THEMEN DER ZEIT
Priorisierung von Gesundheitsleistungen: Die beste Medizin für alle – um jeden Preis?


Durch Rationalisierung können beträchtliche Einsparungspotenziale im Gesundheitsbereich realisiert werden. Sie werden jedoch auf lange Sicht nicht jenen Umfang erreichen, der vor allem aufgrund der demographischen Entwicklung nötig wäre. Deshalb muss zur Rationalisierung die Rationierung hinzukommen. Unter Rationierung versteht man die Verteilung knapper Grundgüter nach rationalen und transparenten Kriterien. Die Mehrheit der Ärzte geht schon seit längerem davon aus, dass es bereits Rationierung gibt – allerdings meist ohne transparente, von bestimmten Einrichtungen festgelegte Kriterien. Die Zuteilung knapper Ressourcen erfolgt willkürlich und intuitiv. Darüber hinaus wird sie in der Regel den Ärzten angelastet, obwohl es eigentlich Aufgabe der Politik wäre, auf demokratischem Wege Verteilungsregeln zu definieren.
Nicht wenige folgern aus dem in der allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen formulierten „Grundrecht auf medizinische Versorgung“ ein Menschenrecht auf Maximalversorgung. Doch ist unbestritten, dass alle Menschenrechte, sogar das Grundrecht auf Leben, im Konfliktfall zugunsten anderer gleich- oder höherwertiger Grundrechte zurückgestellt werden können und müssen. Menschenrechte stehen in Konkurrenz und konfligieren miteinander. Ihre Abwägung im Konfliktfall fordert aus Achtung vor der Menschenwürde der beteiligten Personen vor allem Unparteilichkeit und Rationalität.
Eine Gesellschaft hat gewisse Grenzen ihrer Tragekapazität. So haben
die halbnomadischen Indianer-Stämme Nordamerikas anlässlich ihrer langen und anstrengenden Wanderung in die Winterquartiere jene Alten zurückgelassen, die nicht mehr in der Lage waren, aus eigener Kraft mitzuziehen. Die Alternative zu dieser Praxis, die letztlich einen fairen und rationalen Generationenvertrag darstellte, wäre der Untergang des gesamten Stammes gewesen, den niemand wünschen konnte.
In der modernen Industriegesellschaft geht es nicht um das kurzfristige Überleben. Allerdings bleibt es eine Frage intergenerationeller Gerechtigkeit, welchen Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung eine Gesellschaft vernünftigerweise und dauerhaft für Gesundheitsleistungen ausgeben kann. Wenn etwa zugunsten einer perfekten Gesundheitsversorgung an der nötigen Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur gespart wird, dann fällt das nicht nur nachteilig auf das Gesundheitssystem selbst zurück, das diese Infrastruktur direkt nutzt, sondern beeinträchtigt zudem in erheblichem Maße die mittlere Generation, die das Geld für die Gesundheit erwirtschaften soll. Und wenn die Optimierung der Gesundheitsvorsorge Einsparungen an Bildung und Forschung nötig macht, gilt Analoges im Blick auf die jüngere Generation. Otfried Höffe hat also Recht, wenn er hier eine Betrachtung unter dem Blickwinkel der intergenerationellen Gerechtigkeit fordert (1).
Der erste Schritt innerhalb einer Rationierungsdebatte für das Gesundheitssystem wäre folglich die Bestimmung des gerechten Anteils der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) einer Gesellschaft. In der Mehrheit der Industrieländer liegt dieser Wert bei genügender Effizienz zwischen sieben und zehn Prozent des BIP. Paradigmatisch für die Verteilung des so definierten „Kuchenstücks“ wären dann zwei Bereiche, in denen die Rationierung medizinischer Leistungen absolut unumgänglich und daher längst üblich ist: die Organallokation im Transplantationswesen (hier herrscht absolute Organknappheit) und die Erstbetreuung von Verunglückten bei Massenunfällen (hier herrscht absolute Zeit- und Personalknappheit). In beiden Fällen gibt es anerkannte Vorzugsregeln für die Frage, wer in den Genuss medizinischer Leistungen kommt.
