ArchivDeutsches Ärzteblatt7/2006Schichtarbeiter-Syndrom: Es rächt sich, die innere Uhr zu ignorieren

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Schichtarbeiter-Syndrom: Es rächt sich, die innere Uhr zu ignorieren

Blaeser-Kiel, Gabriele

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Es ist keine Binsenweisheit, dass die Nacht zum Schlafen da ist, denn in dieser Zeit sind viele körperliche Funktionen auf Sparmodus geschaltet (Abbildung). „Wenn wir gegen die innere Uhr verstoßen, wie es bei Schichtarbeit und Nachtdiensten der Fall ist, müssen wir aufgrund unserer biologischen Ausstattung damit rechnen, dass wir dann mehr Fehler machen“, fasste Prof. Jürgen Zulley (Regensburg) das Problem zusammen.
Umgekehrt könne man am Tage, wenn das System auf Aktivität ausgerichtet sei, vom Schlaf keinen optimalen Erholungswert erwarten. Schichtarbeit bedeute also, dass vom Organismus sowohl Leistung als auch Regeneration zum falschen Zeitpunkt gefordert würden. „Anders ausgedrückt: Ein durch schlechte Schlafqualität vermindertes Leistungsvermögen trifft auf eine Phase mit verminderter Leistungsfähigkeit.“
Um das Siebenfache gesteigertes Unfallrisiko
Auf lange Sicht klagen schätzungsweise 70 bis 90 Prozent der Schichtarbeiter über Schlafstörungen, die häufig auch nach Änderung der Arbeitsbedingungen oder bis ins Rentenalter persistieren. Schlafstörungen seien immer auch „Wachstörungen“ mit zum Teil erheblichen Folgen, erinnerte Zulley: Etwa die Hälfte der Betroffenen schlafe in monotonen Situationen ein, und knapp zwei Drittel hätten Erinnerungslücken. Die Unfallwahrscheinlichkeit steige um das Siebenfache und das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen um das Dreifache.
Um den Schichtdienst aus chronobiologischer und schlafmedizinischer Sicht so verträglich wie möglich zu gestalten, wird ein Vorwärtswechsel der Arbeitszeiten – Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht – empfohlen. Hilfreich sind schlafhygienische Maßnahmen. Hierzu gehören die passive und aktive Entspannung vor dem Zubettgehen, der Ausgleich geistiger und körperlicher Tätigkeit, die richtige Ernährung, das richtige Bett und die optimale Schlafumgebung. Bei Müdigkeit am Arbeitsplatz ist das so genannte Power Napping oder der „Minischlaf“ zu empfehlen.
Um den Erholungswert des Schlafs zu optimieren, sollte bei der Frühschicht (sechs bis 14 Uhr) auf ein Nickerchen nach Schichtende verzichtet und der Nachtschlaf – was allerdings häufig nicht realisierbar ist – zeitlich vorverlegt werden. Die Spätschicht (14 bis 22 Uhr) ist nach Aussagen von Zulley weniger ein biologisches als vielmehr ein soziales Problem, weil Familie und Freunde in der Regel einen anderen Lebensrhythmus haben.
Gesundheitlich am problematischsten sind die Nachtschichten (22 bis sechs Uhr). Sinnvoll ist die Aufteilung des Schlafes in zwei Perioden – eine direkt nach der Schicht und die andere am Nachmittag bis zum frühen Abend.
Kaffee ist kein optimales Stimulans
Wenn der Schichtarbeiter Probleme mit dem Ein- und Durchschlafen hat, kann kurzfristig der Einsatz von Hypnotika erwogen werden. Bevorzugt werden sollten Optionen mit kurzer Wirkdauer und geringem „Hangover“-Risiko wie vor allem die „Z“-Substanzen (Zopiclon, Zolpidem, Zaleplon). Bei exzessiver Müdigkeit am Tag oder in der Nacht können Stimulanzien helfen, Unfälle oder Fehler am Arbeitsplatz zu vermeiden. Das im Kaffee enthaltene Koffein ist zwar das am leichtesten beschaffbare Stimulans, doch keines, was nach Ansicht von Priv.-Doz. Ingo Fietze (Berlin) medizinisch propagiert werden sollte. Denn die Risiken ließen sich nicht kontrollieren. Bei übermäßigem Genuss – etwa ab der sechsten Tasse – könne es zu Unruhe, Insomnie und Angstsyndromen kommen.
Deutlich günstiger bewertete Fietze das Nutzen-Risiko-Profil von Modafinil (Vigil®), das schneller und länger wirke als Koffein, aber nach Absetzen weder Entzugserscheinungen noch eine Rebound-Hypersomnie auslöse. Es bestehe aber auch keine chemische und pharmakodynamische Ähnlichkeit zu den Amphetaminen. Die Wirkung erfolge über GABAerge und dopaminerge Mechanismen. Die Zulassung gilt für die Behandlung von Patienten mit Narkolepsie oder obstruktivem Schlafapnoe-Syndrom und seit kurzem auch für den Einsatz bei Schichtarbeitern mit chronischen Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen.
Unter doppelblind placebokontrollierten Bedingungen wurde nachgewiesen, dass bei Patienten mit Schichtarbeiter-Syndrom (n = 209) die Einnahme von 200 mg Modafinil (eine Stunde vor Schichtbeginn) zu einer statistisch signifikanten Abnahme der Müdigkeit und Steigerung von Reaktionsfähigkeit, Konzentrationsvermögen und Aufmerksamkeitsleistungen geführt hatte.
Die Qualität des gewollten Schlafs war jedoch nicht beeinträchtigt worden, was sich in einer statistisch signifikant verbesserten Befindlichkeit niedergeschlagen hatte (Czeisler, CA et al.: New England Journal of Medicine 2005; 353: 476–86). Zusätzlich habe man dokumentiert, ergänzte Fietze, dass der Heimweg nach Schichtende im Verumkollektiv mit weniger Müdigkeitsattacken und Unfällen/ Beinahe-Unfällen einhergegangen sei als in der Kontrollgruppe. Gabriele Blaeser-Kiel

Pressekonferenz „Schichtarbeiter-Syndrom: Leben gegen die innere Uhr“ in Hamburg, Veranstalter: Cephalon

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