ArchivDeutsches Ärzteblatt19/2006Die Franckeschen Stiftungen: Miteinander der Generationen

THEMEN DER ZEIT

Die Franckeschen Stiftungen: Miteinander der Generationen

Toellner, Richard

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Foto: Reinhard Hentze
Foto: Reinhard Hentze
Nach der Wende wurden die Gebäude der Frankeschen Stiftung (links das Haupthaus) saniert und zu neuem Leben erweckt.
Im Familienkompetenzzentrum soll die Gesundheitsförderung einen Schwerpunkt der Arbeit bilden.
Richard Toellner

Das Familienkompetenzzentrum für Bildung und Gesundheit ist die vorerst letzte Einrichtung, die beim Wiederaufbau und Ausbau der Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale entsteht. Das Zentrum wird neben der Maria-Montessori-Reformgrundschule und einem Altenwohn- und Pflegeheim fester Bestandteil im „Haus der Generationen“ werden. Dieses Haus der Generationen verwirklicht – bundesweit einmalig – das Projekt eines zukunftsfähigen Miteinanders der Generationen. Zwischen dem Angebot für die Schulkinder und dem Angebot für die alten Menschen wird sich das Familienkompetenzzentrum um die Generation kümmern, die die Verantwortung für die aufwachsende und die alternde Generation im Familienverbund trägt. Das Konzept der Sorge um den ganzen Menschen entspringt dem Geist einer über 300-jährigen, einst weltberühmten Anstalt. Diese Sorge für Bildung und Gesundheit ist in seiner Tiefe und Tragfähigkeit nur wirklich zu verstehen aus der Geschichte der Stiftungen.
Es begann mit vier Talern und 16 Groschen
Am Anfang stand die Gründung des „Hallischen Waysen-Haußes“: Mit 28 Jahren wurde August Hermann Francke (1663–1727) Ende des Jahres 1691 als Professor der griechischen und orientalischen Sprachen an die preußische Reformuniversität Halle berufen und gleichzeitig zum Pfarrer von St. Georgen in Glaucha vor den Toren Halles bestellt. Glaucha war das, was heute ein sozialer Brennpunkt genannt würde. Die verelendende Bevölkerung versank immer mehr in Alkoholismus, Prostitution und Bettelei, verwahrloste und elternlose Kinder streunten auf den Straßen. Mit dem Ziel, die Not der Kinder zu lindern und ihnen eine Lebenschance zu geben, stellte der junge Pfarrer eine Sammelbüchse auf, in die Ostern 1695 jene vier Taler und 16 Groschen eingeworfen wurden, aus denen der finanzielle Grundstock für die Einrichtung einer Armenschule und eines ersten Waisenhauses für neun Kinder wurde. Bereits 1698 konnte mit dem Bau eines großen Waisenhauses begonnen werden, das 1700 fertig gestellt war und 70 Kinder beherbergte. Es ist heute das Hauptgebäude der Franckeschen Stiftungen (Abbildung 1). Damit begann eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Die Anstalt wuchs kontinuierlich, sodass bald für die Kinder das längste und höchste Fachwerkhaus der Welt gebaut werden musste; eine Bibliothek, ein Verlag, eine Druckerei, eine Bibelanstalt, eine Buchhandlung entstanden und nicht zuletzt die Kunst- und Naturalienkammer (Abbildung 2) sowie eine Apotheke. !
Gottvertrauen, Mut, Geschick, Weitsicht, Organisationstalent und die Fähigkeit, Menschen für sein Werk zu begeistern und zu gewinnen, waren Eigenschaften, die August Hermann Francke in hohem Maß besaß und die viel von seinem Erfolg erklären. Was aber die Glauchaischen Anstalten vor den Toren Halles tagtäglich für ihren Gründer und Leiter an Sorge, Fürsorge und Verantwortung bedeuteten, macht man sich selten klar. Als Francke 1727 starb, waren es 3 000 Menschen, die seiner Fürsorge und Verantwortung übergeben waren. 3 000 Menschen mussten nicht nur behaust, gekleidet und ernährt werden, sondern auch – zumal sie auf engem Raum zusammenlebten und allermeist im Kindes- und Jugendalter waren – vor Infektionen bewahrt, in Krankheit betreut und bei Verletzung versorgt werden.
