ArchivDeutsches Ärzteblatt21/2006Psychische Störungen: Gesundheit braucht soziale Gerechtigkeit
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LNSLNS Das Beste in der inhaltsschweren Arbeit „Psychische und Verhaltensstörungen: Die Epidemie des 21. Jahrhunderts?“ steht am Schluss: „Umdenken geboten“ – die klare und leider so selten zu lesende medizinische Feststellung, dass die pathogenetischen Faktoren in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit eine wachsende Morbidität erzeugen, die auch durch umfangreiche medizinische Interventionen immer weniger aufgehalten werden kann . . . Durch die einseitige Orientierung auf Wirtschaft und Erwerbstätigkeit (und die Abhängigkeit unseres Lebensalltags von dieser) wird Gesundheit, werden Biografien zerstört und außer psychischen und Verhaltensstörungen viele weitere Krankheiten erzeugt: Alkoholkrankheit, Suizidversuche, metabolische Syndrome, Hypertonien und viele andere. Die Medizin aber fokussiert weiter auf deren späte und aufwendige symptomatische Linderung – statt kundzutun, dass das wachsende Heer chronisch Kranker ein mit DRGs und EBM betriebswirtschaftlich orientiertes Gesundheitssystem zwar scheinbar „effektiver“ macht, diese Entwicklung jedoch volkswirtschaftlich, kulturell und menschlich perspektivlos ist. Das gilt auch und besonders für die Generationenfrage. Immer mehr liest man auch im DÄ über Rentenformeln, Anlagen, Sparpläne etc. – statt der einfachen Erkenntnis uralten Lebenswissens: Menschen können nicht durch angespartes Geld ersetzt werden, der Systemerhalt ist nur durch ausreichend und sozial positiv geprägte Kinder möglich. Kinder aber sind ein Armutsrisiko, und die wachsenden Defizite an Zuwendung, an Kommunikation etc. sind in der genannten Arbeit sehr deutlich benannt worden. Gesundheit entsteht im Lebensalltag der Menschen und kann nur dort erhalten werden. In den Privathaushalten, in den Familien wird sozial höchst produktive Arbeit geleistet – Bildung, kulturelle Prägung, Pflege, Erziehung etc. –, diese hat jedoch langfristige Sicherung des Lebensunterhalts zur Voraussetzung. Gesundheit braucht soziale Gerechtigkeit. Schon jetzt gibt es zwischen Arm und Reich in Deutschland einen Unterschied in der Lebenserwartung von mehreren Jahren, der damit weitaus größer ist als zahlreiche Überlebensvorteile, die durch teure Therapien erzielt werden . . . Gesundheit ist ein zu hohes Gut, als das sie in parteipolitischem Finanzstreit sinnvoll „reformiert“ werden könnte. Es ist traurig, dass die Ärzteschaft weitgehend abseits davon steht – statt klare kausale Analysen (wie in o. g. Arbeit) und wirkliche, inhaltliche Reformen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit sozialpolitischer Perspektive einschließlich der „Wiederentdeckung der Humanität“ aufzuzeigen.
Dr. med. Heinrich Günther, Lönsstraße 12, 01259 Dresden

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