MEDIZIN
Sexuell übertragbare Erkrankungen in Deutschland – die stille Epidemie
Sexual Transmitted Diseases – a Secret Epidemic
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Seit Einführung des Infektionsschutzgesetzes im Jahr 2001 sind von sexuell übertragbaren Erkrankungen (STD, „sexual transmitted diseases“) nur noch Syphilis und HIV meldepflichtig. Daher wurde ein Sentinel-System zur Ermittlung der Häufigkeit weiterer STD eingerichtet. Bei Erstdiagnose von Infektionen wie Chlamydien, Syphilis, Gonorrhoe und HIV wurden Daten von Gesundheitsämtern, Fachambulanzen und niedergelassenen Ärzte dokumentiert. Von November 2002 bis September 2004 wurden insgesamt 3 492 STD festgestellt, darunter 769 Chlamydien-, 573 Syphilis-, 526 Gonorrhoe- und 460 HIV-Infektionen. 50,5 Prozent der Patienten waren männlich; das mediane Alter betrug 31 Jahre. 21 Prozent der Männer und 43 Prozent der Frauen gaben an, bei anderen als ihren festen Partnern immer Kondome zu benutzen. Die Resultate der Sentinel-Erhebung weisen darauf hin, dass STD in Deutschland häufig vorkommen. Daher muss der Diagnostik und Prävention von STD mehr Aufmerksamkeit zukommen.
Schlüsselwörter: Sexualmedizin, Infektionsrisiko, Chlamydieninfektion, Epidemiologie, Sexualverhalten, HIV-Infektion
Summary
Sexual Transmitted Diseases – a Secret Epidemic
Since 2001, only syphilis and HIV are notifiable in Germany. A sentinel surveillance system has been set up to assess the occurrence of other sexually transmitted infections (STI). Data were collected for every newly diagnosed STI such as chlamydia, syphilis, gonorrhoea or HIV from local health offices, hospital-based STI clinics and private practitioners. From November 2002 to September 2004, a total of 3 492 STI have been reported, among them 769 chlamydia, 573 syphilis, 526 gonorrhoea and 460 HIV. 50.5 per cent of the patients were male; the median age was 31 years. Consistent condom use with casual partners was 21 per cent in male and 43 per cent in female STI patients. The results from the sentinel suggest that STI are common in Germany. More efforts are required for
diagnosis and prevention of STI.
Key words: sexual medicine, risk of infection, chlamydia infection, epidemiology, sexual behaviour, HIV-infection
Sexuell übertragbare Erkrankungen (STD, „sexual transmitted diseases“) stellen weltweit ein ernstzunehmendes Gesundheitsproblem dar. STD können zu chronischen Gesundheitsschäden wie Infertilität infolge von Chlamydien oder neurologischen Schäden infolge von Syphilis führen, mit erheblichen Einbußen in der Lebensqualität der Betroffenen und beträchtlichen Folgekosten für die Gesellschaft. In vielen europäischen Ländern, etwa in Großbritannien und Skandinavien ist seit Mitte der 1990er-Jahre eine Zunahme von STD zu beobachten (1, 7). Darüber hinaus gibt es Anzeichen dafür, dass sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch unter Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), zunehmend weniger Kondome benutzt werden (3). (Definition MSM: Der Begriff „Männer, die Sex mit Männern haben“, umfasst neben bi- und homosexuellen Männern auch die Gruppe von Männern, die ab und zu Sex mit Männern haben, sich aber selbst nicht als bi- oder homosexuell definieren würden).
Eine wichtige Voraussetzung für die verbesserte Prävention von STD und die medizinische Versorgung der Infizierten ist eine solide Datenbasis zur Häufigkeit der wichtigsten STD. Bis Ende 2000 waren Gonorrhoe, Syphilis, Granuloma inguinale und Lymphogranuloma venereum nach dem Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten meldepflichtig. Da man jedoch von einer erheblichen Untererfassung der STD durch die Meldepflicht ausging, unterliegen seit der Einführung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) im Januar 2001 nur noch der Nachweis der Syphilis- und der HIV-Infektion einer Labormeldepflicht. Ende 2002 wurde vom Robert Koch-Institut ein bundesweites Erfassungssystem für STD aufgebaut (2). Verschiedene Einrichtungen des Gesundheitswesens sollen dabei als Wachposten (Sentinels) dienen, um Daten zu den wichtigsten STD zu erheben. Ziele der Sentinel-Erhebung sind die Abschätzung der Häufigkeiten der wichtigsten STD, die Beschreibung der STD-Patienten nach demographischen Merkmalen, die Erkennung von epidemiologischen Trends und die Identifikation von besonders gefährdeten Gruppen und vom Risikoverhalten für verschiedene STD.
