THEMEN DER ZEIT
Regionale Gesundheitspolitik: Mittelhessen – Modellregion der Vernetzung


Martin Leimbeck: „Ich bin froh, dass sich die
hessische Kammer mit einem Weiterbildungs-
Curriculum Palliativmedizin und einem Fortbildungsangebot
für Arzthelferinnen diesem
Stiefkind des Gesundheitssystems widmet.“
Foto: Bernhard Eifrig
Region im Begriff, zu einer vorbildlichen Versorgungsregion zu werden. Modellinitiativen setzen sich durch.
Das Gesundheitswesen in Deutschland ist auch international deswegen hoch im Kurs, weil eine nahezu flächendeckende Versorgung mit ambulanten und stationären medizinischen sowie rehabilitativen und pflegerischen Leistungen garantiert ist. Allerdings gibt es in dünner besiedelten Regionen, vor allem in so genannten Flächenländern, teilweise noch Unterversorgung in einzelnen Fachgebieten und Versorgungsprobleme zumeist in der hausärztlich basierten Medizin sowie vor allem in der Notfallversorgung.
Um partielle und regionale Versorgungsmängel abzustellen, hatten die Kassenärztlichen Vereinigungen vor nahezu 30 Jahren damit begonnen, finanzielle Mittel für so genannte Sicherstellungsfonds bereitzustellen. Zudem gab es im Rahmen regionaler Gesundheitsförderungsprogramme Hilfen und Begünstigungen durch die Kommunen und Gebietskörperschaften, um vor allem die hausärztliche Versorgung in Flächenregionen sicherzustellen. Auch mit diesen Anreizen wurden Fortschritte erzielt und ein ärztliches Versorgungsnetz so dicht geknüpft wie kaum in einem vergleichbaren Industrieland. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass in dünner besiedelten Gebieten und auf dem flachen Lande, wie etwa in Mecklenburg-Vorpommern, in Rheinland-
Pfalz und in Nieder- sowie Nordbayern, Lücken bestehen. Dies trifft auch zum Teil auf Mittelhessen zu. Anlass für engagierte ärztliche Mandatsträger, initiativ zu werden und mit vereinten Kräften die Kooperation auch über die Sektorengrenzen mit anderen Fachberufen voranzubringen. Schwerpunkt- und landärztliche Gemeinschaftspraxen niedergelassener Ärzte wurden zu Modellversorgungseinrichtungen entwickelt – mit Vorbildfunktion. Auch wurden überregionale Hausärztenetze geknüpft – mit konsiliarärztlicher Kooperation mit Krankenhäusern, Tageskliniken und Spezialeinrichtungen, wie etwa geriatrischen Einrichtungen, Hospizen und semistationären Versorgungsträgern.
Auch in Nordhessen – im Raum Kassel bis hin zu den grenznahen Gebieten zum Freistaat Thüringen – entstanden Kooperations- und Qualitätssicherungsgemeinschaften, in Zusammenarbeit mit Fachärzten für Allgemeinmedizin, die Lehrbeauftragte an Professuren für Allgemeinmedizin sind.
Viele Initiativen griffen nach zäher Kärrnerarbeit von Initiatoren – wenn auch mit anfänglichen Startschwierigkeiten und Reibungsverlusten – ineinander. Freilich ist noch nicht alles perfekt und ausgereift; häufig fehlten die notwendigen Mittel und die erforderliche Unterstützung durch die Kostenträger (vor allem die Krankenkassen).
In einem Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt umriss Martin Leimbeck (47), seit 1987 in Braunfels in ei-ner landärztlichen Gemeinschaftspraxis niedergelassen und mit zwei weiteren Hausärzten konsiliarärztlich tätig, die aktuellen Probleme und Initiativen: Auch Mittelhessen und insbesondere die Region Lahn-Dill-Kreis droht in eine Unterversorgung bei den Hausärzten zu geraten. In ländlichen Gebieten arbeiteten viele Hausärzte rund um die Uhr und ohne eine angemessene Vergütung. Viele junge Ärzte seien nicht mehr bereit, sich unter diesen Bedingungen auf dem Land niederzulassen oder sich auch mit einer Zulage „aufs Land verschicken“ zu lassen. Alt eingesessene Praxisinhaber finden unter den derzeitig sich verschlechternden finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen häufig keinen Nachfolger mehr. Fast unlösbar sind die Probleme, wenn Landarztpraxen in existenzielle Schwierigkeiten geraten und auch die benachbarten Krankenhäuser infolge der Auswirkungen der jüngsten Gesundheitsreform kurz vor der Pleite stehen. Die Folge: Viele Arztpraxen müssen Zusatzaufgaben von den Krankenhäusern und Kliniken übernehmen – auch wegen der Arbeitsverdichtung in den Akutkrankenhäusern und einer finanzierungsbedingten Verlagerung von akutstationären Behandlungsmaßnahmen in die Praxen niedergelassener Ärzte.