Unter Sozialethikern unumstritten ist, dass sich alle Modelle am Maßstab der Gerechtigkeit messen lassen müssen. Klassisch wird strukturelle Gerechtigkeit definiert als jener Zustand, der garantiert, dass jeder das Seine zum Gemeinwohl beiträgt und jedem das Seine gegeben wird – im Rahmen der Möglichkeiten. Sinn der Gerechtigkeit ist die Absicherung für den Fall, dass jemand gegen seinen Willen extreme Nachteile in Kauf nehmen muss. Ziel ist freilich, dem Einzelnen durch die Unterstützung der Gemeinschaft ein Maximum an Eigenständigkeit zu ermöglichen.
In diesem Zusammenhang hat Otfried Höffe einen intensiven Diskurs angestoßen, in dessen Mittelpunkt die Frage steht, welches Prinzip den Vorrang habe – die Leistungs- oder die Verteilungsgerechtigkeit. Steht Eigenverantwortung oder Solidarität an erster Stelle? Höffe selber postuliert den Primat der Eigenverantwortung. Die solidarische Pflichtversicherung sei nur ein Korrektiv, um die in der Neuzeit entfallenen Sozialstrukturen des Mittelalters wie Zunft oder Familie auszugleichen. Allerdings sagt dies nur etwas über die Genese, nicht über die systematische Priorität der Leistungsgerechtigkeit aus. Die Mehrheit der Sozialethiker
(2, 3, 4, 5) wendet deshalb gegen Höffe ein, die Verteilungsgerechtigkeit dürfe nicht nur als nachträgliche Reparatur eines zuvor funktionierenden Systems exklusiver Leistungsgerechtigkeit gesehen werden. Vielmehr sei der Schutz der Schwächsten durch die Gemeinschaft deren originäre Aufgabe. Michael Schramm sieht die Solidarsysteme politisch als Bedingung dafür, dass Menschen dem System einer Marktwirtschaft überhaupt zustimmen, und ökonomisch als Bedingung dafür, dass sie daran effizient teilnehmen können und bereit sind, wirtschaftliche Risiken einzugehen – so wie das Sicherheitsnetz die Möglichkeitsbedingung für Hochseilakte ist (5).
Im Grunde plädieren alle am Diskurs beteiligten Ethiker für eine Zweistufung der Krankenversicherung:
- Die erste Stufe gewährleistet die Grundversorgung; sie wird getragen durch die Solidargemeinschaft und organisiert sich gemäß dem Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit. Jeder bekommt, was er braucht – im Rahmen der Möglichkeiten. Es besteht eine beiderseitige Versicherungspflicht, das heißt, die beteiligten Krankenkassen müssen jede Person versichern; jeder ist aber auch verpflichtet, sich in einer derartigen Versicherung versichern zu lassen und damit am Solidarpakt teilzunehmen.
- Die zweite Stufe ermöglicht die Wahlversorgung. Sie wird getragen durch ein Zweckbündnis von Eigenverantwortlichen und organisiert sich nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Jeder bekommt das, wofür er sich durch zusätzliche Beiträge versichert. Hier besteht auf beiden Seiten keinerlei Zwang. Versicherer haben das Recht, Risikogruppen höher zu belasten oder ganz auszuschließen. Und Versicherte besitzen die freie Wahl, ob und was sie zusätzlich versichern lassen wollen.
Die eigentliche Streitfrage besteht darin, wie Grund- und Wahlversorgung vernünftig gegeneinander abgegrenzt werden. Und genau hier tendiert Höffe zu einer sehr engen Begrenzung der Grundversorgung, aus der vieles von dem, was die Bevölkerungsmehrheit wohl für selbstverständlich erachtet, herausfiele. Sinnvoller wäre es dagegen, die Grundversorgung weiter zu fassen, gleichzeitig aber ein zusätzliches Instrument zur Rationierung auf der Ebene der Mikroallokation einzusetzen.
