THEMEN DER ZEIT
Kinder- und Jugendpsychiatrie: Zwischen Einsamkeit und Hoffnung


Selbstbildnis eines 17-jährigen Mädchens mit
der Diagnose Schizophrenie. Auffällig ist die
Gesichtsasymmetrie sowie das überdimensionale
rechte Auge, das beobachtet zu werden
und den Zwang, selbst beobachten zu müssen,
ausdrückt.
Leo Kanner, der Erstbeschreiber des frühkindlichen Autismus, hat in seinem Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie (1972) die historische Entwicklung der Bemühungen um Kinder wie folgt beschrieben: In der ersten Phase dachte man über Kinder nach, in der zweiten Phase arbeitete man an Kindern, in der dritten Phase arbeitete man für Kinder und in der vierten Phase arbeitet man mit Kindern. In diesem Sinn wurden Schüler aus mehreren Klassen der Schule für Kranke an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Universität Marburg gebeten, ihre Gedanken und Einfälle zum Thema „Wie erlebe ich meine Krankheit“ aufzuschreiben oder bildlich darzustellen. Es entstanden dabei hoch interessante und zugleich bewegende Zeichnungen und Aufzeichnungen, die um die Pole „Einsamkeit“ und „Hoffnung“ kreisen.
„Einsamkeit ist wie ein Vogel im Käfig, ein Pilger in der Wüste, ein Elefant in Deutschland, ein Sklave an der Kette, ein Bettler auf der Weide, eine Maus in der Kralle der Katze, ein Porsche in der Steinzeit, ein Ertrinkender im See, Jesus am Kreuz, ein einziger Fisch im Aquarium.“ Dies sind die Aufzeichnungen eines 13-Jährigen, die wegen einer Depression und Schulphobie stationär behandelt wurde.
Sie könnten aber ebenso von einem gesunden Kind stammen, denn Einsamkeit und Alleinsein sind keine seelischen Krankheiten, keine Krankheitssymptome, keine diagnostischen Begriffe und auch keine Störungsmuster, ebenso wie Trauer, Resignation oder Hoffnungs- und Heimatlosigkeit. Alle diese Begriffe sind Chiffren für zeitweilige Zustände und Befindlichkeiten des Menschen in allen Altersstufen, allen Lebensphasen, in Gesundheit und Krankheit. Einsamkeit ist ein Zustand, in dem der Mensch ganz auf sich geworfen ist. Er ist allein, oft bar jeder Zuwendung, er kann nicht aus sich heraus, es kann niemand zu ihm vordringen, und mag er auch die Sehnsucht haben, dass dies geschieht. Obwohl also Einsamkeit, Alleinsein oder auch Verlassenheit keinem diagnostischen Kategoriensystem angehören, ist jeder Arzt
mit ihnen befasst, im Rahmen klinischer Syndrome, aber auch bei Erkrankungen in der Umgebung seiner Patienten, bei Schicksalsschlägen (wie Scheidung der Eltern, Tod von Angehörigen), Naturkatastrophen oder Unfällen. Einsamkeit, Alleinsein und Verlassenheit haben sich meist entwickelt, wiewohl es auch eine Art primäre Einsamkeit gibt bei Menschen, die nie Zuwendung, Wärme und mitmenschliche Anteilnahme erfahren haben. In der Regel entstehen sie aber als Veränderung der Beziehungen eines Kindes oder auch eines Erwachsenen zu seiner Umgebung im Vergleich zur Situation vor dem Eintritt gravierender Lebensereignisse, die ein Kind tief greifend beeinflussen und seinem jungem Leben eine Wende geben, die manchmal als eine Wandlung seiner Persönlichkeit oder seines Wesens erlebt wird: Bislang nie beobachtete Ernsthaftigkeit, Rückzug, Traurigkeit und Trauer, Kontaktstörungen, Spiel- und Lernstörungen, Schlafstörungen, Einnässen, Leistungsangst, Trennungsangst, psychosomatische Symptome, wie Kopf- und Bauchschmerzen, können auftreten und stellen den Arzt vor diagnostische Probleme. Gleichzeitig ist er oft ratlos im Hinblick auf die zu ergreifenden Maßnahmen, denn eine psychiatrische Diagnose im engeren Sinn kann häufig nicht gestellt werden.
