ArchivDeutsches Ärzteblatt28-29/2005Chlamydien – eine heimliche Epidemie unter Jugendlichen Prävalenzbeobachtung bei jungen Mädchen in Berlin

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Chlamydien – eine heimliche Epidemie unter Jugendlichen Prävalenzbeobachtung bei jungen Mädchen in Berlin

Gille, Gisela; Klapp, Christine; Diedrich, Klaus; Schäfer, Axel; Moter, Annette; Griesinger, Georg; Kirschner, Rolf

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LNSLNS Zusammenfassung
Aufgrund der Vorverlegung der Pubertät werden geschlechtsspezifische Triebimpulse sehr früh wach. Dass Liebe Nebenwirkungen mit weitreichenden gesundheitlichen Konsequenzen haben kann, gehört zu den tabuisierten Themen unserer Gesellschaft. In Deutschland ist die Prävalenz der häufigsten sexuell übertragbaren Krankheiten bei Jugendlichen unbekannt. Entsprechende Ergebnisse aus dem Ausland sind besorgniserregend und führten zu breit angelegten Aufklärungskampagnen und Screeningprogrammen. Die Autoren vermuteten, dass auch in Deutschland bereits eine heimliche Epidemie unter Jugendlichen besteht und präsentieren Ergebnisse einer orientierenden Beobachtungsstudie hinsichtlich der Prävalenz von Chlamydien. Die Berliner Ärztinnen der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V. (ÄGGF) haben im Jahr 2004 innerhalb von fünf Monaten Aufklärungsveranstaltungen in 92 Berliner Schulen durchgeführt, parallel dazu wurde Mädchen zwischen 14 und 21 Jahren mit ungeschütztem Geschlechtsverkehr in der Anamnese (n = 521) in 30 gynäkologischen Praxen ein kostenfreier PCR-Test auf Chlamydien angeboten. Die Prävalenz einer frischen Chlamydieninfektion stieg von 3,6 Prozent bei den bis 15-jährigen auf 10 Prozent bei den 17-jährigen Mädchen an und betrug bei den 19- bis 20-Jährigen 8 Prozent. Diese Ergebnisse sind hinsichtlich der reproduktiven Gesundheit der minderjährigen Mädchen (n = 266) von hoher präventiver Bedeutung und werden vor dem Hintergrund soziokultureller Daten reflektiert.

Schlüsselwörter: Chlamydieninfektion, Sexualmedizin, Prävention, Kondom, Prävalenzstudie

Summary
Chlamydia Infections – the Hidden
Epidemic of Adolescents?
As a consequence of the advanced pubertal develoment, sexual impulses emrege in rather young boys and girls, and the mean age at first intercourse is decreasing. Youngsters are unaware of the fact that love may bear health risks which may even derail their biography. In society, this is a tabooed issue. There is nothing on record in Germany about the prevalence of the most frequently occurring sexually transmitted diseases. Other countries have serious statistics resulting in comprehensive educational efforts and screening programs for the relevant age group. It was suspected that an unrecognized epidemic might yet exist in Germany. This preliminary prevalence study is focussing on infections with Chlamydia trachomatis. Within five months in 2004, women doctors, members of the Medical Association for the Promotion of Women's Health (ÄGGF ), carried out an educational campaign in 92 schools in Berlin. At the same time a PCR test was offered free of charge for girls aged 14 to 21 years who reported to have had unprotected intercourse (n = 521). The prevalence of a recent infection with Chlamydia trachomatis increased from 3.6 per cent of girls aged 15 to ten per cent in 17 years old girls. At age 19 to 20 eight per cent were infected. These findings are significant in view of the reproductive health of young women as well as in terms of prevention. The results for the very young girls (n = 266) are reported and discussed on the background of sociocultural factors.

