THEMEN DER ZEIT
Jüdische Ärzte in der NS-Zeit: „Wir waren Ausgestoßene“


Rebecca Schwoch
Für ein paar Tage weilte Ilse Jacobson im September 2001 in Berlin. Der Grund war eine Einladung des Jüdischen Museums, dem sie Teile des Familiennachlasses vermacht hatte. Eine Schenkungsurkunde bescheinigt über 50 Dokumente, Fotos und Bücher. Die Familie Jacobsohn hatte von 1919 bis 1939 in der Brandenburgstraße 73 in Berlin-Kreuzberg gelebt. Nichts erinnert mehr an diese Adresse, da das Haus nicht mehr existiert und die Straße umbenannt wurde: sie heißt heute Lobeckstraße. In der großen Wohnung befand sich auch die Praxis von Dr. med. Arthur Jacobsohn, Allgemeinpraktiker und Geburtshelfer.
Arthur Jacobsohn: Tief in der Tradition seines
Heimatlandes verwurzelt, glaubte er sich als
jüdischer Deutscher vor Verfolgungen sicher.
Die Ereignisse des Jahres 1933 versetzte jüdische Familien wie die Jacobsohns zwar in Schrecken, wirklich aufgerüttelt hat es sie aber noch nicht. Arthur Jacobsohn schrieb rückblickend: „Unglücklicherweise haben wir die Realität nicht gekannt. Verborgen unter der Oberfläche verbarg sich eine Unzufriedenheit der Mehrheit der deutschen Menschen. Es wird für immer ein Geheimnis bleiben, warum wir von den tragischen Ereignissen so überrascht waren, die folgten.“ (2) Auch Ilse Jacobson erinnert sich noch: „Wir waren guten Mutes, wir dachten, das ist eine Frage der Zeit, das ändert sich.“ (3) Den jüdischen Deutschen schien es unmöglich, dass ihr Einsatz im Ersten Weltkrieg, ihre Liebe zu Deutschland, ihre Wurzeln in der deutschen Kultur plötzlich nicht mehr zählen sollten. „Das Selbstverständnis der hoch assimilierten Juden“, so Wolfgang Benz, „war ein gewichtiger, zunächst sogar der gewichtigste Grund, der gegen die Auswanderung sprach. […] Die wenigsten glaubten den Drohungen, dass die ,Judenfrage‘ mit Gewalt gelöst würde.“ (4)
Als Frontkämpfer im
Ersten Weltkrieg blieb
Jacobsohn auch nach
1933 noch als Kassenarzt
zugelassen.
In finanzieller Hinsicht hatten die Reichsfluchtsteuer oder die Devisenbestimmungen von Anfang an dafür gesorgt, dass Juden ihr Vermögen nach und nach an den Fiskus abgeben mussten. Die Reichsfluchtsteuer, die bereits 1931 eingeführt worden war, um kapitalkräftige Personen von der Auswanderung abzuhalten, wurde im Mai 1934 durch eine Absenkung des Freibetrags von 200 000 RM auf 50 000 RM verschärft. Diese Steuer war primär ein Instrument der Enteignung emigrierender Juden durch den Staat. Die Behörden begründeten diese Regelung damit – so Susanne Heim –, dass Juden ihr Vermögen auf Kosten der nichtjüdischen Deutschen angehäuft hätten (5). Was die Reichsfluchtsteuer den Emigranten an Vermögen gelassen hatte, wurde durch die restriktive Devisengesetzgebung weiter abgeschöpft. Juden mussten ihr Vermögen auf ein Sperrkonto einzahlen und konnten nur unter großen Verlusten Geld abheben; 1938 lagen die Einbußen bei 90 Prozent (6). Hinzu kam, dass auch die Zufluchtsländer die Einwanderungsbestimmungen für mittellose Emigranten nicht lockerten.
Das Attentat im November 1938 auf den deutschen Botschafter in Paris hatte nicht nur die fürchterlichen Novemberpogrome zur Folge, sondern auch die so genannte Judenvermögensabgabe, nach der die Gesamtheit der Juden mit einer Kontribution von 1 Milliarde RM bestraft wurde.
