POLITIK
Gemeinsamer Bundesausschuss: „Wir wollen die Ärzte früh informieren“
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Dr. jur. Rainer Hess, Jahrgang 1940, war
von 1971–1987 Justiziar der gemeinsamen
Rechtsabteilung von Bundesärztekammer
und Kassenärztlicher Bundesvereinigung
(KBV), von 1988–2003 KBVHauptgeschäftsführer.
Seit 2004 ist er unparteiischer
Vorsitzender des Gemeinsamen
Bundesausschusses.
Fotos: Eberhard Hahne
INTERVIEW
DÄ: Die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Akupunktur ist umstritten. Welche Positionen der GKV-Vertragspartner sind in die Diskussion eingeflossen?
Hess: Die Vertreter der Ärzte im Gemeinsamen Bundesausschuss haben, auch unterstützt durch ein Votum der Bundesärztekammer, die Effizienz der Akupunktur bezweifelt. Sie haben die Ergebnisse des Feldversuchs, der über sechs Jahre unter Beteiligung vieler Ärzte und Patienten lief, vor allem auf Placebo-Effekte zurückgeführt. Die Krankenkassen standen dagegen auf dem Standpunkt, dass die Akupunktur bei bestimmten Indikationen – Rückenschmerz und Knieschmerz – evidenzbasiert besser wirkt als die konventionelle Schmerztherapie und deshalb in den GKV-Leistungskatalog aufgenommen werden soll.
DÄ: Wie sieht es mit der Indikation Kopfschmerz/Migräne aus?
Hess: Für eine Wirksamkeit der Akupunktur in diesem Bereich gab es keine hinreichende Evidenz. Weitere Modellversuche für diese Indikation hat der
G-BA verhindert. Ich bin der Auffassung, dass man nach sechs Jahren Versuchsphase mit einem derart großen Finanzvolumen von weiteren Modellversuchen keine weiteren Erkenntnisse erwarten kann. Auch um Marketingstrategien der Krankenkassen zu beenden, war es nun geboten, Entscheidungen zu treffen – und die mussten bei dieser Indikation negativ ausfallen.
DÄ: Geht der G-BA nicht hinter seine eigenen Standards zurück, wenn er die Wirksamkeit einer Placebo-Akupunktur als ausreichend für die Aufnahme in den GKV-Leistungskatalog erachtet?
Hess: Das ist falsch dargestellt worden. Die Schein-Akupunktur war eben keine Placebo-Akupunktur, sondern eine Verlagerung der Nadelungspunkte mit einer etwas geringeren Einstichtiefe. Das war mit ein Grund dafür, dass die Mehrheit des Ausschusses der Meinung war, dass man nicht von einem Placebo-Effekt der TCM-Akupunktur gegenüber der anderen Akupunktur reden kann. Es ist nur bewiesen worden, dass die Traditionelle Chinesische Medizin mit ihrer genauen Punktlokalisation nicht besser ist als eine etwas aufgelockerte Punktlokalisation, was aber nicht den Charakter eines Placebo-Effektes hat. Die Mehrheit des G-BA war der Ansicht, dass es sich hier um evidenzbasierte Ergebnisse der Evidenzstufe eins handelt, die man beachten muss.
DÄ: Die nächste anstehende Entscheidung des G-BA betrifft die Erstattungsfähigkeit der Insulinanaloga. Wann ist hier mit einem Ergebnis zu rechnen?
Hess: Es gibt eine Bewertung des IQWiG, wonach ein Zusatznutzen der kurz wirksamen Insulinanaloga bei Diabetes Typ 2 nicht belegt ist. Die Beschlussvorlage des G-BA geht von dieser Bewertung aus; danach ist die Verordnung dieser um 30 Prozent teureren Insuline bei dieser Indikation unwirtschaftlich und muss deswegen ausgeschlossen werden – es sei denn, es handelt sich um Patienten, die auf Insulinanaloga eingestellt worden sind und umgestellt werden müssten. Die Ergebnisse des Stellungnahmenverfahrens werden zurzeit ausgewertet; es wird auch noch einmal die Plausibilität der IQWiG-Bewertung überprüft. Eine Entscheidung wird im Mai oder Juni getroffen werden.