Methoden
Die Daten für die Sentinel-Erhebung wurden von verschiedenen Einrichtungen des Gesundheitswesens erfasst: STD/HIV-Beratungsstellen von Gesundheitsämtern, Fachambulanzen in Kliniken und Arztpraxen (Dermato-Venerologie, Gynäkologie, Urologie sowie HIV-Schwerpunktpraxen). An der Sentinel-Erhebung sind zurzeit insgesamt 233 Einrichtungen beteiligt: 59 Gesundheitsämter, 14 Fachambulanzen und 160 Praxen in 109 Städten.
Die folgenden Erkrankungen wurde unter Zuhilfenahme von Falldefinitionen berichtet: Chlamydien, Gonorrhoe, Syphilis, HIV (nur Erstdiagnose), Trichomonas, Hepatitis A/B (falls sexuell übertragen). Auch Urethritis unbekannter Ursache, und das Auftreten von „pelvic inflammatory disease“ (PID) sowie anogenitale Warzen (HPV) und Herpes genitalis wurden erfasst. (Definition PID: Vorhandensein der folgenden drei Kriterien: mukopurulente Cervicitis, Unterbauchschmerz oder Portioschiebeschmerz sowie zwei der folgenden Kriterien: BSG > 15 mm/h, Temperatur > 38,0 ° C oder tastbarer Adnextumor). Daten zu den beiden letzteren Erkrankungen, HPV und Herpes genitalis, werden nur in gesammelter Form monatlich beziehungsweise quartalsweise erhoben. Es wurden folgende Fragebögen eingesetzt: Im monatlichen (Gesundheitsämter und Fachambulanzen) beziehungsweise quartalsweisen Rhythmus gaben die Einrichtungen Auskunft über die
Gesamtzahl der Klienten, die wegen STD betreut oder auf STD untersucht wurden. Auf dem Diagnosebogen wurden die demographischen Merkmale, der mögliche Übertragungsweg, die STD-Anamnese und die Diagnose der Klienten, bei denen eine STD diagnostiziert wurde, eingetragen. Zusätzlich erhielt jeder Patient nach der Diagnose einen Fragebogen, in welchem nach dem möglichen Infektionsweg, dem sexuellen Verhalten, dem Bildungsstand sowie dem Migrationshintergrund gefragt wurde. Die Patientenbögen wurden in neun Sprachen übersetzt und den Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Nach einer Plausibilitätsprüfung erfolgte die deskriptive Analyse der Daten. Risikogruppen (Prostituierte, MSM) wurden mit anderen Patienten hinsichtlich ihres Verhaltens verglichen. Soweit möglich wurden zeitliche Trends erstellt. Die datenschutzrechtlichen Fragen der Erhebung wurden im Vorfeld mit dem Bundesbeauftragten und den Landesbeauftragten für Datenschutz abgestimmt. Die Daten wurden anonymisiert erhoben, daher ist eine Rückverfolgung zum Patienten nach Eingabe der Daten nicht möglich.
Ergebnisse
Zwischen dem 1. November 2002 und dem 30. September 2004 wurden nach den eingegangenen Quartals- und Monatsbögen insgesamt 141 773 Klienten betreut, davon waren 42,8 Prozent Männer (Stand: 21. 1. 2005). In Grafik 1 ist die Anzahl der dem Robert Koch-Institut berichteten STD-Patienten und die Anzahl der Chlamydien- und Syphilis-Fälle im gleichen Zeitraum dargestellt. Es wurde keine Zunahme der berichteten sexuell übertragbaren Erkrankungen in dem Beobachtungszeitraum festgestellt. Insgesamt erhielten die Autoren in diesem Zeitraum 3 140 Diagnosebögen mit 3 492 berichteten STD. Davon waren 769
(22 Prozent) Chlamydien, 573 (16,4 Prozent) Syphilis, 526 (15,1 Prozent) Gonorrhoe und 460 (13,2 Prozent) HIV-Erstdiagnosen (Grafik 2). Zusätzlich dazu sind durch die Monats- und Quartalsbögen 3 374 HPV- und 1 561 Herpes-genitalis-Diagnosen (Erstdiagnosen und Rezidive) dokumentiert worden.