Key words: chlamydia infection, sexual medicine, prevention, condom, prevalence study

Jugendliche kommen sehr früh in die Pubertät, das mittlere Menarchealter wird heute bei 12, 5 Jahren, der frühestnormale Zeitpunkt für die erste Regel mit neun Jahren angegeben. Aufgrund der hormonellen Situation und der Darstellung sexueller Inhalte in den Massenmedien werden geschlechtsspezifische Triebimpulse und eine diffuse sexuelle Neugier immer früher wach. Dies führt dazu, dass junge Mädchen immer früher mit Verabredungen, Küssen und Petting beginnen, jedes zehn-
te Mädchen von 14 Jahren und jedes vierte 15-jährige Mädchen hatte bereits Geschlechtsverkehr (2). Ausreichende Zeit, um die körperlichen Veränderungen psychosozial adäquat verarbeiten zu können, wird Jugendlichen also heute kaum mehr zugestanden. Eine brisante Mischung aus Halbwissen, mangelndem Selbstbewusstsein und unreifen Bewältigungsstrategien lässt Mädchen Vieles sehr früh ausprobieren: Folglich steigt die Zahl minderjähriger Schwangerer in Deutschland kontinuierlich, und es wird vermutet, dass sich sexuell übertragbare Krankheiten unter Jugendlichen parallel dazu ausbreiten. In Deutschland existieren keine amtlichen Zahlen, nach dem Infektionsschutzgesetz besteht seit dem 1. Januar 2001 nur noch für HIV und Syphilis eine Laborberichtspflicht an das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin. Das RKI hat dennoch die Ärzteschaft bei der epidemiologischen Erfassung nicht meldepflichtiger sexuell übertragbarer Krankheiten (STD) um Mithilfe bei der Forschung aufgerufen. Im Januar 2004 wurde die erste Auswertung veröffentlicht: Von 1 400 erfassten STD stand die Chlamydieninfektion an erster Stelle (3). Die Dunkelziffer wird aufgrund der gravierenden Untererfassung auf das Zehnfache geschätzt. Aus Schweden wird berichtet, dass dort die Chlamydieninfektion unter Jugendlichen zwischen 1994 und 2001 um 60 Prozent zugenommen haben (1), in den Niederlanden ist die Prävalenz zwischen 2000 und 2002 um 62 Prozent gestiegen (10).
Der durch das neue Infektionsschutzgesetz beabsichtigte Paradigmenwechsel von der Seuchenverfolgung hin zur allgemeinen Prävention kann aber nur so gut gelingen wie valide Zahlen zur Verbreitung der STD unter Jugendlichen in Deutschland existieren nach dem Motto: „Daten für Taten“.
Nur dadurch lassen sich die dringende Notwendigkeit von Präventionskampagnen und Screeningprogrammen als unverzichtbar für die reproduktive Gesundheit junger Menschen belegen und kann verhindert werden, dass die Prävention sexuell übertragbarer Infektionen weiterhin öffentlich kein Thema ist oder im Verdacht steht, der Durchsetzung einer restriktiven Sexualmoral Vorschub leisten zu wollen.
Chlamydia trachomatis
Chlamydia trachomatis (CT) ist in Europa und USA das häufigste sexuell
übertragene Bakterium mit einer wachsenden Zahl Infizierter und gilt als Hauptverursacher infektionsbedingter Sterilität. Die meisten Infizierten sind Mädchen und sehr junge Frauen, weil Chlamydien bevorzugt Oberflächen mit zylindrischem Schleimhautepithel besiedeln, die im Genitaltrakt insbesondere junger Mädchen in hohem Maße vorkommt. Nach Weström (9) ist Jugendlichkeit per se ein Risikofaktor für eine CT-Infektion, weil aufgrund der Östrogendominanz in den ersten fertilen Jahren einer jungen Frau neben einer ausgeprägten Portioektopie der Zervikalkanal für Mikroorganismen leicht passierbar ist, die Reifung der lokalen Immunabwehr im Genitaltrakt zunächst noch unvollständig und bei rauchenden Mädchen ohnehin vermindert ist. Zudem kann die Suszeptibilität für CT unter hormoneller Kontrazeption erhöht sein, die Prävalenz kann auf das Achtfache steigen (4). Die meisten Mädchen haben beim ersten Geschlechtsverkehr einen älteren Partner (8). Auch dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer CT-Infektion.
Eine signifikante Abhängigkeit der Prävalenz von Chlamydia trachomatis vom Alter der Frau wurde schon 1997 von Koch et al. (6) nachgewiesen, die für ledige Frauen im Alter von 20 bis 24 Jahren eine Prävalenz von acht Prozent und für 35- bis 39-Jährige eine Prävalenz von 2,5 Prozent angaben. Chlamydien sind obligat intrazellulär lebende Bakterien mit jahrelanger häufig asymptomatischer Persistenz, etwa 90 Prozent der Infizierten ahnen nichts von der Infektion.
