

Martin Gülich: Die Umarmung. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main, 2005, 146 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag, 17,90 €
Zwei Jahre nach den „Bagatellen“ hat der 1963 geborene Freiburger Autor einen neuen Roman vorgelegt. „Ich bin kein Idiot. Wer das sagt, lügt“, so beginnt der Ich-Erzähler Dolf seine Geschichte. Er arbeitet in der Gerichtsmedizin als Gehilfe von Dr. Sander, wohnt bei der Mitsch zur Untermiete und ist mit Walter befreundet. 38 Jahre ist er alt. Über Eltern oder andere Angehörige erfahren wir nichts. Einmal heißt es: „Und da kommen mir die Tränen, weil ich weiß, dass sowieso keiner einen Schrecken kriegt, egal wie ich aussehe, ob mir der Kopf fehlt oder nur ein kleiner Finger.“
Walter arbeitet an den Gleisen. Er hat eine „sehr dicke Haut, beim Gehen schwabbelt alles ein bisschen“, und er ist so stark, dass er Dolf einfach hochheben kann. Walter sagt, dass das Spiel mit den Frauen immer dasselbe ist und dass man sie schmieden muss, solange sie heiß sind. Was die Frauen angeht, hat Dolf nichts zu erzählen. Die, mit denen er zu tun hat, sind tot: „Kein Küssen, kein Streicheln ihrer Brüste, kein zur Sache kommen.“ Und Dolf stinkt, wie die Leichen, die in der Gerichtsmedizin auf dem Tisch liegen; da nehmen die lebendigen Frauen sogar im Schwimmbecken vor ihm Reißaus. Einmal erwischt ihn Dr. Sander, wie er mit seinen Lippen den Mund einer Toten berührt, „eine Hunderttausendstelsekunde vielleicht, nicht mehr“. Es wird nicht mehr davon gesprochen.
Dolf hat eine Leidenschaft: Er jagt und sammelt Schmetterlinge. Behutsam richtet er die zerbrechlichen Flügel und steckt die Falter auf eine Nadel. Bloß das Töten ist ihm zuwider. Eines Tages wird ein Namenloser in die Gerichtsmedizin gebracht. Eine junge Frau kommt, um ihn zu identifizieren: „Eine Frau, so schön, dass es sie gar nicht gibt.“ Schöner als alle, mit denen Walter zur Sache kommt, schöner selbst als Kristina, die auf einem Poster nackt über Dolfs Bett hängt. Als sie die Leiche anschaut, „hört das Zittern auf, weil dort, wo der Schrecken grenzenlos ist, da ist nicht einmal mehr Platz für ein Zittern“. Sie fällt Dolf um den Hals, und er tröstet sie in einer langen Umarmung. Dass dabei „Leben“ in sein „Gehäng“ kommt, „da muss man nicht dran denken, das ist längst vergessen“. Nun nimmt das Schicksal seinen unbarmherzigen Lauf: Besessen von der Vorstellung, Natalie zu lieben, beginnt Dolf eine Jagd, die als Katastrophe endet.
Konsequent leiht Gülich einem Einzelgänger an der Grenze zur Minderbegabung seine Stimme. Das erinnert inhaltlich an Georg Büchners „Woyzeck“ und atmosphärisch immer wieder an Detlef Bucks Film „Wir können auch anders“. An keiner Stelle denunziert der Autor seine Figur – im Gegenteil: Im Vergleich mit Walter, Mitsch und Dr. Sander erscheint Dolf auf eine rührende Art wahrhaftig und rein. Es ist das verstörende Porträt eines Menschen, der vor der komplexen Lebensanforderung Liebe und Sexualität ungetröstet in die Knie geht. Christof Goddemeier