Charakteristika der betroffenen Patienten
1 587 (50,5 Prozent) der Patienten waren Männer, der Altersmedian lag bei 31 Jahren (Spannbreite 13 bis 82 Jahre), die betroffenen Frauen waren jedoch signifikant jünger als die Männer (27 versus 34 Jahre, p < 0,001). Frauen zwischen 20 und 29 Jahren und Männer zwischen 30 und 49 Jahren waren am häufigsten vertreten. 47,3 Prozent der Patienten waren nichtdeutscher Herkunft, Frauen jedoch deutlich häufiger als Männer (68,1 Prozent versus 26,9 Prozent; p < 0,001). Ein Drogengebrauch (intravenös oder nichtintravenös) wurde von den meldenden Ärzten nur für 3,7 Prozent der Patienten angegeben. Der wahrscheinliche Infektionsweg der STD-Patienten ist in Tabelle 1 dargestellt.
Bei 26,3 Prozent der Patienten war bereits eine STD in der Vorgeschichte diagnostiziert worden. So war eine HIV-Infektion bei 18,5 Prozent der Männer und 0,5 Prozent der Frauen bereits bekannt gewesen. Unter den Syphilis-Patienten lag der Anteil der Personen mit bereits bekannter oder neu entdeckter HIV-Prävalenz bei 41,7 Prozent. Zusätzlich wurden bei 352 (11,2 Prozent) Personen zwei oder mehr STD gleichzeitig diagnostiziert. Bei 58 (10,1 Prozent) Personen, bei denen Syphilis festgestellt wurde, ist auch eine HIV-Infektion erstmals diagnostiziert worden. Hierbei handelte es sich bis auf eine Ausnahme um Männer, 83 Prozent davon waren MSM. Ebenfalls wurde bei 62 (11,8 Prozent) der Gonorrhoe-Patienten gleichzeitig eine Chlamydieninfektion festgestellt.
Sexuelles Verhalten
Bei 1 119 (35,6 Prozent) der Patienten konnten ergänzend zu dem Diagnosebogen zusätzliche Angaben über den Patientenfragebogen erhoben werden. Dabei waren die Patienten, die den Fragebogen beantworteten im Vergleich zu den „Nonrespondern“ signifikant häufiger männlichen Geschlechts (58,5 Prozent versus 46,1 Prozent) und deutscher Herkunft (54,5 Prozent versus 34,2 Prozent). 51,8 Prozent der Männer und 62,7 Prozent Frauen gaben an, beim vermutlichen Infektionsereignis keine Drogen konsumiert zu haben. Bei denen, die einen Drogenkonsum bejahten, spielten in 79,5 Prozent der Fälle Alkohol und in 15,8 Prozent Cannabis eine Rolle (Mehrfachantworten möglich). Männer gaben häufiger als Frauen an, Cannabis, Aufputschmittel oder Poppers konsumiert zu haben (Tabelle 2) (Definition „Poppers“: Ein Poppers ist eine in Fläschchen abgefüllte Flüssigkeit, die Amyl-/Blutylnitratverbindung enthält. Poppers sind besonders in der homosexuellen Szene als Potenzmittel verbreitet). Daten zum Kondomgebrauch mit festen und anderen Partnern sind in Tabelle 3 dargestellt. 21 Prozent der Männer und 43 Prozent der Frauen gaben an, bei anderen Partnern „immer“ Kondome zu benutzen.
Diskussion
STD sind nicht selten
Obwohl nur eine begrenzte Anzahl der Einrichtungen am STD-Sentinel beteiligt ist, wurde dem Robert Koch-Institut innerhalb von 23 Monaten seit der Einführung des STD-Sentinels eine erhebliche Zahl von STD übermittelt. Am häufigsten wurden HPV, Herpes genitalis und Chlamydieninfektionen festgestellt. Anhand der vorliegenden Daten kann zwar keine genaue Abschätzung der tatsächlichen Inzidenz der STD vorgenommen werden, häufig verlaufen jedoch STD, insbesondere Gonorrhoe- und Chlamydieninfektionen, asymptomatisch, sodass ein Arztbesuch erst gar nicht erfolgt. Darüber hinaus wird im ärztlichen Alltag auch bei vorhandenen Symptomen aus Kostengründen zu oft auf eine Labordiagnostik verzichtet. Daher ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl der Personen, die sich jährlich mit STD in Deutschland infizieren, um ein Vielfaches höher ist.