Bei Mädchen und jungen Frauen beginnt eine Chlamydieninfektion zumeist mit einer Zervizitis, die lange oder überhaupt weitgehend asymptomatisch bleiben kann oder sich seltener durch gelblich-klebrigen Ausfluss verrät. Bei mindestens der Hälfte der Infizierten entwickelt sich aufsteigend eine Endometritis, die sich durch leichte Zwischenblutungen oder durch diskrete Unterbauchbeschwerden äußern kann – aber durchaus nicht muss. Im weiteren Verlauf kann sich die Entzündung bei anhaltender Symptomarmut auf die Eileiter ausbreiten, wo sie zu einer Verklebung und Zerstörung des Epithels führen kann.
Bis die Chlamydieninfektion klinisch relevant wird, vergehen in der Regel viele Jahre, und sie wird meistens erst dann bemerkt, wenn der Kinderwunsch in den Vordergrund tritt: Jede vierte bis fünfte Frau mit einer genitalen Chlamydieninfektion ist von einer nachfolgenden Sterilität betroffen (5). Sieben Prozent aller jungen Paare sind in Deutschland unfreiwillig steril, wobei in 30 bis 50 Prozent die Ursache in einer viele Jahre zurückliegenden Chlamydieninfektion liegt. Es wird vermutet, dass bereits heute 100 000 Frauen in Deutschland aufgrund einer durchlaufenen Chlamydieninfektion auf natürlichem Wege keine Kinder mehr bekommen können (7).
Als klassischer „Goldstandard“ der Chlamydiendiagnostik galt lange die Anzucht in der Zellkultur, die aber wegen ihrer mäßigen Sensitivität und ihres erheblichen technischen und logistischen Aufwands für die tägliche Praxis wenig geeignet ist. Der direkte Erregernachweis durch Immunfluoreszenz oder ELISA wird seit einigen Jahren zunehmend durch die Nukleinsäure-amplifikationstechniken (beispielsweise Polymerasekettenreaktion, Ligasekettenreaktion) abgelöst, die aufgrund ihrer hohen Sensitivität und Spezifität (etwa 90 beziehungsweise 98 Prozent) als neuer Goldstandard gelten.
Zur Therapie der frischen CT-Infektion eignen sich Doxycyclin 100 mg zweimal täglich über 10 Tage oder Azithromycin 1 000 mg als Einmalgabe. Immer ist der Partner in die Therapie einzubeziehen.
Prävalenzbeobachtung
Die Prävalenzbeobachtung zielt darauf:
- die Prävalenz von CT bei minderjährigen Mädchen zu erheben
- das Sexual- und Verhütungsverhalten minderjähriger Mädchen zu erfragen
- das Wissen minderjähriger Mädchen über CT-Infektionen zu verbessern.
Methode
Die Interventionsstudie wurde in Berliner Schulen von den Ärztinnen der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V. (ÄGGF) (verantwortlich für den Bereich Schule) und in den Praxen der im „Arbeitskreis Infektionen und Sexualität“ zusammengeschlossenen Berliner Gynäkologen durchgeführt (zuständig für den Bereich gynäkologische Praxis).
Setting Schule – Ein multizentrischer Ansatz wurde gewählt, um auch diejenigen jungen Mädchen gezielt aufzuklären und zu erreichen, die noch nicht in gynäkologischer Betreuung sind. Bei der Auswahl der Schulen berücksichtigten die Autoren, dass präventive Angebote die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen beachten sollten. In 92 Schulklassen wurden die Mädchen zu ihrem Wissen und ihren Vorstellungen befragt, und es wurden Informationen zu Chlamydia-trachomatis-Infektionen vermittelt. Ferner wurden die Mädchen über das Angebot eines Screeningtests informiert, ein eigens verfasstes Informationsblatt konnten diejenigen erhalten, die sich von dem Thema betroffen fühlten.
Setting gynäkologische Praxis – Schülerinnen, die die angebotenen Screeningmöglichkeiten nutzen wollten sowie jugendliche Patientinnen der an dieser Prävalenzbeobachtung beteiligten gynäkologischen Praxen, die nach der Lektüre des Informationsblattes eine Untersuchung erbaten, konnten am kostenfreien Screening auf eine Chlamydia-trachomatis-Infektion teilnehmen.
Instrumente
