ArchivDeutsches Ärzteblatt6/2006Psychoonkologie: Halten und Aushalten

THEMEN DER ZEIT

Psychoonkologie: Halten und Aushalten

Hack, Christa

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Bilder von Patientinnen einer therapeutischen Malgruppe während der Chemotherapie-Phase Quelle: Katholisches Klinikum Mainz
Bilder von Patientinnen einer therapeutischen Malgruppe während der Chemotherapie-Phase Quelle: Katholisches Klinikum Mainz
Psychoonkologische Begleitung kann Krebs nicht heilen, aber das Leben mit der Erkrankung leichter machen. Die Bedeutung dieses ganzheitlichen Behandlungsansatzes nimmt zu.

Trotz Verbesserung von Patientenaufklärung und Vorsorgeuntersuchung und stetig erweiterter Behandlungsmöglichkeiten in der Krebserkennung und -behandlung wird die Diagnose Krebs auch heute noch von den meisten gleichgesetzt mit einer Verurteilung – letztlich mit dem Todesurteil. Im Zuge der immer größeren Machbarkeit in der Medizin wachsen auf der anderen Seite Ängste vor einem Verlust an Menschlichkeit. Die unleugbare Tatsache von Vergänglichkeit und Tod – trotz aller medizinischen Fortschritte – erzeugt Ohnmachtserleben bei Ärzten und Patienten. Mit der zunehmenden Forderung ganzheitlicher Behandlung gerade in der Behandlung von Krebspatienten kommt der psychoonkologischen Begleitung und Behandlung eine wichtige Bedeutung zu.
Die Psychoonkologie richtet ihren Blick auf die Befindlichkeit des krebskranken Patienten in seiner jeweiligen Lebenssituation und auf seine Bezüge innerhalb des sozialen Umfelds. Daraus kann sie ein Verständnis entwickeln für die individuelle Reaktion auf Diagnose, Behandlung und Krankheitsverlauf sowie die möglichen Probleme. Als Teilgebiet der Psychosomatik beschäftigt sie sich mit dem kranken Menschen im Gegensatz zur Behandlung kranker Organe. Längst überholt ist die Idee von der Krebspersönlichkeit, die an Krebs erkrankte Menschen vor allem als aggressionsgehemmte und emotional unbefriedigte Persönlichkeiten beschrieb. Allerdings ist die Vorstellung von Schuld und Verschulden immer noch verbreitet bei Patienten und teilweise auch bei Ärzten – vermutlich als (unbewusster) Schutz gegen die eigene Ohnmacht.
Die Psychoonkologie als psychotherapeutische Disziplin interessiert sich vor allem für das subjektive Erleben des Patienten mit einer Krebserkrankung, dafür, welche Bedeutung er der Krankheit verleiht (subjektive Krankheitstheorie) und von welchen Faktoren das Krankheitserleben beeinflusst wird. Ihr Ziel ist es, eine wirksame Hilfe zu geben zur möglichst weitgehenden Erhaltung oder Wiederherstellung der Lebensqualität. Hierbei spielen Veränderungen und Störungen im Körperbild und Köpererleben sowie im Selbstbild und Selbsterleben, die einer Neuorientierung und Reintegration bedürfen, eine große Rolle. Neben der Angst vor Sterben und Tod und den Belastungen durch die Verletzung der körperlichen Integrität leiden die Patienten vor allem unter Angst vor Autonomieverlust, sozialer Isolierung und der Bedrohung der sozialen Identität.
Kein psychotherapeutisches Verfahren kann Krebs heilen, wie gelegentlich enthusiastisch verkündet wurde, aber das Erleben der Krankheit und der Lebenszeit mit der Krankheit kann wesentlich beeinflusst und verbessert werden. Das wichtigste Instrument der Psychoonkologie ist, wie überhaupt in der Psychotherapie, die Beziehung zum Patienten. Unabdingbar ist die Bereitschaft des Therapeuten, sich mit seinen Konzepten von Krankheit und Tod auseinander zu setzen und die eigenen, durch den Patienten und dessen Krankheit ausgelösten inneren Reaktionen und Gefühle wahrzunehmen und zu bearbeiten. Der Therapeut muss sich seinen Ängsten, depressiven Gefühlen und Aggressionen stellen, das heißt, er muss sie wahrnehmen, aushalten und so bearbeiten, dass er sie von den Gefühlen des Patienten trennen kann. Gelingt dies nicht, dann ist der Therapeut unbewusst damit beschäftigt, eigene, bedrohliche Gefühle, die mit Krankheit und Tod unweigerlich verbunden werden, abzuwehren, sich dagegen zu schützen und sich zu distanzieren. Damit steht er für die tatsächlichen Fragen und Bedürfnisse des Patienten nicht zur Verfügung. Dies gilt für jede Arzt-Patient-Beziehung.
In der psychotherapeutischen, also auch der psychoonkologischen Behandlung ist der Behandler selbst das wichtigste Arbeitsinstrument mit seinen Fähigkeiten, sich einzulassen und doch die inneren Grenzen zu halten oder wiederherzustellen. Sich einlassen bedeutet vor allem eine aufnehmende, um Verstehen bemühte Haltung. Verstehen heißt, die hinter konkreten Aussagen und Fragen, zum Beispiel hinter scheinbaren Informationsfragen, stehenden Gefühle, Wünsche und Fantasien des Patienten zu erkennen, ihnen Raum zu geben und sie, wenn nötig, zu benennen. Es muss garantiert sein, dass der Patient Gefühle und auch negative Gefühle in einer wohlwollenden Atmosphäre straffrei äußern kann. Halten und Aushalten sind die wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben des Psychoonkologen. Erst an zweiter Stelle, gleichsam auf dieser Basis, sind alle anderen psychotherapeutischen Methoden und Angebote, verbale und nonverbale, bedeutsam und wirksam.
Gezielte Krisenintervention
Psychoonkologische Betreuung oder Begleitung beginnt mit dem Zeitpunkt der Diagnosestellung. Die Mitteilung einer Krebsdiagnose kann Verzweiflung und extreme Angst und Hilflosigkeit auslösen, ein inneres und manchmal auch äußeres Chaos auf der emotionalen, der kognitiven und der Verhaltensebene. Es bedarf in diesen Fällen einer gezielten Krisenintervention, die als „psychische Erste Hilfe“ von allen behandelnden Ärzten erlernt werden sollte. Gefragt ist dabei gewöhnlich nicht ein Mehr an Informationen, denn diese werden als überschwemmend erlebt, sondern es bedarf einer gezielten Hilfe zur Selbsthilfe, das heißt zur Nutzung und Aktivierung vorhandener und zum Einsatz neuer, angemessener Bewältigungsstrategien (Ressourcen) unter Einbeziehung des sozialen Netzes mit dem Ziel der Linderung und des Erträglichmachens der akuten Situation. Vor allem bedarf es des zuverlässigen Beziehungsangebotes, des Kontakthaltens trotz – meist unbewusster – Tendenzen und Wünsche, den Patienten zu meiden, dem man nicht als „omnipotenter Heiler“ entgegentreten kann. Auch im palliativen Stadium ist es nicht richtig, dass man „nichts mehr machen“ kann. Allerdings ist das, was man machen kann, nämlich die Symptome lindern und die Beziehung halten, eine sehr schwere, persönliches Engagement erfordernde Aufgabe.
Die Krisenintervention umfasst einige gezielte und zeitlich begrenzte Gespräche, die entweder genügend Stabilität (wieder)herstellen oder in eine fachkompetente, meist längere Behandlung übergehen. Das psychoonkologische Erstgespräch dient gewöhnlich neben entlastenden Interventionen vor allem der Diagnostik und der Herstellung eines Kontakts, an den später, wenn nötig, angeknüpft werden kann. Die Abschätzung des Risikos einer psychopathologischen Entwicklung geschieht auf dem Weg einer sorgfältigen psychodiagnostischen Anamnese- und Befunderhebung, einschließlich der sozialen Anamnese. Frühere psychische Störungen oder Vorbelastungen prädisponieren zur Exazerbation oder Dekompensation unter den Belastungen im Zusammenhang mit der Krebserkrankung. Vorbestehende Konflikte im sozialen Umfeld oder die nicht seltene Koinzidenz der Krebserkrankung mit einem anderen Trauma wie Verlust oder Trennung von nahe stehenden Personen erhöhen das Risiko einer Komorbiditätsentwicklung.
Statistiken sprechen von bis zu 40 Prozent behandlungsbedürftiger psychischer Erkrankungen im Verlauf von Krebserkrankungen. Die häufigsten Störungen sind Depression und Angst. Das so genannte Fatigue-Syndrom ist eher den Depressionen zuzurechnen, abgesehen von den vielfachen somatischen Mitursachen. Depressionen kommen vor als Folgeerkrankung, das heißt als Reaktion auf die Erkrankung, als Nebenwirkung bestimmter Medikamente (zum Beispiel einiger Chemotherapeutika, Kortison, Interferon) oder als erneute depressive Episode bei entsprechender Prädisposition. Zum Teil handelt es sich um schwere Depressionen mit manifester Suizidalität.
Depression und Angst zeigen sich nicht nur in ihren typischen, bekannten klinischen Symptomen, sondern können sich hinter vielerlei somatischen Beschwerden oder auch kontraphobisch-hypomanischem oder auffällig aggressiv-kritischem Verhalten verbergen. Die Behandlung sollte in vielen Fällen zweigleisig erfolgen: medikamentös und psychotherapeutisch. Medikamentös kommen vor allem Antidepressiva aus der Gruppe der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zur Anwendung sowie Anxiolytika. Dabei ist zu unterscheiden, ob eine anxiolytische Basismedikation erwünscht ist oder eine punktuelle Entlastung bei bestimmten, mit Panik erwarteten (Nach-) Untersuchungen oder Behandlungsmaßnahmen.
Begleitende Psychotherapie
Psychotherapeutisch können, abgesehen von der bereits genannten Krisenintervention, eine supportive kurzzeitige oder längerfristige Begleitung, eine strukturierende, verhaltensorientierte oder eine längerfristige tiefenpsychologisch fundierte oder analytische Therapie, teilweise auch unter Einbeziehung des Partners und/oder der Familie indiziert sein. Langzeittherapien sind in der Regel ambulant zu vermitteln und durchzuführen. Entspannungsverfahren, insbesondere in Kombination mit Visualisierungen, werden von vielen Patienten als hilfreich erlebt. Mehr noch als im direkten Gespräch werden mithilfe künstlerisch-gestalterischer und körperorientierter Methoden Gedanken und Fantasien zum Krankheitsgeschehen, Wünsche und Bedürfnisse sowie auch unbewusste Fantasien zu Krankheitsverlauf und Tod zum Ausdruck gebracht, die dann im Einzel- oder Gruppengespräch aufgenommen und besprochen werden können. Günstig ist auf jeden Fall ein multimodaler Ansatz. Manchmal zeigt sich die Behandlungsbedürftigkeit erst Monate nach einer erfolgten und sogar erfolgreichen somatischen Behandlung.
Während zu Beginn der Erkrankung und Behandlung, oft nach einer extrem belastenden Zeit des Wartens auf Untersuchungsergebnisse, die Konzentration auf den Körper im Vordergrund steht mit der Bewältigung von Operationen, Schmerzen, Nebenwirkungen eingreifender Behandlungsmaßnahmen, setzt die bewusste Wahrnehmung von Gefühlen wie Angst, Niedergeschlagenheit, Ohnmacht und Ausgeliefertsein oft erst einige Zeit später ein. Diese Gefühle müssen von manchen Patienten – zeitweise von jedem Krebskranken – verleugnet werden, damit sich nicht zur Hilflosigkeit des Körpers die psychische Hilflosigkeit addiert und so zur unerträglichen Bedrohung für die Person mit dem völligen Verlust der Selbstbestimmtheit wird. Diese Verleugnung muss unbedingt respektiert, manchmal sogar gestützt werden, weil sie für manchen Patienten überlebensnotwendig ist.
Gerade den in der Klinik so angenehmen „kooperativen und einsichtigen“ Patienten und solchen, die ihrem Image von Stärke und Stabilität nach dem Motto „Du schaffst das schon“ folgen müssen, wird nicht selten erst längere Zeit später bewusst, wie sehr sie sich bedroht fühlen von der Erkrankung, wie unberechenbar sie ihr Lebenskonzept im Angesicht der Diagnose erleben, wie folgenreich sie sich für das weitere Leben erweist (Verstümmelung des Körpers, Verlust der Generativität, Verlust des Berufes) – selbst bei gutem Behandlungsergebnis und bei guter Prognose. Während die Umgebung längst wieder zur Tagesordnung übergegangen ist und die Krankheit für abgeschlossen hält, fühlen die Betroffenen mehr oder weniger dauerhaft und intensiv das Damoklesschwert der Diagnose Krebs. Jede Nachuntersuchung, jede Veränderung im Körper wird begleitet von der bangen Frage nach einer Metastase oder einem Rezidiv.
Ältere Menschen erleben nicht selten eine Reaktivierung von Erlebnissen von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit im Zusammenhang mit Kriegserlebnissen in der Kindheit und brauchen dazu Bewältigungshilfe.
Notwendige Trauerphase
Eine psychoonkologische Betreuung umfasst auch die Begleitung in der Terminalphase, in der es für manche Patienten noch vieles zu klären und zu ordnen gilt. In jeder Lebensphase gibt es für den Menschen eine Entwicklungschance und -fähigkeit. So ist die Trauer um das Zurücklassen-Müssen der nahe stehenden, geliebten Personen und die Trauer um sich selbst, um den Verlust des eigenen Lebens, ein wichtiger Entwicklungsschritt hin zu innerem Abschiednehmen vom Leben. Innerseelische (intrapsychische) wie interpersonelle Versöhnungen etwa stellen eine Voraussetzung dar für ein friedvolles Sterben, das für den Sterbenden ein letzter Zugewinn an Lebensqualität ist – und für die Zurückgebliebenen eine Hilfe zur Bewältigung des Verlustes.
Zur Aufgabe des Psychoonkologen gehört es auch, Ärzten und Pflegepersonal Fortbildung und Supervision beziehungsweise Fallbesprechung anzubieten. Der tägliche Umgang mit krebskranken Patienten bedeutet eine erhebliche psychische Belastung und stellt nicht selten eine chronische Überforderung dar mit der Folge depressiver Erkrankungen oder „Burn-out“. Das Erkennen eigener, zum Teil sehr unterschwellig wirksamer Gefühle wie Angst, Aggression, Schuldgefühle und die Befähigung zur Auseinandersetzung und zum Umgang damit bringen eine wesentliche Entlastung und verbessern die Kommunikationsfähigkeit mit dem Patienten und im Team. Eine Einbindung des Psychoonkologen in die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Tumorboard könnte zur Optimierung des Behandlungsplans im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes beitragen.

Literatur bei der Autorin
Dr. med. Christa Hack
Breite Straße 29
55124 Mainz

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