ArchivDeutsches Ärzteblatt47/2005Erfahrungsbericht: Der Arzt im Krankenbette

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Erfahrungsbericht: Der Arzt im Krankenbette

Schiffter, Roland

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Foto: laif
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Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit im Krankenhaus, „trotz Finanznot und Wirtschaftskrise“

Früher saß er bei den Visiten gern auf dem Bettrand der Kranken, um ihnen näher zu sein, besser zuhören zu können. So hat er manches Glück, aber auch viel Krankheitsleid und Todeselend erlebt, dieser Dr. R., der sportliche und immer gesunde, inzwischen pensionierte Chefarzt, der sich nun erstmals selbst mit brennenden Harnblasenschmerzen nachts in seinem Bette wälzt. Seit Tagen schluckt er ohne vorherige Harnuntersuchung ein Antibiotikum, was durchaus unvernünftig ist, bis es ihn endlich zu einem befreundeten Urologen treibt, der ihn gründlich untersucht. Eine Ursache wird freilich nicht gefunden, die Krankheitssymptome verschwinden. Er scheint geheilt.
Wenige Monate später, an einem Donnerstag, also kurz vor dem Wochenende, ereilt ihn noch einmal die ganz gleiche Malaise, ihn, der ansonsten niemals an Harnwegsinfekten gelitten hatte. Wiederum stopft er ein Antibiotikum in sich hinein, doch nun ohne Erfolg. Nächtelang wird er von anhaltenden bohrenden Unterleibsschmerzen gemartert. Das ist doch kein einfacher Harnwegsinfekt! Was geschieht hier? Zu Wochenbeginn findet der Urologe mit seinem Ultraschallgerät zwischen der Harnblase und dem Dickdarm (Sigma) des Dr. R. eine eigroße Geschwulst, die von hinten die Blasenkugel zu einer sichelförmigen Gestalt zusammendrängt. Angrenzende Blasen- und Darmwandanteile erscheinen aufgelockert und verdickt, in der Dickdarmwand stellen sich die typischen rundlichen kleinen Aussackungen, also die Strukturen einer Divertikulose, dar. Ein hinzugezogener Spezialist bestätigt und spezifiziert die Diagnose, die anschließende, mit einem Kontrastmittel verstärkte Computertomographie zeigt alle Details. Dr. R. ist erleichtert, es ist kein Krebs, sondern eine chronisch wiederkehrende Divertikulitis mit gedeckter Perforation der Darmwand und Mitbefall der Harnblasenwand.
Nach der freundlichen und vollständigen Aufklärung durch den Anästhesisten muss er noch ein mehrseitiges Papier unterschreiben, in dem versichert wird, dass lebensbedrohliche Komplikationen des notwendigen Eingriffs wie Herzstillstand, Verschluss der Atemwege durch Erbrochenes, Embolien ins Gehirn, allgemeines Organversagen und Zahnverlust sehr selten seien und dass nach der Operation auf Schüttelfrost, Lähmungen und Nackensteife zu achten wäre. Schließlich erklärt er etwas zögerlich und beklommen schriftlich sein Einverständnis damit, dass gegebenenfalls seine Leiche zur Sektion dem Pathologen zugeführt würde.
Bei der anschließenden Operation werden das chronisch-entzündlich veränderte Gewebe und der Darmabschnitt mit den alles verursachenden Divertikeln entfernt. Der Kranke wird auf die operative Intensivstation gebracht. Noch im Dämmern des Erwachens aus der Narkose stellt er erleichtert fest, dass kein künstlicher Darmausgang gelegt worden war. Ansonsten wimmelt an seinem Körper ein Gewirr von Plastikschläuchen herum: Einer führt aus dem Enddarm ins Freie und zu einem am Bettrand hängenden Beutel und ist im Bereich des Schließmuskels angenäht, sodass jede unglückliche Bewegung als peinliches Afterziepen spürbar wird. Der Harn entleert sich über einen Katheter, der „suprapubisch“ die Bauchwand durchbricht und ebenfalls hier mit einer Naht fixiert ist und in ein großes Plastikbehältnis mündet, das neben dem Stuhlbeutel baumelt.
