POLITIK
Ambulante Versorgung psychisch Kranker: Grundversorgung gefährdet


Psychische Erkrankungen nehmen zu: Inzwischen sind sie der häufigste Grund für Berufs- oder Erwerbsunfähigskeitsrenten und ansteigende Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage. Gerade vor diesem Hintergrund sei es „katastrophal“, dass eine angemessene psychiatrisch-psychotherapeutische Grundversorgung für Patienten mit schweren psychischen Störungen nicht mehr gewährleistet sei, kritisierte Prof. Dr. med. Mathias Berger, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) anlässlich des – mit rund 5 000 Teilnehmern gut besuchten – Jahreskongresses der Fachgesellschaft in Berlin.
Ein Grund hierfür liegt seiner Meinung nach in der geringen Zahl von niedergelassenen Fachärzten, die eine „pharmako-, sozio- und psychotherapeutische Komplexversorgung“ vornehmen könnten: Rund 5 000 Nervenärzte und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sind niedergelassen und behandeln im Jahr nach Angaben der DGPPN rund vier Millionen Patienten. Ein solcher Facharzt versorge heute rund 16 500 Einwohner, in den neuen Bundesländern etwa 25 000. „Angemessen wäre ein Facharzt auf je 6 000 Einwohner angesichts der Zunahme psychischer Erkrankungen“, erklärt der Direktor der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Eine konsequente Weiterbehandlung nach einem Klinikaufenthalt sei heute vielerorts kaum mehr möglich.
Eine adäquate ambulante Versorgung wäre gerade vor dem Hintergrund der Ziele der Psychiatrieenquete von 1975 umso wichtiger. Die Forderung „ambulant vor stationär“ ist weitgehend umgesetzt worden: Seit 1975 wurden mehr als 50 Prozent der Betten in Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie abgebaut. Die Verweildauer sank im Durchschnitt von 230 auf 23 Tage. „Dies geschah ohne den gleichzeitigen Transfer von Ressourcen in den ambulanten Bereich“, kritisiert Berger.
Beliebtes Fach
An der ambulanten Versorgung erwachsener psychisch Kranker nehmen neben den Nervenärzten und den Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie 3 600 ärztliche Psychotherapeuten und 12 250 Psychologische Psychotherapeuten teil (Bundesarztregister der KBV, 2003). Diese behandeln hauptsächlich mit „Richtlinien-Psychotherapie“, das heißt, ein Patient erhält im Regelfall innerhalb eines von der Therapiemethode abhängigen Behandlungskontingents 50-minütige Sitzungen mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie, Psychoanalyse oder Tiefenpsychologie. „Psychotherapie nach den Richtlinien ist für Patienten mit Psychosen, schweren Depressionen oder Suchterkrankungen häufig aber gar nicht indiziert oder im Akutstadium nicht anwendbar“, erklärt Dr. med. Christa Roth-Sackenheim, niedergelassen in Andernach und ärztliche Geschäftsführerin der DGPPN. Diese Patienten seien auf die psychopharmakologischen Kompetenzen und das sozialpsychiatrische Fachwissen der Nervenärzte und Psychiater angewiesen.
Um die rund 4 000 Weiterbildungsassistenten im Fach Psychiatrie und Psychotherapie – das Fach ist beliebt – nach der Facharztprüfung zur Niederlassung zu bewegen, ist nach Überzeugung von Roth-Sackenheim eine bessere Honorierung erforderlich: 40 Euro pro Quartal und Patient stehen auch nach der letzten Reform des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes zur Verfügung. Dies erlaube theoretisch zwei Kontakte im Quartal. „Viel zu wenig“, betont Berger. „Um Patienten mit schweren psychischen Störungen gewissenhaft zu behandeln, muss man sie im Akutfall wöchentlich, später mindestens zweimal im Monat sehen.“ Um die Honorierung aufzubessern, würden inzwischen auch viele Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie verstärkt Richtlinien-Psychotherapie durchführen, die nach mehreren Bundessozialgerichtsurteilen zu einem gestützten, nicht floatenden Punktwert vergütet wird. Dadurch reduziere sich die Zahl der von ihnen behandelten Patienten wiederum auf ein Zehntel, kritisiert Berger.
Daneben sind auch die Niederlassungsmöglichkeiten für junge Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sehr eingeschränkt: 87 Prozent aller Planungsbereiche sind gesperrt (KBV, Anfang 2005). Gleichzeitig sind jedoch für Fachärzte für Psychotherapeutische Medizin noch rund 50 Prozent aller Planungsbereiche offen, das heißt, 1 913 Kassenarztsitze für diese Gruppe können nicht besetzt werden. Diese relativ hohe Zahl liegt an der in der Bedarfsplanung verankerten Mindestquote von 40 Prozent ärztlicher Psychotherapeuten, die der Gesetzgeber als eine Art Bestandsschutz gegenüber den Psychologischen Psychotherapeuten festgeschrieben hat (§ 101 Abs. 4 SGB V). Die DGPPN wünscht sich eine flexiblere Bedarfsplanung dahingehend, dass die freien Kassenarztsitze auch von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie besetzt werden könnten. Petra Bühring
Grafik: Versorgungsdichte mit Vertragsnervenärzten
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