ArchivDeutsches Ärzteblatt6/2006Katastrophenmedizin: Konzentration aller Ressourcen
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Die Notfallübung wurde auf eine Patientenablage konzentriert. Der Behandlungsplatz diente der Sichtung und der Herstellung der Transportfähigkeit der Schwerstverletzten.
Die Notfallübung wurde auf eine Patientenablage konzentriert. Der Behandlungsplatz diente der Sichtung und der Herstellung der Transportfähigkeit der Schwerstverletzten.
Bei einer groß angelegten Notfallübung erwies sich das Konzept der Erstversorgungsklinik als ein geeignetes Verfahren zur schnellen Notfallversorgung von verletzten Opfern.

Bundesweite Vorkehrungen für Großschadensereignisse mit einem Massenanfall von Verletzten (MANV) sehen die Versorgung der Patienten auf einem Behandlungsplatz vor, nachdem sie zuvor von der Feuerwehr aus dem Schadensgebiet gerettet und in einer Patientenablage an den Rettungs- und Sanitätsdienst übergeben worden sind. Patienten der Sichtungskategorien (SK) I (vitalbedroht) und II (schwer verletzt) werden nach der Erstbehandlung schnellstmöglich und koordiniert in umliegende Kliniken gebracht; daneben werden auch die Patienten der SK III (leicht verletzt) und IV (hoffnungslos) auf dem Behandlungsplatz betreut. Die Kräfte des Rettungs- und Sanitätsdienstes werden von einem Leitenden Notarzt und einem Organisatorischen Leiter geführt, die der Gesamt-Einsatzleitung der Feuerwehr unterstehen. Meist werden die MANV-Stufen I bis III unterschieden, wobei die MANV-Stufe III mit 50 bis 200 Patienten definiert sein kann. Die Kliniken werden in diesem als „Erweiterter Rettungsdienst“ (1) bezeichneten Szenario grundsätzlich nur im Rahmen ihrer regulären Leistungsfähigkeit beansprucht. Nach den terroristischen Ereignissen der letzten Jahre und im Hinblick auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurden die bundesweiten Planungsvorgaben auf 1 000 und mehr Verletzte erweitert. Dazu ist die Heranführung von Verstärkungen über Distanzen bis 200 Kilometer vorgesehen, was auch „überörtliche Hilfe beim Massenanfall von Verletzten“ genannt wird. Zur bestmöglichen Versorgung einer solch großen Patientenzahl – die kein Großschadensereignis, sondern einen Katastrophenfall darstellt – werden derzeit zwei divergierende Ansätze verfolgt:
- die vorwiegend numerische Ausweitung des etablierten Konzepts für Großschadensereignisse durch Vermehrung der Behandlungsplätze, wobei an der zielgerichteten definitiven Verteilung der Patienten auf regionale und überregionale Kliniken festgehalten wird.
- die Etablierung eines an Maßstäben der Katastrophenmedizin orientierten Konzepts (2). Danach werden die Aufgaben des Behandlungsplatzes auf die Sichtung und Herstellung der Transportfähigkeit nur der schwerstverletzten Patienten konzentriert und diese Notfallpatienten – im Einzelfall auch aus den Patientenablagen – unverzüglich in eine nahe gelegene Erstversorgungsklinik (EVK) gebracht. Diese stellt den Routinebetrieb ein und konzentriert alle Ressourcen auf die chirurgische Notfallversorgung dieser Patienten, um sie stationär behandlungsfähig oder über größere Strecken transportfähig zu machen. Die Erstversorgungsklinik wird in ihrer Liegenschaft durch eine Klinik-Unterstützungsgruppe (KUG) des Rettungs- und Sanitätsdienstes verstärkt, die einen klinikintegrierten Behandlungsplatz betreibt. Nicht als Erstversorgungsklinik eingeplante regionale Akutkrankenhäuser werden bis zur Belastungsgrenze beansprucht.


Angenommene Schadenslage
Um 9.50 Uhr ereignete sich in einem Hochhaus eine Explosion, die große Teile des Baus einstürzen ließ. Es befanden sich etwa 1 200 Personen im Gebäude, sodass mit mehreren Hundert Verletzten und Toten gerechnet werden musste. Die Übung wurde ausschnittartig auf eine Patientenablage konzentriert; technische Rettung, Schadensbekämpfung und weitere Patientenablagen blieben ausgespart. Die eingesetzten Rettungskräfte und -mittel waren jedoch an der Gesamtlage bemessen und damit limitiert. Weiter diente nur die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) als Erstversorgungsklinik; die weiteren drei als Erstversorgungsklinik vorgesehenen Hannoverschen Kliniken und regionale Akutkrankenhäuser wurden nicht einbezogen.


