ArchivDeutsches Ärzteblatt7/2006Organisationsverschulden: Zentrenbildung vermehrt Zweifel und Unsicherheit

POLITIK

Organisationsverschulden: Zentrenbildung vermehrt Zweifel und Unsicherheit

Rieser, Sabine

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LNSLNS An Kliniken werden vermehrt neue Arbeitsabläufe erprobt. Sie können aber das Haftungsrisiko für Ärztinnen und Ärzte erhöhen.

Zeit und Ruhe für sachgerechte Arbeit sind wesentliche Faktoren, die Ärzten und Pflegepersonal derzeit systematisch genommen werden. Hieraus resultiert ein Behandlungsfehlerrisiko, das über das normale Maß menschlichen Versagens hinausreicht.“ Diese Auffassung vertrat Prof. Dr. med. Hans-Friedrich Kienzle, Chefarzt der Chirurgischen Klinik Krankenhaus Holweide in Köln, beim 31. Symposion für Juristen und Ärzte 1) zum Thema „Organisationsverschulden“ Ende 2005 in Berlin. Durch bereits eingeführte und noch in Planung befindliche Änderungen der Organisationsstrukturen sei eine weitere drastische Verschärfung der Probleme hinsichtlich eines Organisationsverschuldens zu verzeichnen, so Kienzle.
Ähnlich sieht es die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht in einer Emp-
fehlung 2) zum Thema: Weil sich ärztliche Behandlungsabläufe durch neue Strukturen wie fachübergreifende Bereitschaftsdienste, Medizinische Versorgungszentren oder die Zentralisierung von Behandlungseinheiten in Kliniken änderten, sei eine Erhöhung der Risiken für Patienten und ein erhöhtes Risiko juristischer Haftung für Ärztinnen und Ärzte zu befürchten. Denn „je komplexer das arbeitsteilige medizinische Geschehen in einem großen Betrieb und je größer der ökonomische Erfolgsdruck sind, desto mehr Umsicht und Einsatz erfordern die Planung, die Koordination und die Kontrolle der klinischen Abläufe.“
Dem wird kaum ein Arzt widersprechen. Doch im Klinikalltag führten zum Beispiel die Fallpauschalen zur unterschwelligen Ablehnung von „teuren“
Patienten oder zur Verlegung von „Problempatienten“ – nicht aus medizinischen, sondern aus finanziellen Gründen, berichtete Kienzle. Ob ein Gericht im Einzelfall daraus ein Organisationsverschulden herleiten würde, wenn ein Patient zu Schaden gekommen ist, sei einem als Arzt aber unklar, sagte Kienzle. Doch auch die Juristen blieben die Antwort schuldig. Da neue Strukturen, wie zum Beispiel Zentren an einem Universitätsklinikum, gerade erst etabliert werden, sind auch noch keine Gerichtsurteile ergangen, aus denen sich Rückschlüsse auf die rechtssichere Neuorganisation ärztlicher Behandlungsabläufe ziehen ließen. Das Recht hinke in diesen Fällen hinterher, stellte Dr. jur. Albrecht Wienke fest. Außerdem könnten Ärztinnen und Ärzte manche Prozesse nur noch zum Teil beeinflussen, für deren erfolgreichen Verlauf sie dennoch verantwortlich gemacht werden. „Deshalb fühlen sie sich ja so unwohl“, konstatierte Wienke.
Zu den Unklarheiten im Einzelnen kommen übergeordnete Bedenken: Müssen Patienten ein größeres Gefährdungsrisiko akzeptieren, das sich möglicherweise durch effizientere Abläufe ergibt? Gebieten es die finanziellen Rahmenbedingungen der Patientenversorgung, die rechtlichen Anforderungen an den Verschuldensmaßstab für Organisationsfehler zu senken? Ist es denkbar, dass sich für die Behandlung privat krankenversicherter Bürger aufgrund anderer finanzieller Vorgaben auch andere qualitative Organisationsanforderungen entwickeln als für Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung?
Wie viele Fragen sich allein aus der Zentrenbildung an Universitätskliniken ergeben, schilderte Prof. Dr. med. Ulrich Frei, Ärztlicher Direktor an der Berliner Charité – Universitätsklinikum Berlin, Campus Virchow. Vor allem sind es ernsthafte ärztliche Bedenken, die den Prozess der Zentrenbildung verkomplizieren, betonte Frei: „Erzählen Sie einmal zwei Gastroenterologen, dass sie ihre Zusammenarbeit optimieren sollen. Da sagt jeder: Ich muss doch das ganze Spektrum meines Faches beherrschen, ich kann mich doch nicht auf Magen oder Darm konzentrieren.“
Die stärkere „Ineinanderverschachtelung“ der Patientenversorgung stelle Ärztinnen und Ärzte aber noch vor andere Herausforderungen. Als Beispiel nannte Frei die Vorgabe, die Anzahl freier Betten in einem Klinikum zu reduzieren. Theoretisch könnten dann von Sonntag auf Montag augenärztliche neben urologischen Patienten liegen. Manche Ärzte erinnert das offenbar an eine hotelähnliche Belegung, gegen die nichts einzuwenden ist. Andere fürchten, dass das Klinikum wegen Organisationsverschuldens belangt werden könnte, falls sich ein Patient bei anderen infiziert. In einem war sich Frei allerdings sicher, wenn es um Struktur- und Organisationsveränderungen geht: „Es ist nicht besonders gemütlich für alle, die einmal eine andere Medizin gelernt haben.“ Sabine Rieser


Organisationsverschulden
Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt den Begriff des Organisationsverschuldens nicht. Gleichwohl handelt es sich um eine zentrale Kategorie modernen Zurechnungs- und Haftungsrechts. Im Kern verlangt die Rechtsprechung, dass die Behandlungsseite Diagnostik, Therapie und Nachbehandlung so organisiert, dass jede vermeidbare Gefährdung des Patienten ausgeschlossen ist.
Organisationsverschulden meint somit in Klinik und ärztlicher Praxis die Verletzung eines allgemein anerkannten fachspezifischen und aktuellen Sorgfaltsmaßstabs in Bezug auf bestimmte Organisationspflichten im Rahmen von Diagnostik, Therapie, Pflege, Betreuung, Unterbringung und Versorgung von Patienten.
Zitiert nach Dr. jur. Albrecht Wienke und Prof. Dr. jur. Christian Katzenmeier


1) Das Symposion wurde veranstaltet von der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für das ärztliche Fortbildungswesen gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht.
2) Die genannte Empfehlung ist im Internet abrufbar unter www.aerzteblatt.de/plus0706

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