Bei Probandinnen, die das Screeningangebot nutzen wollten, wurde ein Zervixabstrich durchgeführt, der mit einem PCR-Test (Cobas Amplicor Roche) untersucht wurde. Angebotsbegleitend wurde zusätzlich ein zweiseitiger, anonymisierter Fragebogen eingesetzt sowie ein Informationsschreiben mit datenschutzrechtlichen Erklärungen ausgehändigt. Die Teilnahme erfolgte nach gründlicher Aufklärung freiwillig. Ausschlusskriterien waren Virginität sowie mangelhafte deutsche Sprachkenntnisse, die eine informierte Einwilligung verhindert hätten. Fragebogen und Laborergebnisse konnten über den Code zusammengebracht werden, der wiederum nur von den behandelnden Ärzten mit Namen und Adresse der Patientin oder Probandin verknüpft werden konnte, um eine Therapie zu ermöglichen.
Die schulische Intervention wurde mit der Senatsschulverwaltung Berlin abgesprochen, der zuständige Datenschutzbeauftragte stimmte der Prävalenzbeobachtung zu.
Es liegen 521 Abstriche und Fragebögen vor, für die Altersgruppe der minderjährigen Mädchen 266.
Ergebnisse
Infektionsprävalenzen bei Minderjährigen
6,4 Prozent (entspricht 5,4 Prozent gewichtet nach Alter) der untersuchten Minderjährigen waren mit CT infiziert. Durchschnittlich hatten sie seit 19 Monaten Geschlechtsverkehr (Expositionszeit), bevor die Chlamydien entdeckt wurden. Die Prävalenz stieg mit dem Alter an. Sie beginnt bei den unter 15-Jährigen mit 3,6 Prozent und betrug unter den 17-Jährigen bereits zehn Prozent (Grafik 1). Dabei gaben 75 Prozent der CT-positiven Mädchen an, keinerlei Beschwerden zu haben. Die anderen klagten über Beschwerden, die auf eine CT-Infektion hindeuteten (Unterleibsschmerzen), bei jungen Mädchen aber durchaus auch andere Ursachen haben können. Dabei wiesen Hauptschülerinnen und Befragte ohne Schulabschluss mit fast elf Prozent die höchsten Prävalenzen auf (Grafik 2).
Neben dem frühen Zeitpunkt des ersten Sexualverkehrs stieg die Infektionsprävalenz mit der Zahl der Sexualpartner kontinuierlich und erreichte bei mehr als zehn Sexualpartnern eine Prävalenz von 19 Prozent (Grafik 3).
Sozioepidemiologische Befragung
Verhütungs- und Schutzverhalten – Eine überwiegende Kondomnutzung lässt sich nur beim ersten Geschlechtsverkehr feststellen, insgesamt 65 Prozent der Befragten gaben an, Kondome benutzt zu haben. Die hohe Rate der Kondombenutzung zum Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehrs ist aber darauf zurückzuführen, dass die Einnahme der Pille zu diesem Zeitpunkt noch nicht etabliert ist. Kondome werden hier also primär zur Kontrazeption verwendet.
Etwa drei Viertel der befragten Mädchen erklärten, in den letzten sechs Monaten die Pille verwendet zu haben, beim letzten Geschlechtsverkehr waren dies circa zwei Drittel der Befragten. Etwas mehr als 20 Prozent der Mädchen hatten beim letzten Geschlechtsverkehr Kondome benutzt, und auch für die gesamten letzten sechs Monate gaben nur ungefähr 30 Prozent der Befragten an, Kondome benutzt zu haben.
Etwa 13 Prozent der Mädchen hatten beim ersten Geschlechtsverkehr gar nicht verhütet, beim letzten Mal waren es immer noch mehr als acht Prozent (Grafik 4). Nur 18 Prozent der Mädchen gaben an, regelmäßig Kondome zu verwenden. Bei diesen Mädchen war die CT-Prävalenz deutlich, wenn auch nicht signifikant, niedriger. 53 Prozent der
befragten Mädchen nutzten Kondome sehr unregelmäßig, 29 Prozent berichteten, nie Kondome zu benutzen. Die mehrheitlich unregelmäßige Kondombenutzung bedeutet in der Konsequenz, dass 51 Prozent der Befragten erklärten, durchaus schon einmal ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Lediglich fast die Hälfte der Befragten stimmen der Aussage zu, man sollte immer Kondome benutzen.
Auffallend ist die Diskrepanz zwischen dem durch die massenmediale Kondomwerbung erzeugten „coolen“ Image der Kondome ( nur 14 Prozent der Mädchen finden Sex mit Kondomen „uncool“) und der Tatsache, dass dieses Image allein für die Handlungsmotivation Jugendlicher offensichtlich nicht ausreicht. Etwa 50 Prozent der Mädchen finden Sexualverkehr „ohne“ toller als „mit“.
Diese Ergebnisse bestätigen, dass bei jungen Mädchen zwar ein relativ ausgeprägtes Bewusstsein für die Notwendigkeit verantwortungsvoller Kontrazeption mit der Pille existiert, dass aber das Schutzverhalten mit Kondomen völlig unzureichend ist.