Am linken Unterbauch wird durch die Bauchwand hindurch über einen weiteren Schlauch Sekret aus dem Wundgebiet in der Bauchhöhle nach außen geleitet. Ein vierter Schlauch, der aus der Haut des rechten Mittelbauchs herauskommt, hat wohl die gleiche Funktion. An der rechten Halsseite ist ein Schlauchsystem etabliert, das mit vier bis fünf kleinen Anschlusshähnen die ständige Infusion von Antibiotika, Opiaten, anderen Medikamenten sowie von Flüssigkeit und sämtlichen lebensnotwendigen Nahrungsstoffen in die große Halsvene hinein ermöglicht. Jegliche Zufuhr lebenserhaltender und gesundungsförderlicher Substanzen erfolgt über diesen „Zentralvenenkatheter“, jegliche Ausfuhr der Abfallprodukte des Körperstoffwechsels geschieht durch Plastikschläuche, alle wesentlichen Körperfunktionen sind der gewohnten persönlichen Regie des Dr. R. entzogen. Sein Wachbewusstsein und seine Sinne und die Denkfähigkeit sind durch Opiate umdämmert und gedämpft, er schläft immer wieder ein, und wenn er die Augen öffnet, sieht er eine große, runde, schwarz-weiße Bahnhofsuhr gegenüber an der kahlen kalkweißen Wand, die in zunehmendem Maße die quälende Eigenschaft entwickelt, mit ihren Zeigern nur unendlich zähflüssig langsam voranzukommen. In den Wachphasen martern ihn Wundschmerzen, Übelkeit, Ängste, zeitlos gedehnte Langeweile und die schwer erträgliche Gewissheit, in sämtlichen Lebensäußerungen, körperlich wie psychisch den ihn versorgenden Mitmenschen, biologischen Abläufen und der Umwelt ausgeliefert zu sein. Er trägt ein hinten offenes, hellblaues, kurzes Krankenhaushemdchen, sein Körper, hier insbesondere sein partiell des Haarkleides beraubter Unterleib, steht jederzeit allen Krankenschwestern, Pflegern, Ärztinnen und Ärzten zur Betrachtung, zum Betasten, zur Wundpflege und zu allerlei Manipulationen frei zur Verfügung.
Foto: laif
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Bedrängende Halluzinationen
Bei Schmerzen, Übelkeit oder Unruhe ermuntern ihn die Ärzte ohne Zögern und ungehemmt, „nach Bedarf“ einen weiteren Knopf zu betätigen, der unverzüglich für ihn eine Opiatschleuse öffnet, das heißt einen ordentlichen Schuss Dipidolor in sein Venensystem pumpt, der das Gehirn überschwemmt und in Sekundenschnelle ein wohlig strömendes Wärmegefühl im ganzen Körper, Schmerzlosigkeit und ein kritikloses, matt-heiteres Zufriedensein auslöst, das etwa eine Stunde anhält, aber eben jederzeit wiederholt werden kann. Sehr bald macht er eine merkwürdige und durchaus fantastische Entdeckung: Wenn er im Wachsein einfach einmal die Augen schließt, was er aus Müdigkeit immer wieder tun muss, erscheinen ganz unmittelbar und zuverlässig und in jedem Falle wunderliche bunte szenische Bilder vor seinen Augen, die er dabei sogleich als Halluzinationen erkennt und die beim Augenöffnen jeweils sofort verschwinden. Es sind anfangs vornehmlich feuerrote, dann blau-gelbe oder andersartig bunte alltägliche Szenerien oder auch kaleidoskopartige Wechselbilder, wie wir sie früher als Kinder in diesen mit bunten Glasscherben bestückten Pappröhren anschauten, in welche jetzt auch die realen Umgebungsgeräusche wie Türenschlagen oder Gespräche von Schwestern oder Pieptöne von irgendwelchen Geräten ganz selbstverständlich eingebunden sind. Dies war etwas nie Gekanntes, Unerhörtes und, weil aufgezwungen und ungewollt, auch Unheimliches. Er will das nicht mehr, weil es ihn zwanghaft überwältigt, und er beschließt, den Rauschknopf nicht mehr zu betätigen. Jetzt erfasst ihn aber plötzlich eine innere Unruhe, er schwitzt heftig bis hin zu klatschnassem Hemd und kalt klebrigem Bettzeug, wie bei einem Entzugssyndrom, und die bedrängenden Halluzinationen gehen unvermindert weiter, bei jedem auch nur flüchtigen oder beiläufigen Augenschluss. Erst nach Ablauf von etwa einem Tag werden sie blasser, unaufdringlicher, seltener und gehen allmählich in neblige Schwarz-Weiß-Bilder über, bis sie am folgenden Tage ganz verschwinden. Die Ärzte nehmen seine diesbezügliche Besorgnis in all ihrer Eile beiläufig zur Kenntnis, das könne schon mal sein, sei ganz harmlos, käme wohl schon von der Morphiumdusche. . .
