VARIA: Feuilleton
Schwierige anatomische Verhältnisse


Als gerade erblindete und „frisch gebackene“ Ärztin waren meine Aufgaben im psychiatrischen Krankenhaus vielfältig: Absprachen mit dem gesamten Team über Patienten, organisatorische Besprechungen, Visiten, Einzelgespräche mit den Patienten, ihren Angehörigen; die Schreiben von Kollegen oder Verwaltungsbriefe ließ ich mir vorlesen; Krankengeschichten über den Genesungsprozess der Patienten fasste ich selbst ins Unreine auf meinem blindenspezifischen PC ab, ebenso wie Arztbriefe.
In meiner anfänglichen Euphorie hatte ich geglaubt, dass eine körperliche Untersuchung doch ganz einfach sein müsse: um die Leber tasten zu können, braucht man nicht zu sehen, die Herztöne sieht man nicht, sondern hört sie. Aber weit gefehlt! Es ist doch ungemein wichtig, wo ich den Leberrand taste, die Qualität der Herztöne hängt von dem präzisen Auffinden des Ortes ab. Und jeder Körper ist anders aufgebaut, hat andere Proportionen. Nachdem ich dies für mich registriert hatte, überließ ich erst einmal die körperlichen Untersuchungen meinen Kollegen.
Kleine Kniffe
Allmählich pirschte ich mich konzentriert an die schwierige Aufgabe heran. Ich lernte bei Untersuchungen einzelner Organe so manchen kleinen Kniff, um mir leicht und schnell zur notwendigen Orientierung zu verhelfen. Dabei wollte ich den Patienten nicht unnötig durch viel Manipulieren an seinem Körper oder durch zu viel körperliche Nähe verunsichern.
Nach über einem Jahr Arbeit traute ich es mir dann zu, selber eine körperliche Untersuchung vorzunehmen. Zu Zeiten von übermäßiger Arbeitsbelastung gab ich dies aber weiterhin regelmäßig ab, zum Beispiel zu Urlaubszeiten. Das besondere Verhältnis zwischen mir als Ärztin und dem Patienten, das durch die Situation einer Untersuchung durch mich entstand mit der Möglichkeit eines weiteren Austausches, wog zu hektischen Zeiten die große Konzentration dabei mit nachfolgender größerer Vergesslichkeit für mich nicht auf. So konnte es geschehen, dass vertraute Patienten trotz mehrfacher Klinikaufenthalte noch nie von mir körperlich untersucht worden waren.
Mit Frau T. muss es wohl so gewesen sein. Sie hatte Ascites. Die Erstuntersuchung hatte eine Kollegin an einem hektischen Tag vorgenommen. Heute war es wieder ruhiger. Frau T. ging es noch nicht gut. Ich wollte sie nachuntersuchen und bat sie, sich bis auf die Unterhose auszukleiden und sich aufs Bett zu legen. Frau T. schien sehr erschrocken, Sie hatte es noch nie erlebt, dass Frau Doktor selber untersuchte. War es denn so schlimm? Dies oder Ähnliches muss wohl in ihrem armen kranken Kopf herumgegeistert sein.
Keine runde Hüften
Aufgeregt nestelte sie an ihrer Kleidung. Ich döste vor mich hin, horchte auf die Gesänge der Vögel vor dem Fenster – wie schön wäre es jetzt ohne Arbeit, auf meiner Terrasse zu Hause. Frau T. schien fertig. Ich setzte mich neben sie auf die Bettkante und begann, wie gewohnt, mich durch wenige Griffe rechts und links am Körper zu orientieren.
Da, verflogen war alle Routine, ich wurde hellwach! Etwas stimmte nicht! Ich fand keine runden Hüften, keine Taille, bekam nicht das typische Hüftgelenk zu spüren, Rippen schien es bei Frau T. auch nicht zu geben. Ich überlegte fieberhaft: Ich konnte mich von früheren Aufenthalten her nicht an extreme anatomische Anomalien erinnern! Ich hielt einen Moment inne. Frau T. wurde allmählich kalt. Sie schien auch nicht mehr zu atmen. Sie war sehr krank, ja aber nicht sterbenskrank! Oder doch?
Da tönte es vom Fußende her: „Frau Doktor, ich muss auch mindestens einmal pro Stunde Wasser lassen, das ist so lästig.“ Ich war erlöst! Des Rätsels Lösung erscheint mir noch heute kaum vorstellbar: Frau T. hatte sich einerseits durch die leichte Verwirrtheit und andrerseits durch die Aufregung über meine Untersuchung verkehrt herum ins Bett gelegt: die Füße ruhten leicht erhöht auf dem Kopfkissen, der Kopf lag zur Tür hin. Ich drehte mich ein wenig und tastete nun den Bauch von der rechten Körperseite her ab statt der fachmännisch im Studium gelehrten linken.
Den Thorax hatte ich ja aufrecht abhören wollen. Was ein Glück, dass ich nicht zuerst mit dem Patellareflex der Beine begonnen hatte. Eine Horrorvorstellung, die mich veranlasste, ab sofort vor meinem ersten Handgriff dem Patienten stets einige belanglose Worte zu entlocken.
Dr. med. Cordula von Brandis-Stiehl
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