MEDIZIN: Editorial
Prävention von Stürzen und Frakturen bei älteren Menschen: Vitamin-D- und Calciumsupplementation sind wirksam
;


Frakturprophylaxe“ berichtete das Deutsche Ärzteblatt in Heft 25 vom 24. Juni 2005 über zwei britische Studien, in denen keine Wirksamkeit einer Vitamin-D- und Calciumsupplementation auf Sturz- und Frakturrisiko nachgewiesen wurde (1, 2). Grant et al. (1) unterteilten 5 292 über 70-jährige Frauen und Männer in vier Gruppen, die entweder 1 000 mg Calcium, 800 I.E. Vitamin D3, 1 000 mg Calcium und 800 I.E. Vitamin D3 pro Tag oder Placebo erhielten. Nach einer Behandlungsdauer von 24 Monaten ergab sich zwischen den Gruppen kein Unterschied bezüglich der Häufigkeit von Frakturen oder Stürzen. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass in diese Arbeit nur Patienten nach der ersten gering traumatischen Fraktur eingeschlossen wurden und die Stürze im Verlauf nur alle vier Monate mit einer Frage erfasst wurden: „Sind Sie in der letzten Woche gestürzt?“ Hieran wird deutlich, dass die ausschließliche Supplementation von Vitamin D und Calcium zur Sekundärprävention von Frakturen bei möglicherweise bestehender Osteoporose unzureichend ist und aufgrund mangelnder Dokumentation möglicherweise zahlreiche Stürze nicht erfasst wurden.
In der zweiten Studie von Porthouse et al. (2) erhielten 3 314 Frauen über 70 Jahre entweder 800 I.E. Vitamin D3 und 1 000 mg Calcium pro Tag oder ein Informationsblatt zur nutritiven Calciumzufuhr und Sturzprophylaxe. Nach zwei Jahren wurde den Teilnehmerinnen ein Fragebogen zugesandt, den 69 Prozent der Adressaten beantworteten. Nur die Informationen aus diesem Fragebogen wurden zur Studienauswertung herangezogen, die keine Unterschiede im Hinblick auf Stürze und Frakturen ergab. Auch diese Studie hat damit methodische Mängel, weil Stürze über einen längeren Zeitraum nur durch Tagebücher mit regelmäßiger telefonischer Erinnerung (5, 8) oder kontinuierlicher Betreuung (3, 4, 6) zuverlässig erfasst werden können.
Beleg für Wirksamkeit
Beginnend mit den Arbeiten von Chapuy et al. 1992 (3) und Dawson-Hughes et al. 1997 (4) hat die Supplementation von Vitamin D und Calcium zur Primärprävention von nicht vertebralen Frakturen beim älteren Menschen eine neue Bedeutung erlangt. In beiden prospektiven, placebokontrollierten Doppelblindstudien (RCT, „randomized controlled trial“) wiesen die Wissenschaftler nach, dass durch eine Supplementation von 800 I.E. Vitamin D3 und 1 200 mg Calcium pro Tag sowohl das Risiko für Schenkelhalsfrakturen bei über 80-jährigen Altenheimbewohnerinnen (3) als auch durch die Gabe von 700 I.E. Vitamin D3 und 500 mg Calcium pro Tag das Risiko für andere nicht vertebrale Frakturen bei über 65-jährigen sich selbst versorgenden Frauen und Männern (4) signifikant gesenkt werden kann. Dabei wurden in der ersten Studie unter 877 Teilnehmerinnen der Verumgruppe 21 Schenkelhalsfrakturen (2,4 Prozent) beobachtet, wohingegen in der Kontrollgruppe bei 888 Teilnehmerinnen sich 37 Frakturen ereigneten (4,2 Prozent). Dies entspricht einer relativen Risikoreduktion (RRR) von 43 Prozent, einer absoluten Risikoreduktion (ARR) von 1,8 Prozent und einer „number needed to treat“ (NNT) von 56. Für die zweite Studie zur Verminderung nicht vertebraler Frakturen bei 389 über 65-jährigen Männern und Frauen betragen die entsprechenden Werte für RRR 54 Prozent und für ARR 7,0 Prozent. Dies ergibt eine NNT von 14.