Eine Fleckfieberepidemie im Frühsommer 1699 kostete vielen Kindern und auch dem ersten Waisenhausarzt Christian Albrecht Richter (1675–1699) das Leben. Francke zog die Konsequenz. Es gehört zu den Teilen seines Wirkens, die ohne Vergleich in der damaligen Zeit sind, dass Francke von Anfang an in seinen Anstalten für Hygiene, reines Wasser und die ärztliche und pflegerische Betreuung der Kranken und Verletzten sorgte. Allein drei Krankenpflegeeinrichtungen gab es in Franckes Anstalten mit eigener Küche, Krankenmütter, Theologie- und Medizinstudenten für die seelsorgerliche und medizinische Betreuung und mindestens einen Anstaltsarzt. So entstand in Halle das erste Kinderkrankenhaus Europas. Heute ist es Sitz der Kulturstiftung des Bundes.
„Die besondere Wohltat, welche die Patienten in diesen Kranken-Anstalten genießen, hat ein jeder mit Dancksagung gegen Gott zu erkennen. Denn es wird nicht leicht, auch bey sehr reichen Leuten, eine solche Verfaßung zu finden sey [sic!], da der Patienten geistliche und leibliche Genesung also gesorget wird, in dem man außer dem Medico ordinario noch zwey Aufseher hat, deren einer fürnehmlich auf die curam animae, der andere aber, als Medicinae Studiosus, auf curam corporis siehet“, so heißt es völlig zutreffend in einem Entwurf zu einer „Ferneren Erinnerung für die Krancken auf dem Pflege-Hause“ von 1737.
Christian Sigismund Richter (1672–
1739) und Christian Friedrich Richter (1679–1711) folgten ihrem verstorbenen Bruder Christian Albrecht als Anstaltsärzte, wobei Christian Friedrich als Verantwortlicher für die Waisenhausapotheke unter anderen Medikamenten eine Goldtinktur entwickelte, die als Geheimmittel unter dem Namen „Essentia dulcis“ bald durch eine von ihm gegründete Medikamenten-Expedition in alle Welt – von Russland bis Nordamerika, von Skandinavien bis Spanien – vertrieben wurde und große Gewinne einbrachte. Zwischen 1720 und 1730 waren es allein jährlich 15 000 Taler. Der bedeutendste Waisenhausarzt war freilich Johann Junker (1679–1759). Er war Professor der Medizin an der Universität und hielt jahrzehntelang sein „Collegium clinicum“ im Waisenhaus ab – die erste Poliklinik Europas.
Sanfte Medizin und ärztliche Mission
Die Kunst- und Naturalienkammer umfasst weit mehr als 3 000 Objekte in 18 reich verzierten Barockschränken. Foto: Klaus Göltz
Die Kunst- und Naturalienkammer umfasst weit mehr als 3 000 Objekte in 18 reich verzierten Barockschränken. Foto: Klaus Göltz
Sämtliche Ärzte des Waisenhauses waren Schüler des Georg Ernst Stahl (1659–1734), neben Friedrich Hoffmann (1660–1742) der berühmteste Mediziner der jungen Universität Halle. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Hoffmann, der ein technomorphes Krankheitskonzept vertrat, propagierte Stahl in seiner „Theoria medica vera“ ein psychodynamisches Krankheitskonzept: Um Krankheiten richtig zu erkennen, muss man ihre Symptome sorgfältig beobachten. Um diese Symptome richtig zu deuten, muss man auf die Gemütsverfassung des Patienten achten. Das heißt nichts anderes als individualisieren, nicht generalisieren. Der einzelne Mensch in seiner spezifischen Notlage ist das Gegenüber des Arztes, nicht ein Kollektiv. Die Krankheitssituation des Einzelnen muss richtig erfasst und nach seinem Seelenzustand gedeutet werden. Messer, Schröpfer und Pillen helfen nicht der Seele. Sie müssen zurückhaltend und vorsichtig eingesetzt werden, um der entstandenen körperlichen Unordnung abzuhelfen. Doch eingreifende, stark wirkende Mittel (wie Opium und Chinin) und erst recht Rosskuren sind verboten. Kontrolliert abwarten und auf die Selbstheilungskräfte der Seele bauen, heißt die Devise. Die Seele stärken, dann wird auch der Leib gesund. Die Theoria medica vera ist die Theorie einer sanften Medizin. Sie hatte die größte Affinität zur Anthropologie des Halleschen Pietismus.
Am 9. Juli 1706, also vor gerade 300 Jahren, erreichten zwei Missionare aus Halle die kleine dänische Handelskolonie Tranquebar an der Küste Südindiens. Francke hatte sie auf Initiative des dänischen Königs Friedrichs IV. ausgesandt. Dieses Datum markiert den Beginn des ersten Missionsunternehmens in der protestantischen Kirchengeschichte; es wurde am 18. März dieses Jahres in Anwesenheit der indischen Botschafterin und des dänischen Botschafters gebührend gefeiert, denn die Verbindung zu Indien und anderen Missionsgebieten ist in den Stiftungen über die Jahrhunderte nie abgerissen. Die dänisch-hallesche Mission ist nicht nur die erste evangelische Mission, sondern auch die Geburtsstätte der ärztlichen Mission.
Als Gotthilf August Francke (1696–1769) ganz im Sinne seines Vaters 1728 sich beim dänischen Missions-Collegium in Kopenhagen für die Einrichtung eines „seminarium missionarium“ einsetzte, damit neben dem theologischen auch das „Studium Physicum et Medicum“ betrieben werden könne, tat er
es in der Einsicht, dass in der dänisch-halleschen Mission für das indische Tranquebar das Seelenheil vom körperlichen Wohl nicht zu trennen sei, so wie er es in seinen Anstalten zu Halle gewohnt war. So wurden zwischen 1729 und 1791 in lückenloser Folge fünf Missionsärzte in die Tranquebar-Mission nach Indien ausgesandt.
Obwohl heute die ärztliche Mission unter völlig veränderten politischen, ökonomischen, kirchlichen und ideologischen Verhältnissen in den Ländern der Dritten Welt tätig ist, ist sie doch der Ort, an dem Pietismus und Medizin am engsten miteinander verbunden geblieben sind.
Wiederaufbau nach der Wende
Nach einer 250-jährigen Geschichte hob die sowjetische Besatzungsmacht die Francke-Stiftung 1946 auf und überließ deren Gebäude der Martin-Luther-Universität. Das historische Ensemble der ungeliebten pietischen Schulstadt verfiel. Mit der Gründung des Freundeskreises der Franckeschen Stiftungen gleich nach der Wende auf Initiative des Direktors der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel, Paul Raabe, begann der Wiederaufbau. Eine der ersten Aktionen des Freundeskreises war eine Wanderausstellung mit dem Titel „Rettet die Franckeschen Stiftungen!“, die in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit das Bewusstsein für den drohenden Verlust eines Juwels der deutschen Geschichte im Herzen Deutschlands weckte. 1992 wurde die Stiftung wieder errichtet; Paul Raabe wurde ihr erster Direktor. Unter dem Motto „Mitten im Aufbruch“ begann der Wiederaufbau. Mehr als 50 Gebäude auf dem großen Stiftungsgelände waren zu sanieren und zu restaurieren. Von der Stiftung, die ihr ganzes Vermögen verloren hatte, mussten in 15 Jahren über mehr als 60 Millionen Euro aufgebracht werden.