Sie betrug 20 Prozent des Vermögens über 5 000 RM, zahlbar in vier Raten. Diese Sühneleistung bereicherte die Staatskasse um insgesamt fast 1,12 Milliarden RM.
Weitere diskriminierende Verordnungen schlossen sich an: Zum 30. September 1938 erloschen per Gesetz alle Approbationen jüdischer Ärzte. Sie durften sich von nun an – sofern sie eine jederzeit widerrufliche Genehmigung des Reichsinnenministeriums auf Vorschlag der Reichsärztekammer besaßen – nur noch „Krankenbehandler“ nennen und ausschließlich jüdische Patienten behandeln. In jenem Jahr galt die „Ausschaltung“ der jüdischen Ärzte als beendet. Reichsärzteführer Gerhard Wagner konnte befriedigt feststellen: „Diesen jüdischen Verbrechern ist jetzt das Handwerk gelegt.“ (7)
Arthur Jacobsohn erhielt eine Genehmigung als „Krankenbehandler“, aber inzwischen war ihm klar geworden, dass es keine Alternative zur Auswanderung geben würde. Von nun an suchten die Jacobsohns fieberhaft nach Möglichkeiten, Affidavits für drei Personen zu bekommen. Solche Bescheinigungen von US-Bürgern, die für den Unterhalt eines Einwanderers bürgten, waren obligatorisch, um in die USA einreisen zu dürfen. Elisabeth Jacobsohn übernahm die zermürbende Aufgabe, sich um die Ausreiseerlaubnis und um Schiffspassagen zu kümmern. Sie antichambrierte bei Konsulaten und Reedereien, sie stand
um polizeiliche und finanzamtliche Unbedenklichkeitsbescheide an, regelte die zollamtliche Abfertigung des Hab und Gut. In ihrer Autobiografie (8) beschreibt sie minutiös, wie sie mit letzter Kraft diese Aufgabe bewältigte. In der renommierten Straße „Unter den Linden“ fand sie ein Reisebüro der HAPAG/Hamburg-Amerika-Linie, vor dem nicht schon Hunderte von Hilfesuchende anstanden. Um überhaupt Gehör zu finden, übergab sie dem Reisebüro-Angestellten einen Briefumschlag mit 100 RM. Damit erreichte sie, zumindest auf die Warteliste gesetzt zu werden, denn die Schiffe waren komplett ausgebucht. Für den 30. März 1939 erhielt sie doch noch drei Passagen in der 3. Klasse nach Havanna auf Kuba, die später in 1.-Klasse-Tickets umgetauscht werden konnten; von Havanna sollte es weiter in die USA gehen. Kuba verlangte ein Touristenpfand von 500 Dollar pro Person. Auch das musste bezahlt werden. Mittlerweile hatte die jüdische Loge B’nai B’rith das Logenmitglied Nathan Darsky vermittelt, der sich bereit erklärte, den drei ihm unbekannten Personen mit den lebensrettenden Affidavits zu helfen.
Nach Entzug der Approbation 1938 durfte
Jacobsohn nur noch Juden behandeln.
In den letzten beiden Wochen in Berlin galt es Abschied zu nehmen und zu warten. Es gab nichts mehr zu tun. Ein alter Mann aus der Nachbarschaft kam ein letztes Mal – mit einer Zange, um auch noch die letzten Nägel aus den Wänden zu ziehen. Auf Elisabeths entrüstete Frage, warum er dies tue, antwortete er lapidar: „Die können Sie doch sowieso nicht mitnehmen.“
Schwieriger Neuanfang
Gerade noch rechtzeitig konnten die Jacobsohns Deutschland in Richtung Kuba verlassen.
