ArchivDeutsches Ärzteblatt4/2006Henri Matisse: Kunst des Gleichgewichts

VARIA: Feuilleton

Henri Matisse: Kunst des Gleichgewichts

Sander-Fell, Sabine

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS In einer hochrangigen Auswahl von rund 90 Gemälden wird in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen die Darstellung der weiblichen Figur im Innenraum als ein wichtiges Bildmotiv herausgestellt.

Es gibt Künstler, deren Experimentierfreude und innovative Bildsprache immer wieder eine andere Fokussierung auf das Gesamtwerk zulassen. Einer von ihnen ist Henri Matisse. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigt den französischen Künstler in einer groß angelegten Schau, die sich nicht als Retrospektive dieses Protagonisten der Avantgarde des 20. Jahrhunderts versteht, sondern sein Werk aus einem ganz bestimmten Blickwinkel untersuchen will. So wird in einer hochrangigen Auswahl von rund 90 Gemälden die Darstellung der weiblichen Figur im Innenraum als ein wichtiges Bildmotiv seiner gesamten Schaffenszeit herausgestellt.
Gleich zu Beginn der Ausstellung sind seine frühen Interieurs zu sehen, die in der Tradition der niederländischen und französischen Genremalerei stehen. Noch wird die Palette beherrscht von Erdtönen, die er jedoch bald darauf gegen eine intensiv leuchtende Farbigkeit austauschte. Es war die vom Gegenstand losgelöste und der Steigerung des Ausdrucks dienende Farbe, die ihm gemeinsam mit anderen Künstlern den Spottnamen „Fauves“ – die Wilden – einbrachte. Mit dieser neuen subjektiven Farbigkeit gestaltet Matisse auch seine Innenräume, die zudem seine ausgeprägte Vorliebe für ornamentale Textilien zeigen. Zahlreiche Museumsbesuche und Reisen nach Marokko und Spanien begeisterten ihn für die dekorative Kunst des Islam. Im Laufe der Jahre entstanden in seinen Atelierwohnungen kleine kunstgewerbliche Sammlungen, die als Requisiten Eingang in seine Bildkomposition fanden. Wichtig wird in diesem Zusammenhang die Einführung seiner Modelle, die er häufig als Odaliske in orientalischer Kleidung in die Szenerie einbindet oder als Typus der modernen Frau, die sich den schönen Seiten des Lebens als Lesende, Ruhende oder Musizierende zuwendet. So träumt der Künstler, wie in seinen „Notizen eines Malers“ nachzulesen ist, von einer Kunst des Gleichgewichts und der Ruhe, die eine Erholung für das Gehirn ist.
Bei der Konzeption seiner Bildräume verzichtet Matisse auf eine exakte perspektivische Darstellung. Der Bildraum wird so zur zweidimensionalen Fläche, illusionistische Raumeindrücke werden weitgehend vermieden. Im Vordergrund steht die farbige Gestaltung immer wieder in Verbindung mit dem Ornament, das die räumlichen Grenzen im Innenraum, aber auch zwischen Innen- und Außenraum verschleift. Zeichnungen, Plastiken und grafische Arbeiten ergänzen die Sicht auf die weiblichen Modelle des Künstlers. Einige Bronzearbeiten überführt er in das Medium der Malerei und lässt sie auf diese Weise zu bearbeiteten Zitaten seiner eigenen Kunst werden.
In rund 30 historischen Fotografien dokumentieren bedeutende Fotokünstler wie Brassai, Henri Cartier-Bresson und Gertrude Stein den Künstler Henri Matisse, seine Atelierräume und Modelle. Sie geben dem Betrachter Einblicke in den persönlichen Arbeitsraum, der sich nach einer malerischen Verwandlung in seinen Gemälden wiederfinden lässt. 1930 kaufte sich Matisse selbst einen Fotoapparat und erforschte mit der Kamera neue Positionierungen seiner Modelle in komplexen Raum- und Lichtsituationen.
Am Ende der Ausstellung begegnet der Besucher einer berühmten Frau. Es ist die wunderschöne „Nu bleu“ aus der Sammlung Ernst Beyeler, die Matisse in seinen letzten Lebensjahren geschaffen hat. In diesem Papierschnitt bewegt sich die weibliche Figur zwischen skulpturaler Körperhaftigkeit und dekorativer Flächigkeit. Sabine Sander-Fell

Die Ausstellung „Henri Matisse – Figur Farbe Raum“ ist noch bis zum 19. Februar 2006 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20) zu sehen, anschließend (vom 19. März bis 9. Juli 2006) in der Fondation Beyeler in Riehen/Basel. Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Katalog und einem Symposium begleitet. Weitere Informationen im Internet unter: www.henri matisse.de.

Kommentare

Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote