MEDIZIN
Zertifizierte medizinische Fortbildung: Diagnostik depressiver Störungen
Depression in primary care in Germany
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In Deutschland leiden etwa zwölf Prozent der Patienten, die eine Allgemeinarztpraxis aufsuchen, an einer depressiven Störung. Bei einem Viertel dieser Patienten wird jedoch keine psychische Störung diagnostiziert. Das klinische Erscheinungsbild der depressiven Störungen ist sehr vielgestaltig und wird nach ICD-10 klassifiziert. Die Hauptsymptome der depressiven Störungen sind gedrückte, niedergeschlagene Stimmung, Interessenverlust und Antriebsmangel. Hinzutreten können vermindertes Konzentrationsvermögen, vermindertes Selbstwertgefühl, Suizidgedanken und Schlafstörungen. Die Erfassung des klinischen Verlaufes der depressiven Störung (einphasige und rezidivierende Depressionen, chronische Depressionen und depressive Anpassungsstörungen) wie auch der psychischen und somatischen Komorbidität ist wichtig, da sich hierdurch Konsequenzen für Behandlungsverlauf und Prognose ergeben. Durch die frühzeitige und korrekte Diagnosestellung sowie die qualifizierte interdisziplinäre Behandlung der Patienten kann das subjektive Leid der Betroffenen häufig deutlich vermindert und das psychosoziale Funktionsniveau verbessert werden.
Schlüsselwörter: Depression, Diagnostik, Epidemiologie, Differenzialdiagnostik, Komorbidität
Summary
Depression in primary care in Germany
Around twelve per cent of patients who visit their general practitioner in Germany suffer from depressive illness, yet in a quarter of these cases no psychological diagnosis is made. Depression can present in a wide range of ways, and is classified according to ICD-10. The cardinal symptoms aredepressed mood, anhedonia and loss of motivation, but loss of concentration, poor self esteem, suicidal thoughts and sleep disturbances can also be a feature. The documentation of the clinical course (isolated or recurrent depression, chronic depression and depression related maladjustment) and of comorbidity is important in determining treatment and prognosis. Early accurate diagnosis and competent interdisciplinary treatment can considerably reduce distress and improve psychosocial functioning.
Keywords: depression, diagnosis, epidemiology, differential diagnosis, comorbidity
Mit einer Lebenszeitprävalenz von 10 bis 18 Prozent und einer Punktprävalenz von bis zu sieben Prozent gehören depressive Störungen zu den häufigsten Erkrankungen. Frauen sind dabei doppelt so häufig betroffen wie Männer. Der Zeitpunkt der ersten Erkrankung liegt bei 50 Prozent der Patienten vor dem 32. Lebensjahr (1). Auch Manifestationen einer depressiven Störung im Kindes- und Jugendalter sind häufig (2, 3). Erstmanifestationen nach dem 56. Lebensjahr sind mit einem Anteil von zehn Prozent der depressiv Erkrankten selten (1). Diese Erkrankungen sind aber aufgrund der häufig bei älteren Patienten auftretenden somatischen Komorbidität eine besondere Herausforderung (4).
Bei etwa 50 bis 60 Prozent der betroffenen Patienten ist die depressive Erkrankung die einzige psychische Störung. Bei den übrigen Patienten bestehen häufig komplexe Komorbiditätsmuster mit weiteren psychischen Störungen. Hierbei stellen diese hinsichtlich der Krankheitsschwere, der psychosozialen Funktionsfähigkeit und der Prognose ungünstige Faktoren dar (5).
Aufgrund der Häufigkeit und Schwere depressiver Störungen zählt die WHO die affektiven Erkrankungen in ihrem World Health Report 2001 (6) zu den führenden Ursachen für eine durch Erkrankung verursachte Lebensbeeinträchtigung.
