ArchivDeutsches Ärzteblatt PP5/2006Sigmund Freud: Wiener Melange

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Sigmund Freud: Wiener Melange

Koch, Joachim

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Foto: picture-alliance
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Ernst Freud, Lucie Freud, Ilse Grubrich-Simitis (Hrsg.): Sigmund Freud: Sein Leben in Bildern und Texten. Revidierte Neuauflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 2006, 2006, 352 Seiten, 12 €; Jacques Derrida, Élisabeth Roudinesco: Woraus wird Morgen gemacht sein? Ein Dialog. Klett-Cotta, Stuttgart, 2006, 383 Seiten, 29,50 €; Henri F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Diogenes Verlag, Zürich, 2005, 1226 Seiten, 29,90 €; Micha Brumlik: Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts. Beltz Verlag, Weinheim, 2006, 304 Seiten, 22,90 €

Am 6. Mai jährt sich der Geburtstag Sigmund Freuds zum 150. Mal. Das kann Anlass dazu sein, über die Bedeutung seiner Person und seines Werkes nachzudenken. Freud starb am 23. September 1939 in London. Ein gutes Jahr zuvor hatte er vor den Nazis aus Wien flüchten müssen.
Eine sehr aussagekräftige biografische Skizze Freuds ist von einem anderen Wiener Psychoanalytiker verfasst worden, der auch fliehen musste und erst vor wenigen Jahren in New York gestorben ist. Sie ist von Kurt R. Eissler und ist im Buch „Sigmund Freud. Sein Leben in Bildern und Texten“ abgedruckt. Eissler war vor allem durch seine psychoanalytischen Studien Goethes und da Vincis bekannt geworden. Auf knapp 30 Seiten skizziert Eissler wichtige Stationen des Lebenswegs von Freud, referiert Aspekte seiner Theoriebildungen und lenkt auch Blicke auf seine Persönlichkeitseigenschaften. Eissler ist ein glaubwürdiger Chronist, der – vielleicht eine Spur zu angepasst – durch einige Offenheit überzeugt, aber auch Geheimnisse bewahrt, war er doch Leiter des Freud-Archivs und fühlte sich als Hüter eines Vermächtnisses. Neben der biografischen Skizze gibt es im Buch eine Fülle von interessanten (und auch weniger interessanten) Dokumenten, Bildern und Fotografien, denen zur Erläuterung und Illustration Texte aus Werken und Briefen Freuds zugeordnet sind.
Kritische Bewertung Derridas
Ein ganzes, längeres Kapitel des Dialogs zwischen Élisabeth Roudinesco, einer bekannten Historikerin der Psychoanalyse in Frankreich, und Jacques Derrida ist der Psychoanalyse gewidmet. In seiner Bewertung ist Derrida Freud gegenüber sehr kritisch. Er merkt an, dass Freud die Todes- und Zerstörungstriebe für unausrottbar hielt und als Mann der Aufklärung an dieselbe gar nicht geglaubt habe. Kategorisch lehnt er die freudianischen Begrifflichkeiten als Provisorien ab, weil er sie letztlich für unwissenschaftlich hält. In anderen Dialogteilen des Buches erläutert Derrida Aspekte seines eigenen Werkes. Er stellt sich in seinen Wortbeiträgen als brillanter Denker vor, der seine Ansichten gut verständlich vorträgt, was sonst in seinen Schriften nicht immer der Fall war. Die Dialoge können als ein Vermächtnis des im Oktober 2004 verstorbenen, neben Sartre und Foucault vielleicht bedeutendsten französischen Philosophen der Nachkriegszeit gesehen werden.
Deutlich umfassender, nämlich auf fast 200 Seiten, beschäftigt sich Henri F. Ellenberger in seinem lesenswerten Buch, das seit 1970 in verschiedenen Fassungen erschienen ist, mit Freud. Besonders spannend ist der Versuch Ellenbergers, die Persönlichkeit Freuds zu deuten. Aus mehreren unterschiedlichen Blickwinkeln entwickelt er Sichtweisen auf Freud und legt Interpretationsmöglichkeiten dar. Als Fazit zieht er jedoch, dass die Zeit noch nicht reif ist, eine wirklich befriedigende Beurteilung der Persönlichkeit Freuds zu gewinnen, weil die Materie komplex und die Datenlage noch immer unzureichend ist. In einem Resümee fragt er nach einer objektiven Beurteilung des Einflusses, den Freud ausgeübt hat. Er stellt fest, dass Einigkeit darüber besteht, dass der Einfluss von Freud auch über die Gebiete der Psychologie und Psychiatrie hinausgehend auf alle Bereiche der Kultur sehr groß war, dass aber die Ansichten darüber, ob das als Segen für die Menschheit oder als katastrophale Entwicklung mit negativen Auswirkungen auf die praktische Ethik der Menschen zu sehen ist, weit auseinander gehen. Ellenberger stellt fest und mahnt damit zu vorsichtigen Annäherungen, dass bei der Beurteilung der Psychoanalyse erst einmal die Legendenbildungen beiseite geräumt werden müssen und das freigelegt werden muss, was den realen Kern der Psychoanalyse ausmacht.
Dass der Mensch nicht mehr Herr im eigenen Hause sei, diese Annahme Freuds steht im Zentrum der Psychoanalyse. Der naive Glaube an die handlungsleitende Rolle des Bewusstseins ist infrage gestellt zugunsten unbewusster Kräfte. Micha Brumlik arbeitet in seinem Buch über Sigmund Freud die Illusionen heraus, die Freud aufdeckte, und führt sie der Leserschaft drastisch vor Augen. Freud entwickelte die Psychoanalyse innerhalb eines fruchtbaren Wechselspiels zwischen Therapieform und Anthropologie, wies als erster auf die kindliche Sexualität hin, betonte die Bedeutung der Sexualität für den Menschen, stellte sie den kulturellen Leistungsmöglichkeiten entgegen und verortete Aggressionen des Menschen in seiner Natur. In seinem politischen Hauptwerk „Unbehagen in der Kultur“ führte Freud kommunistische Perspektiven ad absurdum. Brumlik konzipiert Freud als den Denker des 20. Jahrhunderts (welche anderen Personen für diese Position noch infrage gekommen wären, wird aber nicht diskutiert), der die Erfahrung des traumatischen Ersten Weltkrieges in sein Theoriewerk einarbeitete wie auch die drohende Vernichtung durch die nationalsozialistische Diktatur vorwegnahm. Brumlik hat sich intensiv mit Freud, der Psychoanalyse und der umfangreichen Rezeptionsliteratur des Freudschen Werkes beschäftigt und seine Lesart Freuds profund und spannend dargestellt. Joachim Koch

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