Die drei Tage auf der Intensiv-Station behält Dr. R. ansonsten als eine Art von gottlosem Martyrium in Erinnerung. Dass ihm dabei zuweilen das Inferno aus Dante Alighieris Göttlicher Komödie oder gar die Höllenstrafen des Hieronymus Bosch einfallen, ist gewiss eine unzulässige Übertreibung, aber gleichviel, ihm war eben so zumute, und die Assoziationen drängten sich ungewollt so auf. Zu den beklemmenden subjektiven Wahrnehmungen und Erlebensweisen kamen noch äußere Umstände hinzu, die, wenngleich zum Teil vielleicht unvermeidlich, das Ganze doch durchaus auf die Spitze trieben: Ein fast 24 Stunden lang regellos, aber ständig sich in Ohren und Hirn des Dr. R. einhämmernder Lärm gab seinem Aufenthaltsort subjektiv das Gepräge einer lebhaft frequentierten Bahnhofshalle. Seine Zimmertür wurde unvorhersehbar und ohne Anklopfen unentwegt krachend geöffnet und ebenso krachend geschlossen, oder, noch öfter, offen gelassen. Schwestern oder Pfleger polterten stumm oder schwatzend herein und hinaus, um jeweils kurz auf die Krankenkurve zu schauen oder an den Infusionen zu manipulieren oder Blutdruck, Puls, Temperatur zu messen oder Sauerstoffsättigung des Blutes und Blutgase zu bestimmen oder auch, um einfach einen Blick umherzuwerfen und wortlos wieder zu verschwinden.
Kühle Professionalität
Durch die geschlossene oder offene Tür dröhnten die Alltagsgeräusche der Station wie das Klappern von Gerätschaften, Rufe und Stöhnen der anderen Kranken und die Stimmen der Schwestern kontinuierlich und hallend in sein Zimmer. Wenn er wollte, konnte er sämtliche Gespräche der Angestellten und Pflegekräfte Wort für Wort verstehen, was nicht immer unterhaltsam war. Den ganzen Tag über tönte regellos das helle Piepsen seiner Überwachungssysteme oder von einem aus den Nachbarzimmern. Vor seinem Fenster wurden mehrfach am Tage bis in die Dunkelheit hinein laut scheppernd irgendwelche metallenen Küchentransportwagen über altes Holperpflaster vorbeigezogen. Die angenehmen Flötentöne der in den Platanen singenden Amseln waren kein zureichender Ausgleich.
Schwestern und Ärzte waren ständig in drängender geschäftiger Eile, bewältigten ihre Aufgaben mit kühler, versierter Professionalität, manche ganz wortkarg, andere waren auch einmal in flüchtiger Freundlichkeit zu einem kurzen Wortwechsel bereit. Eine blasiert und oberinnendünkelhaft wirkende ältere Pflegeperson sprach mit Dr. R. nur dann, wenn sie an seinem Verhalten etwas zu kritisieren oder wenn sie etwas anzuordnen hatte, und tat dies stets mit gleich bleibend eiskalter abweisender Miene, zuweilen gewürzt mit schnippischen Nebenbemerkungen. Sie vermied es, wie alle anderen Pflegekräfte und Ärzte auch, sich bei seiner von ihr selbst organisierten Verlegung auf die Normalstation von ihm zu verabschieden. Dr. R. wurde in seinem Bett liegend kommentarlos und hastig mit seinen Utensilien beladen und stumm und grußlos einem Transportmann übergeben, der ihn zurückhaltend-freundlich und geschickt durch die kurvenreiche Strecke zur Station 37c bewegte.
