THEMEN DER ZEIT
Gottfried Benn (1886–1956): Stets ein Gefangener der Resignation


Gottfried Benn in seinem letzten Lebensjahr;
Zeichnung von H.-D. Göring nach einer Fotografie
von Prof. Dr. J. Müller, Jena
Er hat sein Leben lang als Dermatologe praktiziert und wurde einer der bedeutendsten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts: Gottfried Benn. In dieses Jahr fällt sein 120. Geburtstag und 50. Todestag. Gottfried Benn wurde am 2. Mai 1886 als zweites von neun Kindern eines evangelischen Pfarrers und einer aus der französischen Schweiz stammenden Mutter in Mansfeld (Westprignitz) geboren. Nach dem Abitur 1903 am Friedrichs-Gymnasium in Frankfurt/Oder studierte Benn zunächst Theologie und Philologie in Marburg und Berlin, ehe sich 1905 sein Wunsch, Medizin zu studieren, endlich erfüllte. Die Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen in Berlin bot hierfür nahezu ideale Bedingungen: Es wurden keine Studiengebühren erhoben, und der fachliche Ruf war hervorragend. Die berühmtesten Absolventen dieser Akademie waren Virchow, Helmholtz, Leyden und Behring. Zu Benns akademischen Lehrern gehörten der Chirurg August Bier, der Gynäkologe Ernst Bumm, der Pädiater Otto Heubner, der Internist Wilhelm His d. J., der Hygieniker Max Rubner, der Anatom Wilhelm Waldeyer, der Gerichtsmediziner Fritz Strassmann und der Dermatologe Edmund Lesser.
Schon zwei Jahre nach dem Physikum wurde Benn 1910 für seine Schrift „Ätiologie der Pubertätsepilepsie“ mit dem Ersten Preis der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin ausgezeichnet. 1912 erhielt er nach einer mit „gut“ bestandenen Prüfung die Approbation als Arzt und wurde mit der Dissertation „Über die Häufigkeit des Diabetes mellitus im Heer“ zum Dr. med. promoviert. Wegen einer „Wanderniere“ schied Dr. Benn 1912 aus dem aktiven Militärdienst aus. Es folgten Tätigkeiten als Assistent an zwei Pathologischen Instituten städtischer Krankenhäuser in Berlin, in der Psychiatrischen Klinik der Charité, als Schiffsarzt und in einer Lungenklinik.
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges wurde Gottfried Benn als Militärarzt eingezogen und leitete eine Abteilung für Geschlechtskrankheiten in Brüssel. Bei Prof. Edmund Lesser an der Hautklinik der Charité ließ sich Benn zum Dermatologen ausbilden. Möglicherweise hat sein eigenes Ekzem die Wahl der Fachrichtung beeinflusst. Von 1917 bis 1935 führte Benn eine Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin. 1935 gab er unter politischem Druck seine Kassenpraxis auf und ließ sich mithilfe alter Offiziersfreunde als Oberstabsarzt in der Wehrersatzinspektion Hannover reaktivieren. 1937 wurde er im Rang eines Oberstarztes in das Oberkommando der Wehrmacht in der Berliner Bendler-Straße versetzt, wo er Gutachten bei Dienstbeschädigungen erstattete und Statistiken über Selbstmorde von Wehrmachtsangehörigen führte. Für ihn war der Eintritt in die deutsche Wehrmacht die „aristokratische Form der Emigration“, nachdem er Anfang 1935 in das Visier der NS-Kulturpropaganda geraten war. 1945 eröffnete Gottfried Benn wieder seine Hautarztpraxis in Berlin und führte sie bis zum Jahr 1953.
Benn hat wiederholt geäußert, dass ihn sein Beruf innerlich nie beschäftigt habe und nur dem Broterwerb diene. Die Äußerungen von Zeitgenossen reichen von der Vermutung, er sei „Mediziner und nicht Arzt“ gewesen bis zur Schilderung eines mitfühlenden hilfsbereiten Arztes, der ärmere Patienten kostenfrei behandelte, ihnen in Zeiten wirtschaftlicher Not sogar Medikamente, Nahrungsmittel und Kohlen bezahlte. Seine Zweifel an der Medizin seiner Zeit hat Gottfried Benn in den Essays „Irrationalismus in der Medizin“ und „Medizin in der Krise“ formuliert. Er wurde in seiner Skepsis durch das Buch des Schweizer Psychiaters Eugen Bleuler „Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin“ und die „Philosophie des Als-ob“ von Hans Vaihinger, der ebenso wie Benn von Nietzsche beeinflusst war, bestätigt. Benn verfasste aber auch eine Reihe streng wissenschaftlicher Arbeiten.