Anderes Erleben
Nicht immer stimmen die Beurteilung des Arztes und seines Patienten im Hinblick auf Einsamkeit und Alleinsein überein. So wirken manche autistischen Kinder auf jeden Beobachter isoliert, verlassen und grenzenlos einsam. Von einigen dieser Kinder, die sich sprachlich gut ausdrücken können, weiß man aber, dass sie dies anders erleben. Sie möchten für sich sein, sie sind mit der gegenständlichen Welt zufrieden und freuen sich am stereotypen Spielen mit rotierenden Gegenständen wie andere Kinder am ausgelassenen Spiel mit ihren Kameraden. Nun könnte man hier einwenden: Autistische Kinder sind primär so, es gibt keine biografischen Ereignisse, die für das So-Sein des autistischen Kindes verantwortlich sind. Dies ist zwar richtig, aber auch hier ist das Bild differenzierter, je näher man es betrachtet. Es gibt autistische Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene, die unter ihrer Abgeschiedenheit leiden und auch in der Lage sind, dies auszudrücken. So stellte ein junger Mann, der an einer autistischen Störung leidet, folgende Fragen: Warum kann ich beim Fernsehen nicht lachen wie andere, die denselben Film sehen? Warum verstehe ich die Witze nicht, über die andere lachen? Warum kann ich nicht mitweinen, wenn andere traurig sind?
Dramatische Selbstwertkrise
Wenn man an seelische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter denkt, so begegnen uns Einsamkeit und Alleinsein in vielfältigen Formen und Varianten, in denen Isolation, Verlassenheit und die Nichterreichbarkeit des anderen zum Grundthema des jungen Lebens geworden sind. Die Krankengeschichten und Schicksale erinnern an die jugendliche Einsamkeit und spätere Verse eines deutschen Dichters, der im Alter von 14 Jahren eine Adoleszentenkrise entwickelte, aus dem Internat weglief und die Nacht bei großer Kälte auf freiem Feld verbrachte, zwei Monate später einen Suizidversuch unternahm und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, in der er ein Vierteljahr verblieb. Die damalige Diagnose lautete: Melancholie (primäre Verrücktheit). In der Krankengeschichte findet sich kein Hinweis auf ein psychotisches Symptom, wohl aber Anzeichen einer dramatischen Selbstwertkrise, in deren Verlauf Gefühle der Einsamkeit und des Verlassenseins eine große Rolle spielten. In späteren Jahren schrieb er die Verse:
„Seltsam im Nebel zu wandern,
Leben heißt: einsam sein,
kein Mensch kennt den andern,
jeder ist allein.“
Hermann Hesse
Selbstbildnis desselben Mädchens. Es ist Ausdruck des Lebenswillens der Patientin,
die sich zugleich als Mörderin bezeichnet.
Befindlichkeitsschwankungen und Störungen allgemeiner Art gehören nicht in den Kompetenzbereich des Kinder- und Jugendpsychiaters und
-psychotherapeuten. In diesem Sinn führt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie in ihrer Denkschrift aus: „Eine allumfassende psychosoziale Versorgung, die jedes Befindens- und Verhaltensproblem von Kindern, Jugendlichen oder Familien beheben will, kann nicht Aufgabe der Kinder- und Jugendpsychiatrie sein. Sie ist weder durchführbar noch human, weil sie das Selbsthilfepotenzial der Betroffenen verkümmern lässt.“
Allgemeine Befindlichkeitsstörungen erfordern keine therapeutischen Interventionen, weil sie dem Selbsthilfepotenzial entgegenwirken. Sind Einsamkeit und Alleinsein aber Teil psychiatrischer Erkrankungen oder führen sie gar zu solchen, so gehört ihre Beeinflussung zweifelsohne zu den Aufgaben eines Arztes oder Psychotherapeuten. Dabei kann als Richtschnur gelten, dass Erlebens- und Verhaltensweisen dann als behandlungsbedürftige Erkrankungen angesehen werden sollten, wenn sie einen Heranwachsenden daran hindern, seine altersspezifischen Entwicklungsaufgaben wahrzunehmen. Die Frage stellt sich, in welcher Weise dies geschehen kann und vor allem, in welcher Weise Einsamkeit und Alleinsein mit anderen Merkmalen der jeweiligen Erkrankungen verquickt sind.