DÄ: Wie werden die Arzneimittelhersteller auf ein negatives Votum reagieren?
Hess: Ich gehe davon aus, dass sie bei Verordnungsausschluss klagen werden. Die Stellungnahme des IQWiG wird angezweifelt werden. Auch aus diesem Grund machen wir die Plausibilitätsprüfung. Diskutiert werden müsste im G-BA noch, ob man direkt einen Verordnungsausschluss der Insulinanaloga in den Arzneimittel-Richtlinien vornimmt oder vorher noch einmal das Thema Festbeträge diskutiert.
Hess: Es gibt die Aktionen der Diabetiker-Selbsthilfegruppen, die 150 000 Unterschriften der Gesundheitsministerin übergeben haben. Innerhalb des
G-BA gibt es eine differenziertere Haltung der Patientenvertreter, zumal bestimmte Aussagen des IQWiG wohl nicht bestreitbar sind. Wenn der Beschluss gegen die Insulinanaloga zustande kommt, ist davon auszugehen, dass sich die Selbsthilfegruppen massiv an die Politik wenden werden. Es bedarf dann einer gewissen Stabilität aufseiten der Politik, auf eine Beanstandung der Entscheidung zu verzichten, was ja auch präjudizierende Wirkung auf noch ausstehende Beurteilungen hätte.
DÄ: Sehen Sie eine Verantwortung der Arzneimittelhersteller, den Nutzen eines Arzneimittels nachzuweisen?
Hess: Die Insulinanaloga sind seit zehn Jahren auf dem Markt. Man muss der Industrie vorwerfen, dass sie zehn Jahre lang erhebliche Gewinne gemacht hat, ohne sich um den Nachweis des Zusatznutzens dieser Präparate zu bemühen. Die Industrie ist also mitverantwortlich für das, was jetzt geschieht. Wenn jemand ein Produkt auf den Markt bringt, sollte er sich eigentlich auch im eigenen Interesse um dessen Qualität kümmern und etwas vom Gewinn abzweigen, um entsprechende Studien durchzuführen.
DÄ: Bei den inhalativen Insulinen zeichnet sich ja bereits ein neuer Konflikt ab. NICE in Großbritannien hat sich zum Beispiel bereits gegen eine Erstattungsfähigkeit im National Health Service ausgesprochen.
Hess: Bei den inhalativen Insulinen haben wir bereits in der Form eines Rapid Report eine Stellungnahme des IQWiG eingefordert, um uns einen ersten Überblick zu verschaffen. Ziel ist es auch, die Ärzte frühzeitig zu informieren, sodass es nicht wie bei den Insulinanaloga zu einer breiten Markteinführung kommt, bevor eine Bewertung erfolgt ist.
DÄ: Wäre es dann nicht sinnvoll, die Erstattungsfähigkeit neben der Zulassung zusätzlich an eine Nutzenbewertung zu knüpfen?
Hess: Aus meiner Sicht wäre es besser, man würde bei Neuzulassungen in bestimmten Indikationen zunächst eine Phase der Erprobung einführen – natürlich zulasten der Krankenkassen –, und das Präparat erst nach einer Nutzenbewertung für den breiten Markt freigeben. Dies bedürfte allerdings einer Gesetzesänderung. Die Industrie müsste in einer solchen Erprobungsphase akzeptieren, dass das Medikament nur sehr eingeschränkt verordnet werden kann. Außerdem müssten sich die Hersteller zumindest für diese Erprobungsphase auf bestimmte Preisvereinbarungen einlassen. Die gibt es bei den Arzneimitteln in Deutschland nicht. Die Hersteller können ihre Preise selber festsetzen, was bei innovativen Präparaten bedeutet, dass sie während der gesamten Patentlaufzeit zu diesen Preisen zulasten der Krankenkassen vermarktet werden können. Man kann nun wirklich nicht behaupten, Deutschland sei in diesem Bereich ein innovationsfeindliches Land – ganz im Gegenteil.