Heute leben, lernen, arbeiten und musizieren wieder mehr als 4 000 Menschen in mehr als 45 Einrichtungen, darunter fünf Kindertagesstätten, vier Schulen, wie die altehrwürdige Latina mit ihrem exzellenten Musikzweig und Musikinternat, kirchliche, wissenschaftliche Institutionen und sozialpädagogische Einrichtungen, wie der Bauhof und das Stiftsgut Stichelsdorf. Mit ihren zahlreichen kulturellen Veranstaltungen sind die Franckeschen Stiftungen wieder ein kultureller, sozialer, pädagogischer und christlicher Leuchtturm, der weit über die Region hinausstrahlt.
Im Januar dieses Jahres wurde das „Haus der Generationen“ bei der Bundesinitiative „Deutschland. Land der Ideen“ nominiert. Als ein deutschlandweit einmaliges, intergenerationelles Modellprojekt, welches die wechselseitige Verantwortung alter und junger Menschen füreinander ermöglichen soll, wurde es aus mehr als 1 200 Bewerbern als eines der ersten Projekte unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten ausgewählt. Der Freundeskreis der Franckeschen Stiftungen wird in der fachwerkstrukturierten Dachetage des sanierten ehemaligen königlichen Pädagogiums gemeinsam mit den Stiftungen und der Stadt Halle das Familienkompetenzzentrum einrichten, das der Beratung, Betreuung, Unterrichtung und Hilfe für junge Familien dienen soll. Dabei steht die sozialpädagogische Unterstützung der Eltern und die Gesundheitsförderung der Kinder ganz im Vordergrund. Gerade die in den Kindertagesstätten und Schulen der Stiftung oft vertretenen Kinder aus Unterschichten und ihre Eltern können erreicht werden. So sollen sich beispielsweise die Eltern mit Sprach- und Bewegungsförderung, mit sozialem Lernen, mit gesunder Ernährung, mit der Mediennutzung beschäftigen und ihre Kinder durch die vorschulische und schulische Bildung und die berufliche Ausbildung begleiten können. Dazu wird ein Netzwerk aller an dem Gedeihen der Kinder in den verschiedenen Lebensstufen Beteiligten geschaffen: Hebammen, Tagesmütter, Großeltern und andere Verwandte, Freunde, Kinderärzte und Pädagogen in Kindergarten und Schule. Dabei wird die Gesundheitsförderung einen Schwerpunkt der Arbeit des Kompetenzzentrums bilden. Alles, was der Gesundheit der Kinder dient, körperliche Risikofaktoren mindert und die physischen und sozialen Kräfte stärkt, soll durch ärztliche Beratung, Kurse, Gymnastik- und Sportübungen gefördert und dies alles mit Vortragsreihen ergänzt werden.
Die ersten Aktivitäten des Zentrums haben schon begonnen; was fehlt, sind der Ausbau der Dachetage und die finanziellen Mittel dazu. Deshalb die herzliche Bitte an die deutsche Ärzteschaft, an die Kolleginnen und Kollegen: „Helfen Sie den Franckeschen Stiftungen!“

zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2006; 103(19): A 1284–8

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Richard Toellner
Vizepräsident des Freundeskreises
der Franckeschen Stiftungen
Wachendorfer Straße 31, 72108 Rottenburg




Spendenaufruf
Die Bundesärztekammer ruft die Ärztinnen und Ärzte zu Spenden für die Fertigstellung des Familienkompetenzzentrums der Frankeschen Stiftungen in Halle auf.
Spenden werden erbeten auf das Konto des Freundeskreises der Frankeschen Stiftungen e.V.
Franckeplatz 1, Hs 37, 06110 Halle
Konto-Nummer 750 067 100
bei der Dresdner Bank in Halle/Saale,
BLZ: 800 800 00
Stichwort: Familienkompetenzzentrum

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