Die Wirkung der Supplementation wurde von beiden Autorengruppen zunächst auf eine Verbesserung oder den Erhalt der Knochenqualität durch Vitamin D und Calcium zurückgeführt. Allerdings war in der zweitgenannten Studie der Einfluss der dreijährigen Behandlung auf die Knochendichte am proximalen Femur mit + 0,50 ± 4,80 und auf die Wirbelsäule mit + 2,12 ± 4,06 Prozent eher gering, und in der Untersuchung von Chapuy und Mitarbeitern trat der Effekt bereits nach 18 Monaten auf. Für eventuelle Veränderungen der Knochenqualität ist damit der Zeitraum möglicherweise zu kurz.
Hinweise auf andere Wirkungsweisen ergaben sich durch die Veröffentlichung des RCT von Pfeifer et al. 2000 (5). Sie demonstrierten, dass durch eine achtwöchige Behandlung mit 800 I.E. Vitamin D3 und 1 200 mg Calcium täglich das Sturzrisiko nach einem Jahr signifikant vermindert wurde (RRR: 46 Prozent; ARR: 20,5 Prozent; NNT: 5). Es wurden 148 ambulant betreute, sich selbst versorgende, über 70-jährige Frauen untersucht, die einen verminderten 25-Hydroxy-Vitamin-D3-Spiegel im Serum (< 50 nmol/L) aufwiesen. Zusätzlich verminderten sich die Körperschwankung („body sway“) signifikant um 9 Prozent. Erklärt wurde dieser Effekt mit einer verbesserten neuromuskulären Koordination durch die Gabe von Vitamin D und Calcium (5).
Drei Jahre später bestätigten Bischoff et al. in einer RCT diese Ergebnisse bei im Durchschnitt 85-jährigen Patientinnen einer stationären, geriatrischen Langzeitabteilung (6). Während der dreimonatigen Behandlung, ebenfalls mit 800 I.E. Vitamin D3 und 1 200 mg Calcium täglich, konnte die Sturzrate verringert (RRR: 56 Prozent; ARR: 51,3 Prozent; NNT: 2), Muskelfunktion (Kraft im M. quadriceps femoris) und „Timed up & go Test“ (ohne Benutzung der Arme sich von einem Stuhl erheben, 3 m gehen, umdrehen und wieder setzen) signifikant verbessert werden. Dabei profitierten die Patientinnen mit einem sehr niedrigen 25-Hydroxy-Vitamin-D3-Spiegel im Serum (< 30 nmol/l) besonders deutlich.
Fazit
Welche Folgerungen können aus diesen Untersuchungen gezogen werden? Eine erste bevölkerungsbezogene Studie zu diesem Thema, an der die Einwohner der dänischen Stadt Randers teilnahmen, veröffentlichten 2004 Larsen et al. (7). Hierbei wurden alle 9 605 Einwohner über 66 Jahre, die sich noch selbst versorgen konnten, entweder drei Jahre lang mit 400 I.E. Vitamin D3 und 1 000 mg Calcium täglich behandelt oder erhielten eine Schulung zum Gesundheitsverhalten und zur Sturzvermeidung. Nichtvertebrale Frakturen waren bei den 3 834 teilnehmenden Männern in der Verum- und der Kontrollgruppe gleich häufig. Bei den 5 771 teilnehmenden Frauen hingegen sank das Risiko für nichtvertebrale Frakturen signifikant (RRR: 22 Prozent; ARR: 2,4 Prozent; NNT: 41). Somit wurde erstmals bestätigt, dass eine Vitamin-D- und Calciumsupplementation zur Prävention von Frakturen bevölkerungsweit und unabhängig vom Vitamin-D-Status wirksam sein kann. Gleichwohl betrug der in einer kleinen Subgruppe bestimmte Serumspiegel für 25-Hydroxy-Vitamin-D3 in über 80 Prozent der Fälle weniger als 50 nmol/L (7).
Ebenfalls unabhängig vom basalen 25-Hydroxy-Vitamin-D3-Serumspiegel konnten Dukas et al. (8) durch die tägliche Gabe von 1 µg Alfacalcidol über neun Monate das Sturzrisiko bei 192 über 70-jährigen Männern und Frauen mit einer nutritiven Calciumaufnahme von über 512 mg pro Tag reduzieren (RRR: 38 Prozent; ARR: 10,4 Prozent; NNT: 10). Dieses Ergebnis wiesen Gallagher et al. prinzipiell auch bereits für Calcitriol nach (9).
Untersuchungen, in denen Vitamin D3 ohne Calcium in möglicherweise zu geringer Dosierung von 400 I.E. täglich (10) oder 100 000 I.E. alle vier Monate verabreicht wurde (10), änderten das Risiko nichtvertebraler Frakturen entweder nicht (11) oder nur minimal (12).