Die ärztlichen Visiten waren stets kurz und bündig. „Na, wie geht’s, ich seh’ schon, ganz gut, na ja, dann geht’s ja. . .“ Flugs waren die Ärzte untereinander im eiligen Gespräch über die Laborwerte und Befunde des Dr. R., es mussten auch immerfort neue Ärzte über seine Krankheit stichwortartig aufgeklärt werden, Zeit für ein ärztliches Gespräch war nicht vorhanden, Fragen des Kranken wurden knapp und lapidar beantwortet, und schon hatte der kleine, durchaus wohlwollend lächelnde Schwarm das Krankenzimmer und den unglücklich-frustrierten Kranken wieder verlassen. Er blieb mit seinen seelischen Nöten, Ängsten und verknoteten und bedrängenden Gedankenketten allein und wartete sehnsüchtig auf die liebevolle Zuwendung, den tröstlichen Zuspruch und vor allem das offene, aufnahmebereite Ohr von Frau und Sohn, die um 17 Uhr täglich wie Sonnenaufgänge in seinem Zimmertürrahmen auftauchten.
Freilich wusste er sehr wohl aus seinem eigenen Berufsleben, dass Schwestern und Ärzte bis an die Grenze der Erschöpfung arbeiten und ihre Pflichten erfüllen, dass ihre Personalstellen immer knapper bemessen und immer unnachgiebiger mit immer neuen nichtmedizinischen Aufgaben überfrachtet werden und dass der medizinische und psychologische Raum der Krankenbehandlung in kaum noch verantwortbarer Weise zunehmend eingeengt wird. In Sonderheit auf Intensivstationen kommt es ja darauf an, akut und schnell Leben zu retten, rasch, zügig und professionell das für die Erhaltung von Leben und Gesundheit Notwendige zu vollziehen, aber ist es wirklich so, dass niemand mehr zwei oder drei Minuten Zeit findet, um die Nöte und Ängste der Kranken anzuhören und ihnen Zuversicht zuzusprechen? Sind das ärztliche Gespräch und das Gespräch zwischen Kranken und Pflegerinnen, dieser Kernbereich allen medizinischen Tuns, ganz unmöglich geworden? Welch eine Perspektive!
Erst auf der Normalstation fand Dr. R. Kraft und Muße, darüber genauer nachzugrübeln. Hier war es hell, freundlich, ruhig, es gab keine Bahnhofsuhr, sondern eine entspannende mediterrane Landschaft an der Wand und keine scheppernden Küchenwagen vor dem Fenster, man klopfte an, wenn man Einlass begehrte, und schloss danach leise die Tür. Die überwiegend liebenswürdigen oder auch zurückhaltend höflichen Schwestern und Stationsangestellten waren auch stets in ganz ähnlicher Eile und arbeiteten mit derselben Professionalität, aber sie fanden gleichwohl immer wieder ein paar Minuten Zeit für Gespräche über Alltägliches oder eben für Zuversicht fördernde Beratungen und tröstende Bemerkungen, etwa während des Bettenmachens oder beim Wechseln der Infusionsflaschen oder bei der Wundpflege.
Dr. R. kam die Idee, dass Krankenschwestern während der Ausbildung nicht so sehr eine aufgesetzte Kundenfreundlichkeit als Serviceleistung antrainiert, sondern die Empfehlung bekommen sollten, sich dem Kranken gegenüber so natürlich, offen-selbstverständlich und ungekünstelt freundlich zu verhalten wie irgend möglich und empathische Zuwendung, wohlwollendes Zuhören und Hoffnung vermittelnde Ermunterung einzuüben. Jedenfalls war es genau dies, wonach Dr. R. während seines Krankseins ein dringendes, aber kaum erfülltes Bedürfnis verspürte.