Der folgende Übersichtartikel befasst sich mit der Diagnostik depressiver Verstimmungen und depressiver Episoden sowie der differenzialdiagnostischen Abgrenzung zur depressiven Anpassungsstörung. Bipolare Störungen sind nicht Gegenstand einer eingehenden Darstellung.
Symptomatik, klinischer Verlauf und Diagnostik
Menschen mit einer depressiven Erkrankung suchen häufig Hilfe bei ihrem Hausarzt, der erster Ansprechpartner und wichtiger Entscheidungsträger für die Planung und Durchführung der weiteren Behandlung ist. In Deutschland leiden circa 12 Prozent der Patienten, die eine Allgemeinarztpraxis aufsuchen, an einer depressiven Störung. Bei etwa einem Viertel dieser Patienten wird jedoch keine psychische Störung diagnostiziert (3). Die Wahrscheinlichkeit einer nicht gestellten Diagnose ist erhöht bei jungen Patienten, Männern und Patienten ohne Vorgeschichte einer psychischen Störung.
Mögliche Ursachen einer zu geringen Erkennungsrate sind unter anderem folgende Aspekte:
- Patienten sprechen die depressive Symptomatik nicht aktiv an
- behandelnde Ärzte fragen nicht aktiv nach, wenden die formalen Diagnosekriterien nicht explizit an oder sehen die Symptomatik durch andere medizinische Störungen ausreichend begründet.
Das Problem einer zu häufigen Diagnostik von Depressionen ergibt sich potenziell bei Patienten, die außerordentlich klagsam sind, aber de facto keine Einschränkung ihrer psychosozialen Funktionsfähigkeit aufweisen (3, 7, 8).
Das klinische Erscheinungsbild der depressiven Störungen ist sehr vielgestaltig und wurde in der Klassifikation nach ICD-10 systematisiert. Für die Diagnose einer depressiven Episode ist Grundvoraussetzung, dass depressionsspezifische Symptome über mindestens zwei Wochen bestehen. Entsprechend der Grafik werden drei Hauptsymptome sowie zusätzlich auftretende Zusatzsymptome angeführt, deren Auftreten je nach Kombination und Ausprägung zur Diagnose einer leichten, mittelgradigen oder schweren depressiven Störung führen.
Bei leichten bis mittelgradigen depressiven Episoden sollte bei entsprechendem klinischen Verdacht zusätzlich überprüft werden, ob somatische Zusatzsymptome vorhanden sind. Bei schweren depressiven Episoden sollten psychotische Zusatzsymptome erfasst werden. Die einzelnen Symptome müssen über eine fundierte Exploration des Patienten im ärztlichen Gespräch erhoben werden.
Depressive Patienten berichten in der Praxis selten spontan über typische depressive Kernsymptome. Häufig klagen sie über Schlafstörungen, Appetitminderung, allgemeine Kraftlosigkeit oder Schmerzen. Da das frühzeitige Erkennen depressiver Erkrankungen eine wichtige und verantwortungsvolle ärztliche Aufgabe darstellt, ist gezieltes Fragen für das Erkennen depressiver Symptome sinnvoll.
Eine Möglichkeit der schnellen Erfassung einer depressiven Erkrankung ist der „2-Fragen-Test“, der mit einer Sensitivität von 96 Prozent ein sehr zeitökonomisches Vorgehen darstellt (Kasten 1):
Werden beide Fragen mit „Ja“ beantwortet, ist die klinische Erfassung der formalen Diagnosekriterien erforderlich, da nur durch die explizite Erfassung aller relevanten Haupt- und Zusatzsymptome eine adäquate Diagnose möglich ist (9).
Hauptsymptome der depressiven Störung
Im Folgenden werden die einzelnen Symptome, die nach ICD-10 zur Diagnostik einer depressiven Störung erforderlich sind, klinisch beschrieben. Ergänzt wird diese Beschreibung der Symptomatik durch Beispiele für entsprechende Fragen im Patientengespräch.
Bei der Erfassung aller depressionsspezifischen Symptome ist die Erfüllung der Zeitkriterien, „mindestens zwei Wochen Symptomdauer“ und „fast durchgängiges Vorhandensein“, entscheidend.
Depressive Stimmung
Für die Betroffenen ist ihre emotionale Verfassung häufig gekennzeichnet durch Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, häufig begleitet durch diffuse Ängste und Gefühle der Verunsicherung. Andere beschreiben zusätzlich oder auch isoliert ein „Gefühl der Gefühllosigkeit“, das die Patienten als Abwesenheit jeglicher Fähigkeit zur Empfindung von Emotionen charakterisieren. Hierbei können sich Patienten weder über positive Ereignisse freuen, noch können sie Trauer empfinden.
Dieser Zustand wird als unvergleichbar mit anderen Zuständen seelischen oder körperlichen Leidens erlebt und stellt eine besondere Belastung dar. Die Symptomatik kann im Tagesverlauf durchaus Schwankungen unterliegen, klassisch ist ein ausgeprägtes „Morgentief“, das sich dann im weiteren Tagesverlauf zurückbildet, sodass in den Abendstunden eine deutlich gebesserte Stimmung vorliegen kann (Kasten 2).
Interessenverlust und Freudlosigkeit
Es gelingt den Patienten nicht, auch früher als angenehm erlebte Aktivitäten und Hobbies weiter zu verfolgen.
Die Fähigkeit, sich an wichtigen Dingen oder Aktivitäten des Alltags zu erfreuen oder daran teilzunehmen, geht verloren. Der Interessenverlust kann sich auf alle Lebensbereiche, also Familie, Freundeskreis, Beruf, aber auch Freizeit, Sport oder sexuelle Aktivitäten, erstrecken (Kasten 3).
Erhöhte Ermüdbarkeit und Antriebsmangel
Vormals mühelos ausgeübte Aktivitäten in den unterschiedlichsten Bereichen erscheinen den Patienten während der depressiven Phase als ungemein anstrengend oder als gar nicht zu bewältigen. Das Gefühl einer starken inneren Müdigkeit und Energielosigkeit lässt jede Aktivität beschwerlich erscheinen.
Die Motivation zur Durchführung selbst einfacher Alltagsaktivitäten, wie Essenszubereitung oder Körperpflege, nimmt ab. Dies wiederum führt oft zu einem sozialen Rückzug, da auch Kontakte zu anderen Menschen für den Patienten als belastend erlebt werden. Aber auch der Versuch der vermeintlichen Erschöpfung durch Entlastung entgegenzuwirken führt aufgrund der häufig auftretenden Ruhelosigkeit und Schlafstörungen nicht zu einer Verbesserung dieses Symptoms (Kasten 4).
Zusatzsymptome der depressiven Störung
Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
Menschen mit einer Depression fällt es oft sehr schwer, sich zu konzentrieren und komplexe Sachverhalte zu erfassen. Dieses macht sich unter anderem dadurch bemerkbar, dass die Patienten nicht in der Lage sind, ansonsten alltäglichen Aktivitäten wie Einkaufen, Haushaltsverrichtungen, Zeitungslesen oder Fernsehen nachzugehen.
Unentschlossenheit und ein verlangsamtes Denken sind weitere Anhaltspunkte für Konzentrationsschwierigkeiten. Patienten befürchten oft, dass sie aufgrund der von ihnen selbst als qualvoll und behindernd wahrgenommenen Symptomatik an einer Demenz leiden (Kasten 5).
Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
Auch Patienten, die vor Ihrer Erkrankung über ein stabiles Selbstwertgefühl verfügten, erleben im Verlauf einer Depression häufig ein deutlich vermindertes Selbstwertgefühl, sprechen sich vorher vorhandene positive Eigenschaften und Befähigungen ab und verfügen nur noch über ein sehr begrenztes Selbstvertrauen. Ihre Leistungen und Fähigkeiten bewerten depressiv erkrankte Patienten häufig als sinn- oder nutzlos und erleben sich dabei als wertlos oder als Belastung für ihr Umfeld (Kasten 6).
Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit
Depressive Denkinhalte umfassen oft Themen wie Schuld, Sünde und Armut und können sich manchmal bis hin zum Wahn steigern. Es können starke Schuldgefühle und -gedanken auftreten, die sich sowohl auf vergangene Ereignisse, aktuelle Situationen oder zukünftige Perspektiven beziehen. Lang zurückliegende Ereignisse können als so schuldbesetzt erlebt werden, dass es den Betroffenen nur schwer möglich ist, diese „Schuld“ zu ertragen. Auch aktuelle Schwierigkeiten in Beruf und Privatleben werden als Unvermögen interpretiert.
Dieser Eindruck wird häufig unbeabsichtigt durch das soziale Umfeld unterstützt, das häufig auf die Symptomatik der Betroffenen mit gut gemeinten „aufmunternden Worten“, teilweise aber auch mit Unverständnis und Aggression reagiert (Kasten 7).
Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
Im Zusammenhang mit den bisher beschriebenen Symptomen erscheint es selbst aus Sicht von Außenstehenden plausibel, dass depressive Patienten ihre Zukunftsperspektiven sehr pessimistisch betrachten. Entsprechend der negativen Selbst- und Weltsicht wird jeder neue Tag als Belastung und die Zukunft als aussichtslos erlebt (Kasten 8).
Suizidgedanken/-handlungen
Bei 80 Prozent der depressiv Erkrankten treten Suizidgedanken auf, bei 15 Prozent der Betroffenen kommt es zu einem Suizidversuch. Etwa 50 Prozent aller Suizide werden durch Depressionen verursacht (10). Dies verdeutlicht die Bedeutung der Thematik Suizidalität bei depressiven Erkrankungen. Die Inhalte der Suizidgedanken reichen von vagen Vorstellungen, dass es „besser sein könnte, nicht mehr da zu sein“, dem „Wunsch, an einer Krankheit oder durch einen Unfall zu sterben“ bis hin zur konkreten Ausgestaltung und Planung eines Suizides. Gerade auch in der abklingenden Depression, wenn die Antriebslosigkeit der Patienten nachlässt, die depressive Stimmung dagegen noch vorhanden ist, ist eine aufmerksame Begleitung des Patienten erforderlich. Von Gedanken bis zur Handlung ist es oft nicht sehr weit, sodass die wiederholte direkte und entlastende Erfassung der Suizidalität im gesamten Behandlungsverlauf überaus wichtig ist (Kasten 9).
Schlafstörungen
Nahezu alle Patienten mit einer Depression berichten von ausgeprägten Schlafstörungen, die bei der Mehrzahl durch Ein- und Durchschlafstörungen gekennzeichnet sind. Bei etwa 10 Prozent der Erkrankten kommt es jedoch zu einer Hypersomnie. Unabhängig von der tatsächlichen Dauer des Schlafes wird dieser häufig als nicht erholsam empfunden (Kasten 10).
Verminderter Appetit
Der Appetitmangel, der von der Mehrheit der depressiven Patienten beschrieben wird, kann zu einer deutlichen Gewichtsabnahme führen. Hierbei ist ein nicht intendierter Gewichtsverlust von mehr als fünf Prozent des ursprünglichen Körpergewichts als relevant zu betrachten. Wie auch schon bei den Schlafstörungen beschrieben, kann es allerdings auch zu einer Appetitsteigerung und damit einhergehenden deutlichen Gewichtszunahme der Patienten kommen (Kasten 11).
Auftreten psychotischer Symptomatik
Ein besonderes Warnsignal für den behandelnden Arzt ist das Auftreten einer psychotischen Symptomatik bei depressiven Patienten. Diese tritt bei etwa einem Drittel der an einer schweren Depression erkrankten Patienten auf. Typische Beispiele sind hierfür ein Verarmungs-, Versündigungs- oder auch ein hypochondrischer Wahn. Differenzialdiagnostisch ist hier zu den bisher beschriebenen Symptomen hervorzuheben, dass die Patienten nicht mehr von der subjektiven Überzeugung bezüglich der Wahninhalte abzubringen sind. Alle Informationsangebote und gegensätzliche Ausführungen vonseiten der behandelnen Ärzte laufen ins Leere. Die Mortalität nimmt mit dem Auftreten einer wahnhaften Symptomatik deutlich zu (11) (Kasten 12).
Auftreten eines somatischen Syndroms
Bei einer leichten und mittelgradigen depressiven Episode können zusätzlich somatische Symptome vorhanden sein (zum Beispiel frühmorgendliches Erwachen, psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit, deutlicher Libidoverlust), die nach ICD-10 die Differenzialdiagnose eines somatischen Syndroms ergeben. Die hiermit verbundenen diagnostischen und differenzialdiagnostischen Erwägungen werden im weiteren Verlauf diskutiert.
Klinischer Verlauf
Hinsichtlich des klinischen Verlaufs der depressiven Störungen ist die Differenzierung zwischen einphasigen oder rezidivierenden Depressionen, chronischen Depressionen sowie depressiven Anpassungsstörungen wichtig, da die Behandlung entsprechend abgestimmt werden muss.
Unipolare und bipolare Depressionen
Neben dem einmaligen Auftreten einer depressiven Episode treten bei der Mehrzahl der Patienten (55 bis 65 Prozent) im Laufe Ihres Lebens mehrere depressive Phasen auf (rezidivierende Depression). Bei fünf bis zehn Prozent der Patienten muss nach dem Auftreten einer depressiven Episode mit der Manifestation einer manischen Episode im Langzeitverlauf gerechnet werden, sodass die Diagnose einer bipolaren Störung gestellt werden muss. Etwa 75 Prozent der bipolaren Störungen beginnen mit einer depressiven Episode. Die Dichotomie zwischen uni- und bipolaren Störungen ist allerdings in jüngster Zeit infrage gestellt worden (12).
Die Dauer der einzelnen depressiven Episode beträgt unbehandelt etwa sechs bis acht Monate. Bei adäquat durchgeführter Therapie (vor allem Psychopharmakotherapie, Psychotherapie) kann die Episodenlänge jedoch deutlich auf zwei bis vier Monate reduziert und auch die Krankheitsintensität günstig beeinflusst werden. Bei 80 Prozent der Patienten kommt es zu einer Remission der depressiven Symptomatik innerhalb von zwei Jahren, etwa 20 Prozent zeigen einen chronischen Verlauf (13).
Chronische Depression
Bei etwa 20 Prozent der depressiven Erkrankungen kommt es, insbesondere bei nicht adäquater Behandlung, zu einem chronischen Verlauf. Unter chronischen Depressionen werden zusammengefasst (14):
- Dysthymie mit schwächerer Symptomausprägung, die allerdings im Verlauf von zwei Jahren für mindestens 50 Prozent der Zeit besteht, sowie rezidivierende depressive Episoden mit vorausgehender Dysthymie ohne volle interepisodische Erholung („double depression“)
- depressive Episoden, die seit mehr als zwei Jahren ohne deutliche Symptomverbesserungen bestehen.
Komorbidität und Differenzialdiagnose
Depressive Episoden können zusätzlich zu weiteren psychischen Erkrankungen auftreten wie demenziellen Erkrankungen, Abhängigkeitserkrankungen, Schizophrenie und anderen psychotischen Erkrankungen, Angst- und Zwangsstörungen, somatoformen Störungen, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen (15) (Kasten 13).
Das diagnostische Erfassen dieser Komorbidität ist besonders deshalb wichtig, da sich hieraus wichtige Konsequenzen für Prognose und die konkrete Behandlung ergeben können. Beispielsweise ist es für die Lebensqualität auch eines demenziell erkrankten Patienten entscheidend, ob die bei ihm eventuell vorliegende depressive Erkrankung angemessen behandelt wird. Für differenzialdiagnostische Überlegungen gilt aber auch, dass das Vorhandensein einer ausschließlich depressiven Stimmung kein sicherer Hinweis für eine depressive Erkrankung ist. Beispiele sind Trauerreaktionen nach Verlust des Partners. Bei älteren und multimorbiden Patienten kann die Diagnose erschwert sein, weil Symptome wie gedrückte Stimmung, allgemeine Schwäche oder Schlafstörungen auch unabhängig von einer Depression auftreten können.
Depressive Anpassungsstörung
Die Diagnose einer depressiven Anpassungsstörung ist dann sinnvoll, wenn eine depressive Störung nicht die diagnostischen Kriterien einer depressiven Episode erfüllt, aber einen klinisch relevanten Schweregrad erreicht und an einen konkreten auslösenden Belastungsfaktor gebunden ist.
Somatische Komorbidität und weitere Untersuchungen
Sowohl die häufig im Zusammenhang mit einer depressiven Symptomatik geschilderten Symptome wie Herzbeschwerden, Schmerzen, Schwindel- und Kreislaufbeschwerden als auch die häufig auftretende Komorbidität mit somatischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, koronarer Herzerkrankung und metabolischem Syndrom machen es erforderlich, den Patienten körperlich und, je nach klinischem Befund durch spezifischere technische Verfahren gründlich zu untersuchen.
Eine depressive Störung sollte aber auch bei primär körperlichen Beschwerden erwogen werden, da viele Patienten beim ersten Arztkontakt von primär somatischen Beschwerden berichten (Kasten 14). Deshalb muss der Arzt das Vorliegen depressiver Symptome aktiv erfragen (16). Dies ist nicht nur in Anbetracht der gegebenenfalls anzusetzenden Medikation wichtig. Auch die Erkennung und Behandlung von zugrunde liegenden allgemeinmedizinischen Erkrankungen ist für die Behandlung depressiver Patienten von größter Bedeutung.
Bei vielen chronischen somatischen Erkrankungen treten gehäuft depressive Symptome auf oder die somatische Erkrankung führt durch die damit verbundenen Beeinträchtigungen zu depressiven Symptomen. Diese Komorbidität kann sich prinzipiell verschieden manifestieren (Härter M, Baumeister H, Bengel J, Hrsg.:
Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen Berlin: Springer, im Druck) (Kasten 15):
1. Die körperliche Erkrankung, ihre medikamentöse Behandlung sowie dadurch verursachte neurobiologische Veränderungen sind der wahrscheinliche Grund für die depressive Symptomatik (beispielsweise bei Hypo- oder Hyperthyreoidismus, Neoplasmen, Infektionskrankheiten, Behandlung mit Antihypertensiva). Hier steht die Behandlung der somatischen Erkrankung oder die Modifikation der Medikation im Vordergrund. Die depressive Symptomatik muss eventuell zusätzlich behandelt werden.
2. Die körperliche Erkrankung ist ein auslösender und/oder aufrechterhaltender Faktor der depressiven Symptomatik (beispielsweise depressive Verarbeitung schwerer Erkrankungen, depressive Reaktion auf Belastungen durch die Behandlung, inadäquate Trauerreaktion). Hier ist die parallele Behandlung der somatischen und depressiven Symptomatik indiziert.
In der Praxis ist eine Trennung somatischer und psychischer Ursachen nicht sinnvoll. Forschungsergebnisse zum Beispiel aus Studien mit Patienten, die an einem Diabetes mellitus leiden, zeigen, dass der Zusammenhang zwischen objektiver Krankheitsschwere und der Ausprägung der depressiven Symptomatik nur schwach ist und eine Einteilung der Symptome in „rein körperlich“ und „rein psychisch“ wissenschaftlich nicht haltbar ist (17).
Behandlungswege
Entsprechend dem Auftreten der beschriebenen Symptomatik, der Intensität der Symptome wie auch dem individuellen Krankheits- und Therapieverlauf erfordert die Behandlung der Depressionen einen klaren, strukturierten und gegebenenfalls interdisziplinären Behandlungsablauf, wie er zum Beispiel in Rahmenkonzepten der integrierten Versorgung modellhaft entwickelt wurde (18). Hinsichtlich der detaillierten inhaltlichen Darstellung der therapeutischen Optionen in der Behandlung der Depression wird auf die Versorgungsleitlinien (15) sowie an deren Weiterentwicklung durch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde.(DGPPN) unter Einbindung aller relevanten Fachgesellschaften und Berufsverbände auf die S3-Leitlinien beziehungsweise nationale Versorgungsleitlinie in Zusammenarbeit mit dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) verwiesen. Darüber hi-
naus wurde im Rahmen des Programms „Gesundheitsziele für Deutschland“ (www.gesundheitsziele.de) eine Formulierung von spezifischen Zielen und Maßnahmen zur Prävention und Behandlung von Depressionen erarbeitet.
Fazit
Die Diagnostik der depressiven Störungen spielt eine überaus wichtige Rolle im praktischen Alltag der klinisch tätigen Ärzte. Es handelt sich bei diesen Störungsbildern um häufig auftretende, aber auch gut behandelbare Erkrankungen, die spezifische Anforderungen an die diagnostischen und therapeutischen Qualifikationen des behandelnden Arztes stellen.
Durch die frühzeitige und korrekte Diagnosestellung und die qualifizierte, auch vom primär behandelnden Hausarzt eingeleitete und vermittelte, interdisziplinäre Behandlung des Patienten, kann das subjektive Leid der Betroffenen vermindert und das psychosoziale Funktionsniveau verbessert werden.
Manuskript eingereicht: 15. 3. 2006, revidierte Fassung angenommen: 10. 5. 2006
Die Autoren versichern, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2006; 103(25): 1754-62.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Sebastian Rudolf
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Ratzeburger Allee 160
23538 Lübeck
E-Mail: rudolf.s@psychiatry.uni-luebeck.de
Weitere Informationen
Versorgungsleitlinien für depressive Störungen in der Allgemeinpraxis:
www.dgppn.de/leitlinien/pdf/Versorgungsleitlini en-depression.pdf
„Gesundheitsziele für Deutschland“:
www.gesundheitsziele.de
Leitlinienthemen und fachspezifische Leitlinienanbieter
zusammengestellt vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin:
www.leitlinien.de
Programm für Nationale Versorgungsleitlinien
Leitlinien werden zurzeit erstellt. Zusätzlich findet man „Informationen von Patienten für Patienten" sowie ausgewählte Links und zusätzliche Informationen zum Umgang mit dem Thema Depression unter:
www.versorgungsleitlinien.de/patienten/patien ten/depressioninfo
Kompetenznetz Depression
Hier finden sich weiterführende Informationen auch für Betroffene und Angehörige sowie das regionale Angebot des „Bündnis gegen
Depression“: www.kompetenznetz-depression.de
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Grafik
Kasten 1
Kasten 2
Kasten 3
Kasten 4
Kasten 5
Kasten 6
Kasten 7
Kasten 8
Kasten 9
Kasten 10
Kasten 11
Kasten 12
Kasten 13
Kasten 14
Kasten 15
1. | Kessler RC, Berglund P, Demler O, Walters EE: Lifetime prevalance and age-onset distributions of DSM-IV disorders in the national comorbidity survey replication. Arch Gen Psychiatry 2005; 62: 593–602. MEDLINE |
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18. | Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) (Hrsg.): Rahmenkonzept – Integrierte Versorgung Depression. Nervenarzt 2005; 76: 103–25. |
Piechowiak, Helmut
Szczepanski, Rüdiger
Rudolf, Sebastian