiker bis dahin über seine Figuren geschrieben. Jetzt kamen die Wortmetaphern vom „verletzten“, „manipulierten“ Menschen auf.
Welche Irritation geht indes von einem vergleichsweise harmonischen Gemälde aus, das den harmlosen Titel trägt „Ein neues Spiel“ (1970). Heimkehrende Touristen, die vielleicht zu lange unter Wasser waren? Allzu lange! Die Gesichter, die Köpfe sind tot. Anders noch: sie sind zur Identifizierung „rekonstruiert“, „Leichentoilette bei erheblicher Fäulnis“.
Leichentoilette bei erheblicher Fäulnis, oben das Gemälde „Ein neues Spiel“, rechts der Modell-Kopf
Exempel hier nur noch eine Zeichnung von 1970 „Mann und Frau“, eine radikale, um nicht zu sagen: eine brutale Absage an Albrecht Dürers Proportionen-Traum vom „schönen Menschen“.
„Mann und Frau“, 1970, Zeichnung: Absage an den Traum vom schönen Menschen
Petrick ist dabei den antiken Begriffen von Wahrheit und Schönheit nahe, die Aufgabe des Malers nicht anders als die des Dichters begreifend, nämlich die Wahrheit zu verkünden, aus der erst die Schönheit erwächst, wie die alten Musen schon dem Hesiod erklärten (was Platon allerdings anders sah). Oder wie Friedrich von Schiller in einem Brief an Goethe (1797) klagte: „Möchte es doch einmal einer wagen, den Begriff und selbst das Wort Schönheit . . . aus dem Umlauf zu bringen, wie billig, die Wahrheit in ihrem vollständigsten Sinne an seine Stelle zu setzen“.
Petrick hat es gewagt, allein mit malerischen Mitteln seine Wahrheit unbeirrt zu verkünden, nach dem Motto des Lucas Moser aus der Frührenaissance: schri, kunst, schri!
Die 60er-Jahre in Westberlin – das waren besonders „laute“ Zeiten mit den grellsten Ereignissen nach dem letzten Weltkrieg: Die Selbst-Einmauerung der DDR, die Todesschüsse im Osten, die Isolation der belagerten Frontstadt Westberlin im Kalten Krieg, die Proteste und Krawalle der jüngeren Generation, Todesschüsse auch in Westberlin. Selbstverständlich drangen Eindrücke solcher Ereignisse in das Bewusstsein und Unterbewusstsein des malenden Petrick, der sich im Gegensatz zu vielen jungen Kollegen aber nie zu einseitiger „Gesellschafts“-Kritik hergab, sondern stets den Menschen kritisch darstellte.
Mit seinem Lebenswerk ist es ihm gelungen, seine Anti-Ästhetik, seine Schönheit durchzusetzen, nachdem die Bildende Kunst in den zwei Jahrhunderten nach Schillers Brief das „heile Schöne“ als Maßstab des ästhetischen Auftrags Schritt für Schritt aufgegeben hat.
DEEP ACTION ist eine Ausstellung betitelt, in der Werke Prof. Wolfgang Petricks mit Bildwerken von 25 seiner Meisterschüler von 1975 – seit er an der Berliner Kunsthochschule, der heutigen Universität der Künste, lehrt – bis 2005 zusammengefasst sind. Sie war kürzlich in Berlin zu sehen und geht dann weiter nach Korea und China – Ausdruck der internationalen Wertschätzung des Werkes wie des Künstlers und anregenden Lehrers. Ernst Roemer
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