Dies soll am Beispiel der Schizophrenie des Kindes- und Jugendalters verdeutlicht werden. Bei dieser Erkrankung zeigt sich sehr deutlich, dass sich mit dem Ansprechen auf eine medikamentöse Behandlung die Symptomatik und die Befindlichkeit ändern: Kontaktarme und Zurückgezogene werden aufgeschlossener, die Ängste nehmen ab, die Halluzinationen und der Wahn verschwinden, der Betroffene erscheint wie befreit und kann verschiedene Formen der Distanzierung von seinem Krankheitsgeschehen aufweisen. Wir haben dies an einer Gruppe schizophren erkrankter Jugendlicher untersucht und dabei folgende Mechanismen gefunden: zeitliche Distanzierung: „Das war vor so langer Zeit, dass es mir nicht mehr wichtig ist“; Erinnerungsverlust oder Verdrängung: „Das weiß ich gar nicht mehr, ich will es auch nicht mehr wissen“; komplette Verneinung: „Das stimmt gar nicht, das ist nie so gewesen“; Verschiebung auf andere Personen: „Das war nicht bei mir so, dass war doch bei Sonja“. In diesen Formen der Distanzierung zeigt sich eine Gesundungstendenz, die auch im Rahmen der modernen stützenden Schizophreniebehandlung nicht weiter hinterfragt werden soll.
Die Erkenntnis, wonach durch eine medikamentöse Behandlung Befindlichkeiten und emotionale Zustände parallel zur Symptomatik beeinflusst werden, wirft die Frage auf, wie unabhängig oder auch wie abhängig diese Phänomene vom eigentlichen Krankheitsgeschehen sind. Denn in Verlängerung dieser Argumentation könnte man denken, es gibt vielleicht eines Tages Medikamente oder Hormone gegen die Einsamkeit, das Alleinsein, die Traurigkeit und die Verlassenheit. Dieser Gedanke ist nicht ganz abwegig, sofern ein Krankheitsgeschehen diese Befindlichkeiten umschließt, er ist komplett abwegig, wenn es um den Wunsch geht, Grundbefindlichkeiten des Menschseins medikamentös oder hormonell verändern zu wollen.
Es kann nicht nur um Einsamkeit und Alleinsein gehen, sondern auch darum, welche weiteren Kategorien des Menschseins mit ihnen in Verbindung stehen oder auch als Gegensatz gedacht werden können. Haben nicht Einsamkeit und Alleinsein auch den Kontext der Resignation und der Hoffnungslosigkeit, und muss man ihnen nicht die Kategorien der Möglichkeit und der Hoffnung entgegensetzen? In einer lesenswerten Analyse „Zur Problematik der Hoffnung in der Psychotherapie“ hat H. W. Janz (1968) darauf hingewiesen, dass das Thema Hoffnung immer noch „zu den weißen Flächen unseres Wissens von den Grundlagen der Psychotherapie“ gehöre. Auch bei Freud und Jung oder in den anthropologischen Richtungen der Psychotherapie (von Gebsattel, Binswanger, Frankl) ist das Thema Hoffnung nur angedeutet. Am ehesten findet man bei Viktor Frankl noch einen Ansatz.
Wege in die Zukunft
Psychotherapeutische Richtungen, die im Bewusstmachen ein Heilen sahen, müssen als überwunden angesehen werden. Das Entscheidende jeder Psychotherapie kommt erst nach dem Bewusstmachen, nämlich das Aufzeigen von Wegen, die in die Zukunft führen.