Hospiz- und Palliativmedizin
Besondere Initiativen wurden – auch mit Unterstützung der Landesärztekammer – im Raum Wetzlar auf dem Gebiet der Hospiz- und Palliativmedizin unternommen: So verfügt beispielsweise Wetzlar über das erste mittelhessische Hospiz mit acht Betten und Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige. Getragen wird das Hospiz vom Hospizverein Lahn-Dill, einem Zusammenschluss von Diakonie, Caritas, Arbeiterwohlfahrt und Hospizverein Herborn. Kooperationspartner sind außerdem der Hospizverein Gießen, ein gemeinnütziger Förderverein, und die Universität Gießen. Förderer ist die Stiftung „Alte Menschen in Not“ des Lions Clubs. Das Haus benötigt eine Belegungsquote von 80 Prozent; ein großer Teil der Kosten wird durch den Kassenanteil gedeckt. Die aufzubringenden Eigenmittel der Gäste können über Stiftungen und Zuwendungen gefördert werden.
Die einbezogenen Hausärzte und eine interdisziplinäre Gruppe von Ärzten betreuen die Gäste; mit den Lahn-Dill-Kliniken wurde ein Kooperationsvertrag über den Einsatz und die Schulung zusätzlicher Pflegekräfte abgeschlossen.
Die ehrenamtliche ambulante Hospizarbeit einschließlich der Trauerbegleitung ist weltanschaulich und spirituell unabhängig und erfolgt nach vorangegangener Schulung. Zwei Hospizvereine werden vom Stephanus-Werk der Diakonie unterstützt. Dort ist allerdings nur eine hauptamtliche Kraft für Schulung und Koordination zuständig.
Ebenfalls ist für die ehrenamtlichen Mitarbeiter allenfalls eine Fahrtkostenerstattung möglich. Allerdings konnte das Problem einer Haftpflicht- und Unfallversicherung landesweit gelöst werden.
Martin Leimbeck, seit 2004 Vizepräsident der Landesärztekammer Hessen, Frankfurt/Main, beklagt, dass das Interesse an Palliativmedizin und Hospizbewegung noch viel zu gering in das Bewusstsein aller Bürger gedrungen sei. „So hat der Lahn-Dill-Kreis Schwierigkeiten, Informations-Flyer, Bürger- und Ärzteinformationen zu finanzieren und zu organisieren, zumal es sich bei fast allem Engagement um ehrenamtliche Nebentätigkeiten handelt.“
Die Landesärztekammer Hessen ist dabei, durch das jetzt installierte Weiterbildungscurriculum „Palliativmedizin“ und durch ein spezielles Fortbildungsangebot für Arzthelferinnen mit modular aufgebauten Kursen und Hospitationen dieses Mangelproblem anzugehen und sachgerechte Lösungen einzuleiten. Das seit einem Jahr bestehende stationäre Hospizangebot scheint auch nach Beurteilung von Fachleuten vor Ort, gemessen an der Belegungsquote, noch ausreichend zu sein. Offenbar wirkt sich hier, ebenso wie in den Senioren- und Pflegeheimen, die ökonomisch unschlagbare Konkurrenz der meist aus Polen und den baltischen Staaten stammenden Frauen aus, die Pflegebedürftige und Sterbende zu Hause begleiten.