DÄ: Im stationären Bereich besteht im Gegensatz zum ambulanten Sektor die Regelung, dass neue Leistungen so lange zulasten der GKV abgerechnet werden können, bis der Nachweis erbracht ist, dass sie keinen Nutzen haben. Jüngstes Beispiel ist die Protonentherapie, die unter enormen Investitionen breit eingeführt wird. Halten Sie diese unterschiedlichen Verfahrensregeln noch für sinnvoll?
DÄ: Dieser Streit wird doch inzwischen vor Gericht ausgetragen?
Hess: Wir führen zwei Musterprozesse gegen das Ministerium, um die Frage der Zulässigkeit zweier unterschiedlicher Bewertungsverfahren für den ambulanten und den stationären Bereich klären zu lassen. Ich bin der Ansicht, dass der Gesundheitsmarkt in Deutschland permanent gesättigt ist mit teurer Medizintechnik. Wie bei der Arzneimitteltherapie muss man sich auch hier fragen, ob man gleich in die Fläche gehen muss, bevor überhaupt die Evidenz festgestellt ist.
DÄ: Stecken hier die Rationalisierungsreserven, von denen Sie mitunter sprechen?
Hess: Solange wir uns diesen Gerätepark leisten, kann man auf jeden Fall nicht behaupten, wir hätten keine Rationalisierungsreserven. Wir leisten uns in Deutschland eine gewisse Beliebigkeit in der Medizintechnik. Das Gleiche gilt für das Inanspruchnahmeverhalten der Versicherten. Der Versicherte kann mit seiner Karte jedes Rationalisierungsbemühen unterlaufen, indem er von einem Arzt, der ihm eine Leistung verweigert, zum nächsten geht. Man hat in unserem Gesundheitssystem noch andere Möglichkeiten, bevor man mit der Rationierung von Leistungen beginnt.
DÄ: Wie hat sich insgesamt das Verhältnis des G-BA zum Aufsicht führenden Ministerium entwickelt?
Hess: Wir gehen davon aus, dass spätestens das Bundessozialgericht im Streit um die künstliche Ernährung klärt, ob das Ministerium gegenüber dem G-BA eine Rechts- oder eine Fachaufsicht ausübt. Diese Grundsatzfrage muss geklärt werden. Wir brauchen Klarheit darüber, von welcher Rechtsposition aus wir unsere Aufgaben wahrnehmen können. Der G-BA ist ja bereit, Finanzverantwortung zu übernehmen, indem er auch – wie im Fall der enteralen Ernährung – unpopuläre Entscheidungen trifft. Dann muss aber das Ministerium im Grundsatz dahinterstehen und darf dem G-BA nicht über eine Fachaufsicht den Boden unter den Füßen wegziehen. Fachaufsicht würde ja bedeuten, dass das Ministerium eine rechtlich vertretbare und richtige Entscheidung des
G-BA aus rein politischen Gründen einkassieren kann. Das würde den
G-BA massiv schädigen.
DÄ: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen dem G-BA und dem IQWiG? Wie kommt es beispielsweise dazu, dass Entscheidungen des G-BA den wissenschaftlichen Empfehlungen des Instituts widersprechen? Beispiel: Mindestmengen bei Kniegelenk-Endoprothesen: Hier hat das IQWiG am Sinn solcher Vorgaben gezweifelt.
