ArchivDeutsches Ärzteblatt PP10/2005Lambert Maria Wintersberger: Offenkundig verborgen

KUNST + PSYCHE

Lambert Maria Wintersberger: Offenkundig verborgen

Kraft, Hartmut

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS Das Bild eignet sich für eine Testfrage: Was ist auf diesem Bild dargestellt? Typische Assoziationen zu dem hier abgebildeten Gemälde reichen von Hut oder Helm bis zu Architekturfantasien. Viele Menschen haben Schwierigkeiten, das Motiv zu entschlüsseln – obwohl das klar strukturierte Bild doch nichts zu verbergen scheint. Zumeist ist die Entdeckung des Motivs mit einem Erschrecken, mit einem Zurückweichen des Kopfes verbunden.
Sollten Sie bis zu diesem Zeitpunkt das Motiv noch nicht enträtselt haben, so stellen Sie sich ihren ausgestreckten, nach oben weisenden Daumen vor – und schneiden ihn in Gedanken mit zwei horizontalen Schnitten in Scheiben. Derartig auf die eigene Körperlichkeit bezogen, wirkt das Bild wie eine monumentalisierte sadistische Darstellung. Aber ist es wirklich so, dass man hier mit einem brutalen Thema konfrontiert wird, das an Folter und Verstümmelung mahnt? Sieht man Blutgefäße, Blut, Haut oder Knochen? Handelt es sich um eine realistische Darstellung? Offensichtlich doch nicht, sonst wäre das Bildthema für viele Betrachter nicht so schwer zu entschlüsseln. Statt einem Blutrot sehen wir uns einem Nougatbraun gegenüber und sind mit einer stark ästhetisierenden, Nuancen der Farbgebung subtil auskostenden Malerei konfrontiert. Ohne Zweifel steht die genannte Verletzung eines Daumens zur Formalisierung und Maltechnik in einem starken Kontrast. Hinzu kommt, dass das mittlere Segment offensichtlich viel zu breit geraten ist und der hochgeklappte Daumennagel ganz und gar unwirklich einen freien Durchblick gewährt.
Was also bleibt? Handelt es sich wirklich um die Darstellung eines Akts der Folter oder des Sadismus? Oder handelt es sich lediglich um illusionäre Malerei, deren glatte Oberfläche eine Art „Subtext“ benötigt, um nicht in einen spielerischen, belanglosen und austauschbaren Ästhetizismus abzugleiten? Der Betrachter ist gefragt, welche dieser Sichtweisen -– oder auch eine ganz andere – er bevorzugt. Auch dies mag dann eine Art Testfrage sein. Hartmut Kraft

Biografie Lambert Maria Wintersberger
Geboren 1941 in München. 1961 bis 1964 Studium an der Accademia delle Belle Arti in Florenz. Ende der Sechzigerjahre entstanden collageartige Bilder mit stark vergrößerten Körperteilen, wobei die Bilder mit dem Daumen-Motiv am bekanntesten geworden sind. 1968 Burda-Preis in München. 1974 bis 1977 Lehrauftrag an der Kunstakademie in Düsseldorf. Lebt in Walbourg/ Frankreich.

Literatur
Wintersberger LM: Bilder 1965–1976. Kunstverein Braunschweig 1976.
Wintersberger LM: Porträts der letzten Jahre. Leopold-Hoesch-Museum, Düren 1978.

Kommentare

Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote