

Vielen Dank für diesen überfälligen Artikel. Die genannten sozialepidemiologischen Daten sickern ja seit langem in unser fachärztliches und auch das öffentliche Bewusstsein, aber es ist immer wieder notwendig, sie zu bestätigen und breit zu diskutieren. Hierbei ist der ausdrückliche Verweis auf wesentliche gesellschaftsdynamische Faktoren („Primat der Ökonomie“ und „Instabilität“), die zu dieser Entwicklung zunehmender psychischer Erkrankungen und dadurch bedingter sozialer Kosten beitragen, von grundsätzlicher und entscheidender Bedeutung. Ich war sehr froh, dies im DÄ einmal so klar und ungeschminkt lesen zu können . . . Es reicht aber nicht mehr, hier allgemein „die Politik“ und „die Gesellschaft“ als Verantwortungsfaktoren zu benennen. Längst ist ja jeder Einzelne als Arzt, als Therapeut und als Patient selbst zum Kleinunternehmer in Sachen Lebensentwicklung geworden, die diesem Ökonomiegebot nicht nur unterworfen sind, sondern es selbst vertreten – sich und anderen gegenüber. Insbesondere im psychotherapeutischen und psychosomatischen Alltag der ambulanten Praxis finde ich deutlich zunehmend, wie Menschen an sich selbst und den Therapeuten den impliziten Anspruch einer Art „Psycho-Optimierung“ stellen, um den Ansprüchen des „Marktes“ an Effizienz und Flexibilität bis in alltäglichste Interaktionen hinein gerecht zu werden. Angesichts der im Artikel genannten sozialmedizinischen Daten führt dies nur zu einer weiteren Schleife im Teufelskreis der (Selbst-)Ausbeutungsverhältnisse in allen Lebensbereichen mit entsprechenden – epidemischen – gesundheitlichen Folgen. Insofern würde ich die provokative These wagen, dass das Gesundheitssystem allgemein und die psychotherapeutische Versorgung im Speziellen paradoxerweise an der strukturellen Verstärkung anstatt der Aufweichung dieser Faktoren beteiligt ist (wenn Letzteres überhaupt möglich sein sollte, was eine andere, auch gesellschaftsphilosophische Frage ist). Den erwähnten Voraussetzungen seelischer und körperlicher Gesundheit („stabile soziale Beziehungen, Klarheit, Zielorientierung und Sicherheit“) kommt dabei nämlich eine aus sozialmedizinischer und psychotherapeutischer Sicht wesentliche Bedeutung zu: Kaum jemand erkennt an, dass diese wahrscheinlich auch nur zu dem „Preis“ zumindest kurz- und mittelfristig geringerer auch individuell-persönlicher (lebens-)ökonomischer Effizienz nach gegenwärtigem Verständnis zu haben sind. Auch die Autoren trauen sich dann leider nicht, in dem Artikel die eingeschlagene Richtung in dieser Hinsicht weiterzudenken . . . Sie schreiben: „Auch psychotherapeutische Angebote müssen sich dabei Fragen nach Qualität, Effektivität und Effizienz stellen.“ So richtig das in der konkreten Auseinandersetzung um einzelne Fragen innerhalb des Ökonomieprimates sein mag: Vor dem aufgestellten epidemiologischen und sozialpsychologischen Hintergrund klingt dies wie von jemand anderem geschrieben. Die „Wiederentdeckung der Humanität“, wie der Schlusssatz so pathetisch wie wahr formuliert, wird nicht primär durch Qualitätsmanagement geschehen – dies wäre ein fundamentales, kategoriales Missverständnis –, sondern durch eine (auch philosophisch reflektierte) Haltung der Aufklärung, die den Kollegen und Patienten zumutet, dass Gesundheit auch den Preis von Effizienzverzicht kosten kann, und dass die Dialektik der Lebensführung nicht „Gesundheit“ und „Gewinn“ zugleich maximieren kann . . .
Dr. Andreas Pernice,
Hohenlohestraße 32, 28209 Bremen