Hess: Wir sind gesetzlich verpflichtet, für planbare Eingriffe Mindestmengen festzulegen unter qualitativen Gesichtspunkten. Es ist richtig, dass man dafür natürlich eine gewisse Evidenzbasierung benötigt. Das IQWiG hat nach meiner Kenntnis gesagt, aus den Rohdaten, die ihm zur Verfügung stehen, könne man die Evidenz solcher Mindestmengen nicht ableiten. Das ist ein Verweis auf nicht ausreichendes Datenmaterial. Das ist noch keine Aussage darüber, dass es keine evidenzbasierten Grundlagen gibt. Das war der Grund dafür, dass der G-BA zunächst bei den Mindestmengen geblieben ist.
Man wird den Gesetzgeber allerdings irgendwann fragen müssen, ob es Sinn macht, Mindestmengen nur in Bezug auf die Qualität vorzuschreiben und nicht auch planerische und ökonomische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Wir haben jetzt beispielsweise im stationären Sektor eine Vereinbarung zu den qualitativen Anforderungen für die Betreuung von Risikogeburten getroffen. Eine sehr gute Entscheidung, die Standards für die Abteilungen festschreibt, die solche Risikogeburten betreuen. Was passiert? Jetzt werden wir gebeten, Mindestmengen festzusetzen, weil allein in Bremen drei Krankenhäuser Level-1-Kliniken für Risikogeburten werden wollen, obwohl die Zahl der Geburten dort dann sehr niedrig ist. Es stellt sich die Frage, ob das von den Investitionen her sinnvoll ist. Man darf Mindestmengen nicht nur unter qualitativem Aspekt sehen.
DÄ: Wie hat sich denn die Beteiligung von Patientenvertretern auf die Arbeit des G-BA ausgewirkt?
Hess: Sehr positiv – und zwar deswegen, weil sich zwei Dinge dadurch verändert haben. Das Erste ist die Notwendigkeit, eigene Entscheidungen wirklich plausibel darzulegen. Wenn ich in Gegenwart von Patientenvertretern eine Leistung einschränke, muss ich das sehr genau begründen. Auch die Vorarbeiten werden unter Beteiligung der Patientenvertreter absolviert. In den Unterausschüssen nehmen auch Patienten ihre Interessen wahr, die an den betreffenden Erkrankungen leiden, um die es gerade geht. Das ist durchaus eine Bereicherung.
Das Zweite ist die Transparenz. Sie können praktisch keine Entscheidung im stillen Kämmerlein behalten. Da die Patientenvertreter ihren entsendenden Organisationen berichten müssen, kommt man ohne eine wirkliche Transparenz der Entscheidungen gar nicht aus. Atmosphärisch hat sich die Zusammenarbeit im G-BA sehr gut entwickelt, weil wir die Patienten als absolut gleichberechtigte Mitglieder ansehen, die nur kein Stimmrecht haben. Sie haben aber dieselben Beteiligungs- und Antragsrechte wie alle anderen auch. Es ist eine fruchtbare Diskussion in den Unterausschüssen, aber auch im G-BA entstanden.
DÄ: Werden die Patientenvertreter über kurz oder lang ein Stimmrecht erhalten?
Hess: Ich rate den Patientenvertretern immer davon ab, es einzufordern, weil ihre Interessen ohne Stimmrecht fast besser berücksichtigt werden können. Wenn sie ein Stimmrecht hätten, würde alles formalisierter ablaufen, und sie müssten die Entscheidungen des
G-BA nach außen vertreten. Das kann für einen Patientenvertreter sehr schwierig werden – vor allem, wenn es um Leistungseinschränkungen geht. Außerdem würde ein Stimmrecht der Patientenvertreter eine Umstrukturierung des Ausschusses erfordern. Die Patientenvertreter müssten unter ganz anderen Kriterien ausgewählt werden. Es bedürfte dann einer rechtlichen Legitimation des einzelnen Vertreters.
DÄ-Fragen: Thomas Gerst und Heike Korzilius
Linz, Ute