Die Notfallpatienten wurden unverzüglich in eine nahe gelegene Erstversorgungsklinik gebracht, die alle ihre Ressourcen auf die Notfallversorgung konzentrierte. Fotos: Feuerwehr Hannover
Die Notfallpatienten wurden unverzüglich in eine nahe gelegene Erstversorgungsklinik gebracht, die alle ihre Ressourcen auf die Notfallversorgung konzentrierte. Fotos: Feuerwehr Hannover
Dieses Hannoversche EVK-Konzept wurde am 18. Juni 2005 geübt, um Erkenntnisse über die Umsetzbarkeit zu gewinnen und Detailfragen – hier insbesondere die Einbindung der Klinik-Unterstützungsgruppe in den klinikinternen Ablauf – zu klären.
Das Hannoversche EVK-Konzept nimmt eine Mittelstellung zwischen dem bislang in Deutschland praktizierten Vorgehen und internationalen Konzepten ein. Entscheidend ist die Flexibilität des EVK-Konzepts, das bei Schadensereignissen aller Art – und damit auch außerhalb vorzubereitender Lagen wie der WM 2006 sowie witterungsunabhängig – nutzbar ist und insbesondere keine Vielzahl von Behandlungsplätzen voraussetzt, die nur innerhalb von Stunden aktivierbar sind. Insgesamt geht es darum, alle rettungsdienstlichen Ressourcen einschließlich der kurzfristig verfügbaren Behandlungsplätze auf die Versorgung der Schwerstverletzten zu konzentrieren, das Intervall zur chirurgischen Notfallversorgung zu verkürzen und die Kliniken aktiv in die Abläufe einzubinden.
Dieses Ziel wurde in der vorgestellten Übung eindrucksvoll erreicht. Neben der eingespielten Führungsstruktur von Feuerwehr und Rettungsdienst hat sich die klinikinterne Führungsstruktur uneingeschränkt bewährt. Der Behandlungsplatz I (Schadensort) war 1:13 Stunden nach Einsatzbeginn aufnahmebereit, der Behandlungsplatz II in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) 30 Minuten später. Trotz begrenzter Transportkapazität wurden in 2:03 Stunden im Rundumverkehr 85 Patienten vom Behandlungsplatz I (beziehungsweise direkt) zur Erstversorgungsklinik gebracht. 3:13 Stunden nach dem Ereignis war der letzte Patient abtransportiert und nach 3:37 Stunden – bereits von einem klinischen Behandlungsteam begleitet – in den OP eingeschleust. Die mittlere Versorgungszeit in der MHH – von der Aufnahme bis zum Einschleusen in den OP – von 21,3 Minuten zeigt darüber hinaus, dass die innerklinischen Abläufe lageentsprechend adaptiert und die Behandlungsteams den veränderten Anforderungen gerecht wurden. Die rechnerisch transfundierte Zahl von etwa 600 Erythrozyten-Konzentraten und 50 Gefrierplasmen ist ein weiterer wichtiger Beleg für die Vorteile des EVK-Konzepts – auf einem Behandlungsplatz wären allenfalls einige wenige Transfusionen denkbar. Die Klinik-Unterstützungsgruppe konnte nach einigen Anlaufschwierigkeiten zufrieden stellend in den klinischen Ablauf integriert und im weiteren Verlauf problemlos durch Klinikkräfte verstärkt werden. Das mitgebrachte Material, das in dieser Art und Menge in den Kliniken nicht verfügbar ist, wurde wirkungsvoll genutzt.
Es traten keine nichtkompensierbaren personellen oder logistischen Engpässe auf. Selbst mit nur 15 Behandlungsteams – die Zahl könnte in der MHH beträchtlich gesteigert werden – wurden die Notfallpatienten zügig versorgt; eine echte Lücke bestand nur einmal für einen Zeitraum von sieben Minuten. Die Bestände an Medikamenten und Medizinalprodukten waren ausreichend und hätten zeitgerecht aufgefüllt werden können. Die Versorgung mit Blutprodukten war problemlos. Die Notfall-Aufnahmesets waren mit entsprechendem Anforderungsmaterial versehen; die vorhandenen Produkte hätten für die Initialphase ausgereicht, und die Anschlussversorgung war – auch bei parallelen Anforderungen benachbarter Kliniken – gesichert. Ein kurzfristiger Mangel an abdominalchirurgischem Instrumentarium im unfallchirurgischen OP war durch Zugriff auf benachbarte Säle lösbar; darüber hinaus war die kontinuierliche Anschlussversorgung – mit verkürztem Verfahren – über die Zentralsterilisation gesichert. Die notfalls freizumachenden Intensivbetten entsprachen etwa 30 Prozent der Kapazität; eine Herrichtung von Aufwach- oder Einleitungsräumen wäre zunächst nicht erforderlich gewesen. Etwa zehn Prozent der vorhandenen Normalbetten waren ohne Entlassung oder Verlegung von Patienten nutzbar – und damit auch hier noch längst nicht alle Reserven erschöpft.
Neben diesen positiven Ergebnissen wurde auch Verbesserungsbedarf erkannt. Die Führung eines Lagebildes durch die Krankenhaus-Einsatzleitung erfordert eine entsprechende Ausstattung und Übung, und die innerklinische Kommunikation über Telefon oder Funk sowie die Alarmierung der Mitarbeiter muss weiter verbessert werden. Die Anlieferungszone der Klinik-Unterstützungsgruppe und die Ausladezone der Rettungsmittel wurden mittlerweile getrennt, da beide Vorgänge teilweise zeitgleich ablaufen. Wichtig ist auch die Erkenntnis, die erste klinische Sichtung durch einen erfahrenen Unfallchirurgen statt durch den Ärztlichen Leiter der Klinik-Unterstützungsgruppe vornehmen zu lassen, damit sich dieser auf die Führung seiner Einheit konzentrieren kann. Bei der klinikinternen Registrierung erwiesen sich die vorhandenen Folien als zu schwach; sie werden künftig durch robuste Klarsichthüllen ersetzt, die auch Labormaterial aufnehmen können. Um Engpässe beim Einsatz von Analgetika und Sedativa zu vermeiden, wird zukünftig eine erfahrene Pflegekraft mit Verteilung und Nachweis beauftragt.
Die Übung hat gezeigt, dass die geänderte Einsatztaktik auf dem Behandlungsplatz schon unter dem Druck des Geschehens unvermeidlich ist, die Integration einer Klinik-Unterstützungsgruppe in den klinischen Ablauf gelingt und eine motivierte Klinik in der Lage ist, sich vom üblichen Vorgehen zu lösen und alle Kräfte auf die Notfallversorgung einer Vielzahl schwerstverletzter Patienten zu konzentrieren. Durch weitere Übungen und laufende Abstimmungen im Detail wird das Konzept weiter verbessert und demnächst auch in anderen Hannoverschen Kliniken erprobt.

zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2006; 103(6): A 314–318

Literatur
1. Adams HA: Organisatorische Grundlagen des Rettungsdienstes. In: Deutsche Akademie für Anästhesiologische Fortbildung (Hrsg.): Refresher Course – Aktuelles Wissen für Anästhesisten. Nr. 21, März 1995, Hamburg, Berlin: Springer 1995; 115–25.
2. Adams HA, Mahlke L, Lange C, Flemming A: Medizinisches Rahmenkonzept für die Überörtliche Hilfe beim Massenanfall von Verletzten (Ü-MANV). Anästhesiol Intensivmed 2005; 46: 215–23.
3. Aschkenasy-Steuer G, Shamir M, Rivkind A, Mosheiff R, Shushan Y, Rosenthal G, Mintz Y, Weissmann C, Sprung CL, Weiss YG: Clinical review: The Israeli experience: conventional terrorism and critical care. Critical Care 2005; 9: 490–99.
4. Sefrin P: Hannoveraner Katastrophenkonzept nicht akzeptiert. Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin widerspricht – Verlagerung des Chaos in die Kliniken. Anästh Intensivmed 2005; 46: 458 (Erwiderung S. 459).

Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Hans-Anton Adams
Stabsstelle für Interdisziplinäre Notfall-
und Katastrophenmedizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover
E-Mail: adams.ha@mh-hannover.de


Notfallplan der Medizinischen Hochschule Hannover
Der Notfallplan der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) für externe Gefahrenlagen sieht bei Alarmstufe III folgende Maßnahmen vor:
- Einrichtung einer Krankenhaus-Einsatzleitung unter Leitung des Vorstands Krankenversorgung und Ärztlichen Direktors zur administrativ-organisatorischen Führung wie Alarmierung, Sicherstellung der Logistik, Freimachen von Betten und Öffentlichkeitsarbeit. Der Krankenhaus-Einsatzleitung sind Verbindungspersonen der öffentlichen Gefahrenabwehr (Feuerwehr, Polizei) beigestellt.
- Einrichtung einer Medizinischen Einsatzleitung unter Führung des Ärztlichen Leiters vom Dienst für die unmittelbare Patientenversorgung.
- Konzentration aller Ressourcen auf die Sicherung der Vitalfunktionen und Herstellung der stationären Behandlungs- oder Transportfähigkeit der aufzunehmenden Notfallpatienten.
- Bildung von Behandlungsteams – aus Operateur, Anästhesist und Pflegekräften – zur kontinuierlichen Versorgung je eines Notfallpatienten.
- Schließung der Zentralen Notfallaufnahme und Aufnahme der Notfallpatienten über den benachbarten Eingang der Poliklinik, Erfassung durch den Aufnahme- und Erkennungsdienst und erste klinische Sichtung, um Notfallpatienten der Sichtungskategorien (SK) I und II unverzüglich der Behandlung und Patienten der SK III und IV der getrennten Betreuung zuzuführen.
- Kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Ärztlichen Leiter der Klinik-Unterstützungsgruppe, dem der im Flurbereich der Poliklinik einzurichtende Behandlungsplatz der Klinik-Unterstützungsgruppe untersteht. Hier werden Notfallpatienten, die nicht sofort von einem Behandlungsteam der MHH übernommen werden können, kontinuierlich versorgt. Weiter erfolgt dort die fortlaufende Sichtung durch einen erfahrenen Facharzt für Unfallchirurgie.
- Freimachen der höchstmöglichen OP- und Bettenkapazität durch entsprechende Koordinatoren der Medizinischen und Krankenhaus-Einsatzleitung.

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