Fotos: R. Schwoch
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2006; 103(11): A 676–680
Literatur
1. Jacobson, Arthur: 57 Years in the Service of Humanity, 1912 to 1969. Memoirs of a retired Physician, o.J. (unveröffentlichtes Manuskript), S. 36. (Übersetzung aus dem Englischen: Rebecca Schwoch)
2. Jacobson, Arthur: 57 Years in the Service of Humanity, S. 52.
3. Interview Rebecca Schwoch mit Ilse Jacobson in Oak Park, März 2003.
4. Benz, Wolfgang: Das Exil der kleinen Leute, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Das Exil der kleinen Leute. Alltagserfahrung deutscher Juden in der Emigration, München: C.H. Beck 1991, S. 13, 15.
5. Heim, Susanne: Vertreibung, Raub und Umverteilung. Die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und die Vermehrung des „Volksvermögens“, in: Gesellschaft zur Förderung zeitgeschichtlicher Forschungen (Hg.): Flüchtlingspolitik und Fluchthilfe (= Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 15), Berlin: Verlag der Buchläden Schwarze Risse, Rote Straße 1999, S. 107–138, hier S. 109.
6. Vgl. Heim, Susanne: Vertreibung, Raub und Umverteilung, 1999, S. 112.
7. Wagner, Gerhard: Rasse und Volksgesundheit, in: Der Parteitag Großdeutschland vom 5. bis 12. September 1938. Offizieller Bericht über den Verlauf des Reichsparteitages mit sämtlichen Kongreßreden, München 1938, S. 122–133, hier S. 123.
8. Jacobson, Elizabeth: The Stone was an Opal, o.J. (unveröffentlichtes Manuskript). (Übersetzung aus dem Englischen: Rebecca Schwoch)
Anschrift der Verfasserin:
Dr. phil. Rebecca Schwoch
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Martinistraße 52, 20246 Hamburg
Tagebucheintrag
In ihrem Tagebuch, das Elisabeth Jacobsohn auf der Schiffsfahrt von Hamburg nach Havanna schrieb, notierte sie:
„Eigentlich wollte ich am ersten Reisetage beginnen, am Abfahrtstage, – abends hatten wir die Koffer noch nicht öffnen können, und in einem lag dies Heft. Ich hatte mir sogar vorgenommen, in Berlin anzufangen, sobald die Vorfreude der Reisevorbereitungen sich eingestellt hatte. Diese Vorfreude aber kam nicht, kam überhaupt nicht. Es war doch alles so schwierig und umständlich: dies Listenschreiben, dies Warten auf die Packerlaubnis, dies Beschaffen von Geld für die Einreise – von all den Kriegsgerüchten ganz zu schweigen. Und dann die Bedenken: Werden wir in Cuba leben können trotz der Hitze? Werden wir alle drei gesund bleiben? Werden wir überhaupt an Land dürfen? Werden wir einigermaßen mit der Sprache fertig werden? Werden wir arbeiten und etwas verdienen dürfen? Immer denkt man ,wir’, niemals ,ich’, – immer geht es um uns alle drei. Und es ging doch eigentlich alles ganz glatt und einwandfrei: Das Geld war da, die Erlaubnis kam, das Packen ging ganz leicht, der Verkauf unserer Möbel brachte angemessenes Geld, – die Gold- u. Silbersachen mußten allerdings alle fortgegeben werden und kosteten viele Tränen: so viele liebe Erinnerungen wurden wach, – aber was half das? Dann blieben wir zurück in der leeren, kalten Wohnung; wir zogen was an und bestellten einen Wagen; Dr. Weber, der Verlobte der arischen Ärztin, die das meiste gekauft hatte, brachte uns an die Taxe und sagte: ,Denken Sie an Deutschland ohne Bitterkeit!’ Dann fuhren wir fort und kamen in die Pension am Kurfürstendamm, die Wirtin war eine keifende Alte, die das Telefonieren untersagte, aber das Zimmer war groß und warm und freundlich. Das Abschiednehmen begann, und das war traurig und schwer, dies denken: all die Alten triffst du nie mehr wieder – und die Jüngeren vielleicht auch nicht mehr. Dann fuhren wir alle nach Hamburg."
Pross, Christian
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.