Der Wahlversorgung zuzuordnen wären danach eindeutige Komfortsteigerungen (etwa 1-Bett-Zimmer im Krankenhaus, Schönheitschirurgie und Wellness-Leistungen), künstliche Befruchtung, Mittel der Empfängnisverhütung und Abtreibung (soweit nicht medizinisch indiziert) und Sterbegeld. Nicht zur Grundversorgung gehörten darüber hinaus nichtevidenzbasierte Therapien wie die meisten Angebote der Alternativmedizin, schließlich durch gesundheitsförderndes Verhalten eindeutig (!) vermeidbare Therapien wie Zahnersatz oder die Behandlung nach einem Unfall, der sich bei Ausübung einer Risikosportart ereignet hat. Für letzteren Bereich ist es wichtig, dass sich die Kosten der medizinischen Behandlung zweifelsfrei dem ungesunden Verhalten zurechnen lassen. Für Psychotherapien, Kuren und Massagen dürfte sich, sofern sie nur zielgenau verschrieben werden, auf lange Sicht ein Entlastungseffekt für die Krankenversicherung errechnen lassen; denn als prophylaktische Maßnahmen sind sie allemal billiger als aufwendige Intensivtherapien, nachdem jemand deswegen schwer erkrankt ist, weil er sich keine Kur leisten konnte.
Somit bleiben für die Grundversorgung alle prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen gegen Krankheiten, die die normalen altersentsprechenden Lebensvollzüge eines Menschen signifikant einschränken und damit so genannte DALY (disability adjusted life years) produzieren – Lebensjahre, die mit spürbaren Einschränkungen verbunden sind, im Extremfall mit der Totaleinschränkung, dass sie gar nicht mehr gelebt werden. Allerdings wird diese Grundversorgung dadurch eingeschränkt, dass die Kosten dafür nur einen bestimmten Anteil des BIP betragen dürfen. Diese Grenze wird schon heute – erst recht in einigen Jahrzehnten – zu schmerzlichen und fühlbaren Leistungseinschränkungen führen. Nicht jede Therapie einer Krankheit, die DALY produziert, wird finanzierbar sein. Wenn nicht von vornherein ganze Leistungsbereiche aus der Solidarversicherung herausgenommen werden, muss eine andere Methode transparenter und rationaler Rationierung gefunden werden. Sie findet dann nicht mehr auf der Makroebene des Versicherungssystems, sondern auf der Mikroebene der Behandlung einzelner Patienten/ Patientinnen statt. Genannt wird sie Priorisierung. Denn sie entwickelt Indikatoren, die die Priorität einzelner Behandlungen anzeigen.
Rationierungskriterien
Zwar wenden sich einzelne Ethiker generell gegen das Prinzip der Priorisierung (4). Dadurch würden die Menschen quantitativ nach „Würdigkeiten“ bemessen und somit relativiert. Allerdings war Kant nicht dagegen, den Träger der Würde auch (!) unter Nutzenaspekten zu betrachten. Einzig die ausschließliche Beurteilung auf der Grundlage von „Würdigkeiten“ lehnte er ab. Insofern hält die Mehrheit der Ethiker grundsätzlich eine Priorisierung für verantwortbar. Entscheidend ist jedoch, nach welchen Kriterien sie geschieht. Und hier werden in der Tat die unterschiedlichsten Vorschläge gemacht. Zunächst sollen die zur Diskussion stehenden nichtmedizinischen Kriterien kurz dargelegt werden, um zu zeigen, dass sie allesamt bestenfalls als nachgeordnete Kriterien infrage kommen, wenn die medizinischen Parameter zu keiner klaren Vorzugslage geführt haben.
- Denkbar als ein Kriterium wäre die gesellschaftliche Funktion der Patienten: Vorzugsweise würden von der
Solidarversicherung Therapien gesellschaftlich wichtiger Personen finanziert. Doch der Versuch von Beat Sitter-Liver, dies zumindest für Mütter kleiner Kinder zu begründen, weil diese als Personen „unersetzlich“ seien (6), zeigt, dass eine solche Herangehensweise notwendig scheitern muss: Wer ist schon wirklich unersetzlich?