Währenddessen plagte sich Dr. R. weiter mit dem unsäglichen, aber zweifellos notwendigen Schlauch-Gewirr an seinem Körper herum, aber Tag für Tag wurde einer davon gezogen, zuerst der aus dem After, dieser angenähte Zwicker und Zwacker. Die natürlichen Ausscheidungsfunktionen kamen allmählich wieder in Gang und schrittweise unter seine eigene Regie. Das Wiederkehren des natürlichen Stuhlgangs wurde ihm fast zu einem leicht obszönen, aber doch sehr erlösenden Ereignis. Die Nahrungsaufnahme durch den Mund wurde vorsichtig mit Schleim und Brei begonnen und dann in Normalkost überführt, der Zentralvenenkatheter konnte gezogen werden, und alle Medikamente wurden abgesetzt. Welch eine Erleichterung, welch ein Wiedergewinn von Freiheit!
Verlassen des Bett-Kerkers
Die Ärzte der neuen Station wechselten täglich; Dr. R. hat in den sechs Tagen auf dieser Station nicht weniger als sechs jeweils für ihn zuständige Ärzte und Ärztinnen kennen gelernt. Die Visiten waren auch ziemlich kurz und bündig, aber etwas geruhsamer als auf der Intensivstation. Zweimal wurden sie bei ihm ganz ausgelassen, einmal aus ungeklärten Gründen, einmal, weil Dr. R. beim Eintreten der Ärzte gerade seine Zähne putzte. Er bestand dann allerdings energisch auf einer Aussprache mit einem kompetenten Arzt, sodass gegen Mittag der Oberarzt erschien und sehr geduldig, höflich, kollegial und auskunftsfreudig Rede und Antwort stand und die versäumte Morgenvisite damit erklärte, dass es nicht üblich sei, den Kranken beim Stuhlgang zu stören. Die Visite zwei Minuten später nachzuholen war wohl nicht möglich, weil dann schon das Operationsprogramm zu beginnen hatte. Der taubenschlagartige Wechsel der Stationsärzte hat auch seinen Grund in der knappen Stellenausstattung und der Tatsache, dass jeder Arzt, der nächtlichen Dienst zu versehen hatte, am anderen Morgen zur Erholung nach Hause gehen muss und jeweils durch einen anderen, meist nur schriftlich informierten Kollegen, ersetzt wird. Auch aus solchen Gründen ist es inzwischen praktisch unmöglich, als stationär Kranker zu einem Arzt ein persönliches Vertrauensverhältnis herzustellen und auf dieser Basis Gespräche zu führen. Nach Auskunft der Schwestern ist tagsüber in der Regel außerhalb von Visiten- oder Verbandszeiten kein Arzt auf der Station, der Arzt oder die Ärztin müssen jeweils telefonisch herbeigerufen werden und kommen dann, wenn sie abkömmlich sind. So kommt es auch, dass die umsichtigen Schwestern schon eigentlich den Ärzten vorbehaltene Tätigkeiten ausüben, wie etwa die sehr natürlich-sympathische Schwester A., die schon mal den Leib abtastet, ob er weich oder hart ist, und nach Darmgeräuschen lauscht, damit kein Darmverschluss übersehen wird.
Ein für Dr. R. geradezu dramatischer Akt war einen Tag vor der Entlassung das selbstständige Anziehen einer regulären männlichen Unterhose. Damit vollzog sich fast feierlich der endgültige und energische Entzug seines entblößten Unterleibs von den Betrachtungen durch zwar hilfreiche, aber eben fremde, ständig wechselnde Personen. Das vollständige Ankleiden und anschließende Ganzkörperbetrachten im Spiegel erlebte er sehr befriedigt wie die Wiedergeburt seiner zivilen Persönlichkeit, als das Wiederauftauchen seines seiner selbst bewussten autonomen Ichs. Endlich konnte er den Bett-Kerker verlassen und, wenn auch schlürfenden Schrittes, langsam und mit Ziepen und Spannen im Unterbauch ungefähr aufrechten Ganges das Zimmer verlassen und im Flur herumspazieren und dem hektischen Stationsbetrieb gelassen zuschauen. Dies auch noch den ständig herbeigesehnten Angehörigen, also Ehefrau und Sohn, vorführen zu können glich einem kleinen Triumph.