Auffällig ist, dass in Mittelhessen der Hospizgedanke ganz auf der „Nicht-Professionalität“ basiert. Ehrenamtliche Mitarbeiter gehen nicht als professionell im Gesundheitswesen Tätige zu den Sterbenden und deren Angehörigen, sondern als „Menschen“. Die Schulung der Interessierten wird als eine „Bereicherung“, als ein „ungeheurer Gewinn“ und als „wohltuend“ empfunden. Eine Supervision findet unter Einschaltung von Experten statt. Ziel ist es, die Tabuisierung von Sterben und Trauer aufzubrechen. Besondere Aufmerksamkeit und Spezialinitiativen in Mittelhessen gelten auch der Notfallversorgung und dem ärztlichen Notfalldienst ebenso wie der Qualitätssicherung auf diesem Gebiet. Vielfach entwickeln die Initiatoren hoch gesteckte idealistische Ziele mit fast perfektionistischem Durchsetzungsdrang. Allerdings klafft noch häufig eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Martin Leimbeck erläuterte der Redaktion: Bundesweit einzigartig ist der Verein A.N.R. Lahn-Dill e.V., in dem sich in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre niedergelassene Ärzte, aber auch Krankenhausärzte zusammengefunden haben. Um die Probleme der Patienten von Anfang an auf adäquater Versorgungsebene zu lösen, wurde eine integrierte Zentrale Rettungsleitstelle des Lahn-Dill-Kreises gegründet, in der Rettungsdienste und Notarztdienste (Telefon-Nummern 1 12 und 1 92 22) mit dem vertragsärztlichen Notfalldienst kooperieren (nur eine kreisweite Notrufnummer 1 92 92).
Da Ärztinnen und Ärzte gleichberechtigt neben den Disponenten für Feuerwehr, Rettungsdienst, Technischem Hilfswerk, Notdiensten und Hausnotruf an demselben Einsatzleitrechner in einem Raum sitzen, kann die Kooperation schnellstmöglich erfolgen. In der Regel führt ein erfahrener und geschulter Arzt bei jedem Hilfe-Ersuchen die Erstabfrage durch; ein Evaluationsverfahren sichert die Qualität. Außerdem bieten die Landesärztekammer und die regionale Ärzteschaft Fortbildungsmaßnahmen an, die berufsbegleitend möglich sind.
Problematisch bezeichnet die Ärztekammer die Finanzierung des Projekts, deren Fortführung auf der Basis von Verträgen zwischen der KV Hessen, den Krankenkassen und Krankenkassenverbänden, dem Landkreis und dem A.N.R. ein ständiges Vabanque-Spiel mit unsicherem Ausgang ist, in dem die Ärzte als ehrenamtlich Tätige die deutlich schlechteren Karten haben. Leimbeck betonte: „Hier muss eine Professionalisierung der eingeschalteten Ärzte einsetzen, die durch die geänderten Rahmenbedingungen der ärztlichen Berufsausübung jetzt auch möglich ist.“
Sektorenübergreifende Kooperation
In Mittelhessen wurden auch Modellprojekte einer gezielten sektorenübergreifenden interdisziplinären Kooperation realisiert. Im Raum Wetzlar und im Lahn-Dill-Kreis wurde eine „Lenkungsgruppe“ gebildet, in der ambulante Pflege, Pflegeheim, Krankenhauspflege, Klinikärzte, Klinik-Controller, Apotheken, niedergelassene Ärzte und Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst vertreten sind, um gemeinsame Schnittstellen, wie zum Beispiel Entlassungen/Aufnahmen, Infektionen mit resistenten Erregern, das Beschwerdemanagement, Kommunikationsbrüche sowie Vernetzungsmängel gezielt zu verbessern.
Auch mit den jetzt zur Kooperation und ab 2006 zur Privatisierung verpflichteten mittelhessischen Universitätskliniken verfolgt die Ärzteschaft unterschiedliche Strategien: in Marburg unter anderem ein Projekt zur Entwicklung von „Clinical Pathways“, in Gießen unter anderem ein Projekt zur Vernetzung mit den benachbarten Krankenhäusern und Arztpraxen.
Daneben gibt es zahlreiche Initiativen, die Telemedizin zu verbessern. Allerdings müssten die Projekte sorgfältig vorbereitet, evaluiert und lokal sowie regional variiert werden, ehe sie in den Routine-Einsatz starten. Keinesfalls will die mittelhessische Ärzteschaft sich von der Politik oder den Krankenkassen unter Druck setzen lassen, denn man wolle sich nicht vorschnell in ein Massenexperiment bei der bundesweiten Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte begeben.
Dr. rer. pol. Harald Clade