Auch die phänomenologisch orientierten Richtungen und die sich auf Heidegger stützende Daseinsanalyse erschöpft sich meist in der Analyse von pathologischen Daseinsmöglichkeiten, nicht Zukunftsmöglichkeiten. Mit Ernst Bloch gesprochen fehlt all diesen Richtungen das „Noch-Nicht“. Denn man kann den Menschen ebenso wie aus seinen Erlebnissen, die zur Vergangenheit zählen, auch von seinen Zukunftserwartungen her begreifen, von klaren, verbalisierbaren, aber auch von solchen, die im Dämmern des Noch-Nicht-Bewussten kaum formulierbar sich andeuten. Psychotherapie muss also auch immer mit der Kategorie des Möglichen arbeiten. Und damit nähert sie sich einem Problem, das viele Seiten hat. Bei einem Patienten muss man mühsam nach Resten von Möglichkeit und damit von Hoffnung suchen, man muss sie ihm entdecken, beim anderen muss man versuchen, die reichlich vorhandenen Zukunftserwartungen auf eine realistische Schicht herabzuschrauben, beim Dritten schließlich ergibt sich die Notwendigkeit, Hoffnung umlenken zu müssen. Und wenn man versucht, den Prozess der Psychotherapie als einen Lernprozess aufzufassen, dessen Wesen darin besteht, innerhalb eines Systems von Partnerrollen, das Selbstbild des Patienten so umzugestalten, dass er es akzeptieren kann, so wird in diesem Prozess das Noch-Nicht-Realisierte, das Zu-Erwartende, eine ebensolche Rolle spielen wie die Aufhellung der unbewussten Vergangenheit. Das psychische Wohlbefinden des Menschen hängt weitgehend davon ab, welche Hoffnungen und Erwartungen er noch hat.
„Rückblick auf die Krankheit“, ist der Titel,
den die Patientin diesem Bild gab. Es handelt
sich um dieselbe Patientin; das Bild entstand
22 Jahre später.
Fotos: Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universität Marburg
Letztlich hängt auch für den Psychotherapeuten die Befriedigung an seiner Aufgabe (manchmal auch der Erfolg) davon ab, ob er schon resigniert hat oder noch hoffen kann. Hoffnung bringt Zukunft in die Psychotherapie. Hoffnung als Glaube an den Fortschritt lässt vor bisher ungelösten wissenschaftlichen Fragestellungen nicht kapitulieren. Hoffnung und Möglichkeiten sind freilich Phänomene, die nur durch Introspektion zugänglich sind. Eine Depression zum Beispiel kann man von außen (verhaltensorientiert) als Erlahmen von Aktivität, Hemmung zentrifugaler Funktionen und anderem betrachten. Von innen, von der Erlebnisseite her, als Hoffnungslosigkeit. Beide Wege sind legitim und müssen gegangen werden; die Psychotherapie benutzt vorwiegend den zweiten. Deshalb ist sie auch so gut geeignet, nach Resten von Hoffnung und nach Möglichkeiten im Patienten und für den Patienten zu suchen, nach Hoffnung, wie sie im Gedicht einer 17-jährigen Patientin
mit Anorexia nervosa zum Ausdruck kommt, das auch diesen Titel trägt:
Hoffnung, Anfang.
Dunkel und Einsamkeit
und nur vor dem Fenster die Sonne.
Unerreichbar, denn den Weg hinaus
kann ich allein nicht finden.
Doch jetzt arbeite ich; baue Brücken und Leitern und finde zu mir
und zu anderen Menschen.
Immer mehr Sonne kann mich erreichen.
Irgendwann werde ich draußen stehen
direkt unter der Sonne
und unter den Sternen.
Dann hoffe ich
immer weiter zu bauen auf mich.
Und das Ende meiner Grenzen
einfach zu überschreiten.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2005; 102: A 1794–1798 [Heft 25]
Literatur
1. Bloch E: Das Prinzip Hoffnung. Band 1–3, Suhrkamp, Frankfurt, 1959.
2. Janz HW: Zur Problematik der Hoffnung in der Psychotherapie. Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie1968; 18: 121 ff.
3. Kanner L: Child Psychiatry. 4. Edition. Springfield/Illinois: C.C. Thomas Publisher 1972.
4. Remschmidt H: Progression und Regression. Ernst Bloch und die Tiefenpsychologie. Wege zum Menschen, 1970; 10/11: 386–401.
5. Schmidtke A, Häfner H: Die Vermittlung von Selbstmordmotivation und Selbstmordhandlung durch fiktive Modelle. Die Folgen der Fernsehserie „Tod eines Schülers“. Nervenarzt 1986; 57: 502–510.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
Philipps-Universität Marburg
Hans-Sachs-Straße 6
35039 Marburg
E-Mail: remschm@med.uni-marburg.de
Ganter, Pater Vinzenz B.
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