Schließlich durfte Dr. R. am elften postoperativen Tag mit noch baumelndem Harnkatheter, aber in sonst wieder freier Selbstbestimmung die Klinik verlassen. Der Heimweg, insbesondere das Einbiegen des Taxis in die vertraute, von blühenden Blumen gesäumte Straße und das Erblicken seines efeuumrankten und von Rosen umstellten Hauses, war dann der letzte Akt einer glücklichen Befreiung aus einem quälerischen Spuk, den er niemals für sich geahnt und niemals für wahrscheinlich gehalten hatte und der doch eine alltägliche Banalität und Normalität gewesen war, wie sie viele andere Menschen täglich erleben. Der Katheter und die restlichen Bauchnähte wurden ihm zwei Tage später ambulant entfernt. Es begann die rasche Erholung, und schon nach kurzer Zeit saß er wieder auf dem Fahrrad und genoss die Welt und das Leben.
Ist nun dieser Dr. R. ein besonders empfindliches, verletzliches Seelchen? Ein ängstlicher Hypochonder, der nichts aushält? Wohl eher nicht. Jeder leidet auf seine Weise, kann nur so oder so leiden, da gibt es keinen anzustrebenden Standard. Das Herausschneiden eines kleinen Stückchen Darms, das genau in der Mitte des Unterbauches gelegen war, kam ihm vor, als habe man ein Stück aus der Mitte seines vegetativen Ichs herausgetrennt. Der Entzug der persönlichen Verfügbarkeit über die selbstverständlichen, alltäglichen, animalischen Körperfunktionen, der zeitlos-chaotische, unstrukturierte Tag ohne die gewohnten Rituale von Frühstück, Mittagessen und Abendbrot im Kreise von lieben Menschen, der Lärm, die Bahnhofsuhr, die ungenügende Zuwendung der umgebenden Mitmenschen und die Schlaflosigkeit und körperlichen Beschwerden im Zustand der Einsamkeit inmitten hektischen Gewimmels, seine Weigerung, sich mit dem Krankenhausleben als Kranker zu identifizieren, all dies hatte seine psychischen Kräfte an den Rand der Dekompensation geführt. Und trotzdem, er hat es durchgestanden, und es war ihm eine tief greifende wichtige Lebenserfahrung, die er nun nicht mehr missen möchte, bei der er sehr viel gelernt hat und nach der er die Welt nun ein wenig anders, gewiss realistischer sieht, und die er zwar nicht ebenfalls durchzuleiden, aber doch irgendwie nachzuvollziehen jedem jungen Arzt empfehlen muss.
Fantasie und Wissenschaft
Dr. R. musste ziemlich alt werden, um diese Erfahrung mit der „anderen Seite“ des Medizinbetriebs machen zu müssen, und er schließt aus dem Erlebnis kategorisch, dass es auch im Zeitalter der Sparzwänge und der betriebswirtschaftlichen Vergewaltigung der Medizin, die den Kranken zum Kunden und das Krankenhaus zum Profit-Center degradieren will, noch Möglichkeiten gibt und geben muss, die seelischen Nöte der Kranken und ihr Bedürfnis nach empathischer Zuwendung zu befriedigen und auch so die Heilung zu befördern. Das Krankenhaus muss wieder menschlicher werden, trotz Finanznot und Wirtschaftskrise, hier sind Fantasie und Wissenschaft gefragt und nicht inhumaner blinder Rigorismus. Der Mensch ist kein Apparat und die Klinik kein Reparaturbetrieb. Wir haben alle eine Seele, was immer das auch sein mag, und sie bildet eine Einheit mit dem Körper, auf welche Weise auch immer. Sie bedarf des verständnisvollen Gesprächs, wie es Viktor von Weizsäcker mit seiner „anthropologischen Medizin“ schon vor vielen Jahrzehnten gefordert hat. Prof. Dr. med. Roland Schiffter

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