Bischoff-Ferrari et al. erstellten 2004 (11) eine erste Metaanalyse, in der sie den Einfluss von Vitamin D auf das Sturzrisiko bei älteren Menschen zusammenfassten. Basierend auf fünf RCTs (5, 6, 8, 9, 12) mit insgesamt 1 237 Studienteilnehmern verminderte Vitamin D das Sturzrisiko um 22 Prozent (95-Prozent-Konfidenzintervall [KI]: 0,64 bis 0,92). Aus der gemittelten Risikodifferenz errechnet sich eine NNT von 15 (95-Prozent-KI: 8 bis 53).
Dies ergibt für die Wirkung einer Vitamin-D- und Calciumsupplementation zur Primärprävention nichtvertebraler Frakturen eine Evidenzstärke Grad Ib und zur Sturzprävention eine Evidenzstärke Grad Ia, wobei die Wirkung bei älteren Frauen mit einem 25-Hydroxy-Vitamin-D3-Serumspiegels unter 50 nmol/L besonders gut dokumentiert ist. Acht positiven randomisierten kontrollierten Studien (3–8, 10, 12) stehen bisher drei negative gegenüber (1, 2, 9).
Manuskript eingereicht: 20. 7. 2005, revidierte Fassung angenommen: 3. 11. 2005
Prevention of falls and fractures in elderly persons– supplementation with vitamin D and calcium are efficacious
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2006; 103(3): A 116–7.
Literatur
1. Grant AM, Avenell A, Campbell MK et al.: Oral vitamin D3 and calcium for secondary prevention of low-trauma fractures in elderly people (Randomised evaluation of calcium or vitamin D, RECORD): a randomised placebo-controlled trial. Lancet 2005; 365: 1621–8.
2. Porthouse J, Cockayne S, King C et al.: Randomised controlled trial of calcium and supplementation with cholecalciferol (vitamin D3) for prevention of fractures in primary care. BMJ 2005; 330: 1003–9.
3. Chapuy MC, Arlot ME, Duboeuf F et al.: Vitamin D3 and calcium to prevent hip fractures in elderly women. N Engl J Med 1992; 327: 1637–42.
4. Dawson-Hughes B, Harris SS, Krall EA, Dallal GE: Effect of calcium and vitamin D supplementation on bone density in elderly men and women. N Engl J Med 1997; 337: 670–6.
5. Pfeifer M, Begerow B, Minne HW, Abrams C, Nachtigall D, Hansen C: Effects of a short-term vitamin D and calcium supplementation on body sway and secondary hyperparathyroidism in elderly women. J Bone Miner Res 2000; 15: 1113–8.
6. Bischoff HA, Stähelin HB, Dick W et al.: Effects of vitamin D and calcium supplementation on falls: a randomized trial. J Bone Miner Res 2003; 18: 343–51.
7. Larsen ER, Mosekilde L, Foldspang A: Vitamin D and calcium supplementation prevents osteoporotic fractures in elderly community dwelling residents: a pragmatic population-based 3-year intervention study. J Bone Miner Res 2004; 19: 370–8.
8. Dukas L, Bischoff HA, Lindpaintner LS et al.: Alfacalcidol reduces the number of fallers in a community-dwelling elderly population with a minimum calcium intake of more than 512 mg daily. J Am Geriatr Soc 2004; 52: 230–6.
9. Gallagher JC, Fowler SE, Detter JR, Sherman SS: Combination treatment with estrogen and calcitriol in the prevention of age-related bone loss. J Clin Endocrinol Metab 2001; 86: 3618–28.
10. Lips P, Graafmans WC, Ooms ME, Bezemer PD,
Bouter LM: Vitamin D supplementation and fracture incidence in elderly persons. A randomised, placebo-controlled trial. Ann Intern Med 1996; 124: 400–6.
11. Trivedi DP, Doll R, Khaw KT: Effect of four monthly oral vitamin D3 (cholecalciferol) supplementation on fractures and mortality in men and women living in the community: randomised double blind controlled trial. BMJ 2003; 360: 469–72.
12. Bischoff-Ferrari HA, Dawson-Hughes B, Willett WC et al.: Effect of vitamin D on falls. A meta-analysis. JAMA 2004; 291: 1999–2006.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Michael Pfeifer
Institut für Klinische Osteologie Gustav Pommer
Am Hylligen Born 7
31812 Bad Pyrmont
E-Mail: iko_pyrmont@t-online.de
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.