- Häufiger wird der Vorschlag gemacht, das Alter eines Menschen zum Kriterium zu erheben. So argumentiert Norman Daniels bereits 1985 vertragstheoretisch: Wenn man die Menschen unter dem Schleier des Nichtwissens einen Solidarvertrag über das Gesundheitswesen schließen ließe, würden sie dafür votieren, ab einem bestimmten Lebensalter nur noch die Kosten für schmerzlindernde Maßnahmen zu tragen, die Finanzierung lebensverlängernder Therapien jedoch abzulehnen. Die Alten hätten schließlich zu diesem Zeitpunkt ihr Leben gelebt, und die Solidargemeinschaft wäre kaum bereit, für deren Lebensverlängerung noch sehr viel Geld einzusetzen – das für die notwendige Versorgung in den davor liegenden Lebensjahren nicht zur Verfügung stände. In Deutschland hat dies zuletzt Joachim Wiemeyer 2002 als die einzig sinnvolle Generalperspektive bezeichnet. Anders als Daniels argumentiert er aber mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit: Jeder solle in etwa so viel aus der Krankenversicherung herausbekommen, wie er eingezahlt habe. Wenn also die meisten nicht übermäßig viel einbezahlen wollten, sei es nur gerecht, teure Versicherungsleistungen jenseits der Schmerztherapie auf ein bestimmtes Alter zu begrenzen: Dies bedeute auch keine Altersdiskriminierung, denn „im Alter gelten für alle die gleichen Regeln“ (7). Die scharfe Kritik, die dieser Vorschlag in der Öffentlichkeit erfuhr, könnte womöglich ein Indikator dafür sein, dass es mit der angeblichen Gerechtigkeit dieses Kriteriums so weit nicht her ist. Denn ist es gerecht, dass ein Sterbender im Alter von 79 Jahren einen Anspruch auf maximale Therapie hat, wohingegen ein kerngesunder 81-Jähriger kein neues Hüftgelenk mehr bekommt, obwohl er vielleicht 90 oder 100 Jahre alt wird? In einem Solidarsystem ist eine fixe Altersgrenze ungerecht und am gesellschaftlichen Gesamtnutzen gemessen auch ineffizient.
- In die Diskussion eingebracht wird auch das Kriterium der ausgleichenden Gerechtigkeit: Wer im Laufe seines Lebens schon viele Krankheiten erlitten hat, soll im Zweifel den Vorzug erhalten. Doch Dieter Birnbacher, der diesen Vorschlag vertritt, schränkt ihn selbst ein und will das Kriterium nur als den medizinischen Kriterien nachgeordnetes zulassen (8).
- Schließlich schlägt der Gesundheitsökonom Jens Hohmeier vor, ausgehend von den für das Behandlungsoptimum aufzubringenden Kosten, bei allen Patienten die Ausgaben um den gleichen Prozentsatz zu reduzieren (9). Bei einer solchen alle betreffenden proportionalen Kürzung würde allerdings mancher Patient extrem kostenintensiv noch ein paar Tage länger am Leben gehalten, wohingegen andere sofort sterben müssten, etwa weil eine 80-prozentige Herztransplantation nichts nützt.
Die bisherigen Versuche, eine Priorisierung von Gesundheitsleistungen auf nichtmedizinischen Kriterien zu basieren, müssen als gescheitert gelten. Sie erinnern an entsprechende Überlegungen bei der Zuteilung von Spenderorganen. Dort hat sich als einziges nicht streng medizinisches Kriterium für die Organallokation die Wartezeit etabliert, die mit je nach Organ unterschiedlichem Gewicht in die Entscheidung einfließt. Sie ähnelt dem Kriterium ausgleichender Gerechtigkeit, das Birnbacher vorschlägt. Allerdings ist sie zugleich auch ein medizinischer Indikator: Abgesehen von dringlichen Fällen, die bei der Organzuteilung eine Vorzugsbehandlung erfahren, sagt die Wartezeit ja auch etwas über den Progressionsgrad der Erkrankung. Erst recht folgt die Entscheidung von Notfallärzten, wen sie nach einem Massenunfall zuerst behandeln, ausschließlich medizinischen Kriterien. Alles andere wäre in der Kürze der Zeit ohnehin völlig unangemessen. Könnte es also sein, dass die Beschränkung auf medizinische Kriterien bei der Zuteilung von Gesundheitsleistungen der gerechteste Weg ist – nicht nur aus pragmatischen, sondern aus systematischen, sachimmanenten Gründen?
In der Praxis folgten bisher alle Versuche der Priorisierung dieser Strategie. Bei dem im US-Bundesstaat Oregon 1994 unter der Bezeichnung „Prioritization of Health Services“ begonnenen Rationierungsansatz wurde eine Liste von 17 Kategorien entwickelt, in die alle Krankheiten einzuordnen sind. Jährlich entscheiden die Verantwortlichen des Gesundheitssystems je nach Budgetlage, bis zu welcher der 17 Stufen Krankheiten aus dem allgemeinen Geldtopf finanziert werden können und ab wo die Kranken selbst bezahlen müssen. Unter dem Motto „allen etwas, aber nicht allen alles geben“ zielt der Plan auf eine Rationierung der Leistungen. Allerdings wirkt eine solche Liste sehr bürokratisch, die 17 Kategorien folgen keiner erkennbaren inneren Logik und wirken ein wenig willkürlich.