Eine Infektion kommt selten allein
Besorgniserregend ist, dass es für viele Betroffene, insbesondere Männer, nicht das erste Mal ist, dass eine STD bei ihnen diagnostiziert wird. Damit steigt die Gefahr für Folgeerkrankungen, insbesondere bei Chlamydien und Gonorrhoe (6). Gleichzeitig wurde bei mehr als elf Prozent der Patienten das gleichzeitige Vorliegen von mehr als einer sexuell übertragbaren Infektion festgestellt. Hiermit wird klar, dass immer die Möglichkeit einer Doppel- oder Mehrfachinfektion besteht und labordiagnostisch ausgeschlossen werden sollte. Auffällig war auch, dass ein hoher Anteil von Syphilis-Patienten bereits als HIV-positiv bekannt war. Mit dem gleichzeitigen Vorliegen einer Syphilis steigt jedoch die Gefahr einer HIV-Transmission erheblich, weil hohe Konzentrationen von HI-Viren in syphilitischen Primäraffekten vorhanden sein können (4).
Sexuelles Verhalten
Insgesamt war die Häufigkeit des Kondomgebrauchs bei den untersuchten STD-Patienten sehr unbefriedigend. Insbesondere Männer benutzten Kondome auch bei Sexualkontakten mit anderen als dem festen Partner nur selten. Abgesehen von der Impfung gegen Hepatitis B ist der konsequente Gebrauch von Kondomen jedoch die wichtigste Maßnahme zur Vorbeugung von STD. Gleichzeitig zeugt der höhere Gebrauch von Freizeitdrogen bei Männern, der zu einem Kontrollverlust und riskanten, sexuellen Verhalten führen kann, von einer Sorglosigkeit angesichts einer möglichen Ansteckung mit Gonorrhoe und Chlamydien, aber auch anderen STD wie HIV und Syphilis (5).
MSM, heterosexuelle Männer und Prostituierte nichtdeutscher Herkunft sind am meisten von STD betroffen. Obwohl diese Daten aus dem STD-Sentinel nicht repräsentativ für die Situation in ganz Deutschland sein können, sind diese Gruppen als besonders gefährdet anzusehen und sollten ein Ziel spezifischer Präventionsmaßnahmen sein. Hier hat sich jedoch gezeigt, dass die Ressourcen insbesondere auf regionaler oder lokaler Ebene nicht ausreichen, um bereits vorhandene Konzepte umzusetzen.
Um Folgekomplikationen und weitere Transmissionen zu verringern, empfehlen die Autoren daher, verstärkter als bisher im ärztlichen Praxis- und Klinikalltag auf sexuell übertragbare Infektionen zu achten und bei jeglichem Verdacht eine Labordiagnose durchzuführen. Dies gilt insbesondere für Chlamydieninfektionen, weil diese mit schweren Folgeerkrankungen wie Infertilität einhergehen können. Zusätzlich sollte Personen mit häufig wechselnden Partnern eine Hepatitis-B-Impfung angeraten werden. Die frühzeitige Diagnose und Therapie von STD verhindert nicht nur schwere Folgeerkrankungen der Betroffenen, sondern verringert auch das Infektionsrisiko ihrer Sexualpartner und ist daher eine wichtige Präventionsmaßnahme, um die Prävalenz und die weitere Verbreitung von STD in der Bevölkerung zu verringern.
Manuskript eingereicht: 9. 12. 2004, revidierte Fassung angenommen: 23. 2. 2005
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2005; 102: A 2400–2403 [Heft 36]
Literatur
1. Berglund T, Fredlund H, Giesecke J: Epidemiology of the reemergence of gonorrhea in Sweden. Sex Transm Dis 2001; 28: 111–114.
2. Bremer V: Das STD-Sentinel des RKI – erste Ergebnisse. Epidemiologisches Bulletin 2004; 1: 1–4.
3. BZgA-Studie „AIDS im öffentlichen Bewußtsein 2003“. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2003.
4. Fleming DT, Wasserheit JN: From epidemiological synergy to public health policy and practice: the contribution of other sexually transmitted diseases to sexual transmission of HIV infection. Sex Transm Infect 1999; 75: 3–17.
5. Koblin BA, Chesney MA, Husnik MJ et al.: High-risk behaviors among men who have sex with men in 6 US cities: baseline data from the EXPLORE Study. Am J Public Health 2003; 93: 926–932.
6. Land AJ, Evers JL: Chlamydia infection and subfertility. Best Practice & Research Obstetrics and Gynaecology 2002; 16: 901–912.
7. Nicoll A, Hamers FF: Are trends in HIV, gonorrhoea, and syphilis worsening in Western Europe? BMJ 2002; 324: 1324–1327.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Viviane Bremer, MPH
Abteilung Infektionsepidemiologie
Robert Koch-Institut Berlin
Seestraße 10, 13353 Berlin
E-Mail: BremerV@rki.de
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Tabelle 2
Tabelle 3
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