Wissen über die Chlamydieninfektion – 83 Prozent der Befragten hatten vor der Lektüre der von den Autoren erstellten Informationsbroschüre noch nie etwas über Chlamydien gehört. Fast 90 Prozent wussten nichts über die Möglichkeit einer unentdeckten, persistierenden Infektion. 87 Prozent waren mögliche Folgen einer Infektion für die Fertilität unbekannt, und 94 Prozent wussten nichts über die hohe Verbreitung der Infektion auch bei Jugendlichen.
Der Grad des Nichtwissens unterschied sich hinsichtlich der Schularten nicht signifikant. Hauptschüler und Befragte ohne Schulabschluss wussten am wenigsten und hatten die höchste Prävalenz. Die Ergebnisse dieser Prävalenzbeobachtung bestätigen die Befürchtung, dass Jugendliche sich des Problems von STD nicht bewusst sind und dieses Thema deshalb wenig ernst nehmen.
Diskussion
Die Ergebnisse der vorliegenden Prävalenzstudie zeigen erstmals, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass auch in Deutschland bereits eine heimliche Epidemie unter Jugendlichen existiert, zumal die Prävalenz von Chlamydia trachomatis bei den untersuchten Patientinnen teilweise deutlich über der von Studien aus dem Ausland liegt. Die Chlamydieninfektion ist in Deutschland eine unbekannte Krankheit in dreifacher Weise:
- unbekannt als Krankheit
- unbekannt für die meisten bereits Infizierten aufgrund der Symptomarmut
- unbekannt auch im Sinne eines Defizits epidemiologischer Daten.
Zahlen zur zunehmenden Verbreitung von Chlamydien im Ausland
werden immer wieder publiziert. Auf die Resonanz darauf und auf Berichte über umfangreiche Aufklärungskampagnen für Jugendliche (beispielsweise in den Niederlanden), auf die Meldepflicht für Chlamydien (in Schweden) oder auf breit angelegte jährliche Screeningprogramme für Jugendliche (in USA) wird in Deutschland bisher nicht reagiert.
Sexuell übertragbare Krankheiten betreffen in vielfacher Hinsicht einen besonders sensiblen Aspekt menschlicher Existenz. Liegt hierin vielleicht der Grund, dass gerade staatliche Maßnahmen erheblich mehr von
moralischen Wertvorstellungen und Rücksichtnahmen geprägt sind als von der sicheren Erkenntnis evidenzbasierter Medizin? Warum wird in der Sexualpädagogik nicht deutlich genug darauf hingewiesen, dass Liebe Nebenwirkungen haben und Spaß ansteckend sein kann? Haben junge Menschen nicht ein Anrecht darauf, informiert umgehen zu lernen mit ihrem libidinösen und generativen Potenzial?
Seitens der Gesundheitspolitik wurde die Kondombenutzung in den Massenmedien über Jahre exklusiv für das Thema Aids reklamiert. Mit der „Mach’s mit“-Werbung zum Kondomgebrauch ist es gelungen, den Kondomen ein „cooles“ Image zu verpassen, das allein für junge Männer aber nicht wirklich handlungsmotivierend zu sein scheint oder in seiner Wirkung vielleicht auch verblasst. Vor allem zielt sie an der epidemiologischen Situation unter Jugendlichen in Deutschland vorbei, wenn 0,172 Prozent (213 Personen) der 13- bis 19-jährigen Mädchen in Berlin HIV-infiziert sind, aber 6,6 Prozent der gleichen Altersgruppe eine frische Chlamydieninfektion haben.
Die Ärztinnen der Arbeitsgruppe Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V. (ÄGGF) sind der übereinstimmenden Ansicht, dass vor dem Hintergrund einer möglichen Sterilität aufgrund einer Chlamydieninfektion Mädchen im höchsten Maß zum Kondomgebrauch zu motivieren sind. Der Kinderwunsch als eine vital erlebte Dimension von Weiblichsein, bedeutet für Mädchen eine wichtige und ganz konkrete Option für den Lebensentwurf. Der Verlust dieser Option wird von Mädchen engagierter reflektiert als eine mögliche HIV-Infektion.
Vor diesem Hintergrund sollten verlässliche bundesweite Daten erhoben werden. Ferner wird von gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern gefordert, dass eine kompetente ärztliche Aufklärung und Prävention
etabliert und die schulische Sexualerziehung durch evaluierte ärztliche Kompetenz (ÄGGF) flankiert wird. Noch zu definierenden jungen Risikopatientinnen müsste eine individuelle Beratung und Aufklärung in der Arztpraxis und Screeningsangebote mittels PCR angeboten werden. Darüber hinaus sollten die Zielgruppen durch jugendspezifische Medien über die Risiken aufgeklärt sowie STD in den Themenkatalog des Präventionsgesetzes aufgenommen werden.

Mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG).

Die PCR-Testkits wurden freundlicherweise von der Firma Roche Diagnostics zur Verfügung gestellt.

Manuskript eingereicht: 15. 11. 2004, revidierte Fassung angenommen: 18. 1. 2005

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2005; 102: A 2021–2025 [Heft 28–29]

Literatur
1. Abortions 2002: Official statistics of Sweden. The National Board of Health and Welfare. Centre for Epidemiology 2003. www.sos.se/eps/epceng.htm
2. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
(BzgA): Jugendsexualität. Wiederholungsbefragung von 14 – 17-Jährigen und ihren Eltern 2001; 48. www.bzga.de
3. Das STD-Sentinel des RKI – erste Ergebnisse. Epidemiologisches Bulletin des Robert-Koch-Instituts 2004; 1: 3.
4. Friese K, Schäfer A, Hof H: Infektionskrankheiten in Gynäkologie und Geburtshilfe. Berlin, Heidelberg: Springer 2003; 293.
5. Keck C, Clad A: Infektionen in der Reproduktionsmedizin. Gynäkologe 2004; 37; 607–617.
6. Koch J, Kirschner W, Schäfer A: Bestimmung der Prävalenz genitaler HPV- und Chlamydia-trachomatis-Infektionen in einem repräsentativen Querschnitt der weiblichen Normalbevölkerung in Berlin. Infektionsepidemiologische Forschung II/1997; 1–7.
7. Paavoonen J, W Eggert-Kruse: Chlamydia trachomatis: An impact on human reproduction. Hum Reprod Update 1999; 5: 433–447.
8. Short RV: Teaching safe sex in English schools. Lancet 2004; 364: 307.
9. Weström L: Ist die Pubertät an sich ein Risiko für sexuell übertragbare Erkrankungen? Korasion 1993; 14–15.
10. Zur Zunahme sexuell übertragbarer Infektionen in den Niederlanden. Epidemiologisches Bulletin des Robert Koch-Instituts 2003; 40; 325.

Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Gisela Gille
Ärztliche Gesellschaft zur
Gesundheitsförderung der Frau e.V.
Drögenkamp 1
21335 Lüneburg

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