Eine klarere Strategie ist dort zu erkennen, wo die Priorisierung am Kosten-Nutzen-Verhältnis ausgerichtet wird. Nutzen bedeutet hier die durch die medizinische Behandlung gewonnenen guten Lebensjahre. In einem ersten Schritt wird die durch eine medizinische Maßnahme erzielte Lebensqualitätssteigerung mit der Zeitdauer multipliziert, für die sie prognostiziert wird. Kann also durch eine Maßnahme die Lebensqualität eines Kranken für die Dauer eines Jahres von der Hälfte des Durchschnittswerts gesunder Menschen auf diesen Durchschnittswert gesteigert werden, so wird dies ebenso gewichtet wie die Lebensverlängerung um ein halbes Jahr mit normaler Lebensqualität. Im zweiten Schritt errechnet man die Kosten für jede Maßnahme und streicht jene Maßnahmen aus dem Finanzierungskatalog, die den schlechtesten Kosten-Nutzen-Faktor aufweisen. Auf diese Weise wird festgelegt, wie viel der Sozialgemeinschaft ein Lebensjahr mit guter Lebensqualität wert ist.
Auf den ersten Blick hat die Priorisierung von Gesundheitsleistungen gemäß ihrem Kosten-Nutzen-Verhältnis einen gravierenden Nachteil: Sie ist „utilitaristisch“. Denn sie strebt nach dem größtmöglichen Gesamtnutzen, der sich mit einem begrenzten Gesundheitsbudget erzielen lässt. Und da kann es in der Tat vorkommen, dass einzelne Menschen etwas nicht bekommen, damit andere umso gesünder und besser leben können. Das aber ist für die kontinentaleuropäischen Gesellschaften noch immer ein unverzeihlicher Makel.
Zwei Dinge werden aber bei dem Utilitarismusvorwurf völlig übersehen: Erstens wird selbstverständlich vorausgesetzt, dass jedes Mitglied der Gesellschaft am Gesundheitssystem teilhat. Die Frage, ob um der größeren Nutzensumme willen einzelne Personen aus der Gesundheitsversorgung gänzlich ausgeschlossen werden sollten, stellt sich für sie überhaupt nicht. Genau genommen werden also im Ernstfall knapper Kassen nicht Menschen geopfert, sondern konkrete Möglichkeiten von Menschen. Nicht mehr und nicht weniger. Zweitens ist es ebenso entscheidend, dass hier allein Therapien im engen Sinn gegeneinander abgewogen werden. Die Abwägung konfligierender Güter betrifft hier nur jene Maßnahmen, die Krankheiten heilen. Schönheitsoperationen und Wellnessangebote, so sehr sie auch zur Lebensqualität von Menschen beitragen können, gehören – wie bereits beschrieben – nicht in die solidarische Pflichtversicherung. Das Opfer, das jemand also gegebenenfalls durch den Verzicht auf eine hilfreiche Therapie erbringen muss, wird zugunsten anderer hilfreicher Therapien für andere kranke Menschen vollzogen – nicht um des noch größeren Spaßes von Gesunden. Insofern hat Wolfgang Kersting Recht mit der Behauptung, Nützlichkeitserwägungen dürften im Rahmen von Gerechtigkeitserwägungen sehr wohl eine Rolle spielen, wenn sie nur in den Kontext eines egalitären Verteilungssystems implementiert seien (10).
Die Frage, welche Priorisierung mit begrenzten Mitteln die aufs Ganze gesehen optimale Wirkung ermöglicht, leitet mit Erfolg seit Jahrzehnten die Strategie der Notfallmedizin bei Massenunfällen und die Allokationssysteme der Organtransplantation. Diese empfiehlt sich analog auch für die Priorisierung der Leistungen einer zukunftsfähigen Grundversicherung im Gesundheitswesen. Sie ist transparent, rational und gerecht. Darüber hinaus kommt ein zusätzlicher Vorteil hinzu, den die WHO sich seit gut zehn Jahren zunutze macht: Die Berechnung von medizinischen Kosten-Nutzen-Verhältnissen ermöglicht es, die Gesundheitspolitik insgesamt auf solide Füße zu stellen. So lassen sich globale Strategien entwickeln, welche Krankheiten (auch mit internationaler Hilfe) zuerst bekämpft werden müssen – jene nämlich, die die geringsten Kosten zur Vermeidung von „disability adjusted life years“ (DALY) aufweisen. So kostet etwa eine Tetanusimpfung in den Entwicklungsländern nur etwa 3,5 US-$, Hygieneaufklärung 20 US-$ und Malariaprophylaxe 50 US-$ pro vermiedenen DALY. In den Industrieländern hingegen schlagen die flächendeckende Mammographie ab dem 40. Lebensjahr mit 150 000 $, die Installation von Rauchmeldern in öffentlichen Gebäuden mit 240 000 $ und der Betrieb eines Radioaktivitätskontrollsystems mit 834 000 $ pro vermiedenen DALY zu Buche (11). Was in diesem Zusammenhang globale Gerechtigkeit bedeutet, liegt auf der Hand. Und so sucht die WHO mittlerweile vor allem die Bekämpfung jener Krankheiten zu propagieren, die Industrie- und Entwicklungsländern gleichermaßen großen Nutzen brächten. Die ersten drei Krankheiten auf der WHO-Liste sind: Infektionen aufgrund antibakterieller Resistenzen, pandemische Influenza, Herz-Kreislauf-Erkrankungen (präventiv). Erst danach folgen Diabetes, Krebs und Schlaganfall. Das Priorisierungsmodell der DALY hat einen unabweisbaren Vorteil: Von der Makro- bis zur Mikroebene, von den Entscheidungen globaler Gesundheitspolitik bis zu den Vorzugsentscheidungen auf der Intensivstation eines Krankenhauses, und sogar über den Gesundheitsbereich hinaus in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist es auf alle Bereiche einfach und transparent anwendbar. Und es ist gerecht, wenn nur die entsprechenden Rahmenbedingungen vorausgesetzt werden.
Die beste Medizin für alle – um jeden Preis! So tönen noch immer die Parolen vieler Politiker. Die wirksamste Medizin für alle – um einen begrenzten, aber gerechten Preis! Wäre das nicht sinnvoller?
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2006; 103(12): A 764–7
Literatur
1. Höffe O: Besonnenheit und Gerechtigkeit. Zur Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen. In: Schlicht W, Dickhuth HH (Hrsg.): Gesundheit für alle. Fiktion oder Realität? Schorndorf 1999; 155–184.
2. Dabrock P: Tauschgerechtigkeit im Gesundheitssystem? In: Zeitschrift für evangelische Ethik 1999; 43: 2–22.
3. Dabrock P, Gabriel K: Einladung zum Missbrauch? Eine Kritik aktueller gesundheitspolitischer Stellungnahmen der Kirchen. Herder Korrespondenz 2003; 57, 403–6.
4. Pöltner G: Verteilung von Ressourcen im Gesundheitswesen. In: Ders: Grundkurs Medizin-Ethik. Wien 2002, 287–312.
5. Schramm M: Umbau des sozialstaatlichen Gesundheitssystems. Zeitschrift für medizinische Ethik 1997; 43, 233–44.
6. Sitter-Liver B: Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 2003; 50, 438–63.
7. Wiemeyer J: An Haupt und Gliedern. Eckpunkte für eine umfassende Gesundheitsreform. Herder Korrespondenz 2002; 56: 605–10.
8. Birnbacher D: Ethische Probleme der Rationierung im Gesundheitswesen. In: Brudermüller G (Hrsg.): Angewandte Ethik und Medizin. Würzburg; 1999: 49–64.
9. Hohmeier J: Gerechtigkeit bei der Verteilung und Rationierung von Gesundheitsleistungen – eine wirtschaftsethische Analyse der gesetzlichen Krankenversicherung, Herdecke 2000.
10. Kersting W: Gerechtigkeit und Medizin. In: Ders: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Frankfurt/Main, 1997; 170–212.
11. ZEIT 42: 41 vom 9. 10. 2003.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. theol. Michael Rosenberger
Institut für Moraltheologie
Bethlehemstraße 20, A-4020 Linz
Grafik: Kinder ohne Impfschutz
Gutzeit, Tilo
Fege, Jürgen
Franck, Martin