Als Dichter wurde Gottfried Benn 1912 durch seinen ersten Gedichtband „Morgue und andere Gedichte“ mit einem Schlag bekannt. Mit ihren schockierenden Sujets aus Sektionssaal, Operationsraum und Kreißsaal brachen diese frühexpressionistischen Gedichte mit allen gültigen ästhetischen Normen. Die anscheinend emotionslose Schilderung konkreter Krankheitsbilder, von Obduktionen, Ausschabungen und Operationen, die Erschütterung und Verzweiflung dennoch nicht verhehlte, begegnet dem Leser in „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“, „Schöne Jugend“, „Kleine Aster“, „Kreislauf“, „Cürettage“, „Saal der kreißenden Frauen“ und anderem. Im Gedicht „Arzt“ findet sich die ungeheuerliche Zeile „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“. Sein mit griechischer Mythologie, medizinischen und naturwissenschaftlich-philosophischen Termini und Modeworten gespicktes Vokabular wird in seinen Gedichten zu einer faszinierenden Wortmagie von oszillierender kalter Spannung verknüpft. Gleichgültig, ob er anfangs die Apokalypse der Pathologie oder später Rausch und Trauer in Worte fasste, immer blieb Benn ein Gefangener der Resignation.
In seiner mittleren Schaffensperiode, in der die „Statischen Gedichte“ entstanden, bestimmten Fatalismus, Agnostik und Ich-Besessenheit den dichterischen Impetus. Im Spätwerk wurden resignative Größe und Kälte sowie sterbende Schönheit in einer von Untergängen bedrohten Welt zelebriert. Neben Gedichten hat Benn Essays, Dramen und Prosa veröffentlicht („Rönne“, „Weinhaus Wolf“, „Diesterweg. Eine Novelle“, „Der Vermessungsdirigent“, „Kunst und Macht“, „Der Ptolomäer“, „Roman des Phänotyp“, „Doppelleben“ und anderes).
Zwischen 1928 und 1932 hatte Gottfried Benn den Gipfel seines literarischen Ruhms erreicht, er war Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. Über die Dichterin Else Lasker-Schüler kam Benn mit den zur künstlerischen Avantgarde zählenden Peter Hille, Franz Werfel, Georg Trakl und George Grosz in Kontakt. Zu der 17 Jahre älteren Else Lasker-Schüler entwickelte sich ab 1912 die leidenschaftlichste Liebesbeziehung, die Benn je zu einer Frau hatte. Durch ihr exzentrisches Äußeres mit kurzem Haarschnitt, Hosenanzügen und exotischem Schmuck bildete sie bei gemeinsamen Auftritten in der Öffentlichkeit zu dem stets mit Anzug, Weste, Krawatte, Melone und Gamaschen korrekt gekleideten Gottfried Benn einen denkbar großen Kontrast. 1933 wurde Else Lasker-Schüler, eine der größten deutschen Dichterinnen, aus Deutschland vertrieben. Einsam und verarmt starb sie am 22. Januar 1945 in Jerusalem. Die wichtigste männliche Bezugsperson im Leben Gottfried Benns war sein langjähriger Briefpartner, der Bremer Großkaufmann Dr. jur. Friedrich Wilhelm Oelze.
Anbiederung an NS-Regime
1914 heiratete Benn die acht Jahre ältere Witwe Edith Osterloh-Bonin (Künstlername Edith Brandt). 1915 wurde ihre Tochter Nele geboren. Sie wuchs nach dem Tod von Edith Benn im Jahr 1922 ab 1923 im Haus der dänischen Wagner-Sängerin und Industriellengattin Ellen Overgaard in Kopenhagen auf. Gottfried Benn hatte sie auf der Rückfahrt von der Beerdigung seiner Frau Edith 1922 kennen gelernt und mit ihr eine kurze Affäre gehabt. Zwischen dem Tod von Edith Benn und der zweiten Eheschließung Gottfried Benns mit Herta von Wedemeyer 1938 vergingen 16 Jahre. 1945 beging Herta Benn aus Furcht vor der heranrückenden Roten Armee Selbstmord. Schließlich heiratete Benn 1946 die Zahnärztin Dr. Ilse Kaul.
Die Hautarztpraxis diente Benn nach eigenen
Aussagen nur zum Broterwerb.
Foto: dpa
Auf Benns anbiedernden Rundfunkvortrag „Der Staat und die Intellektuellen“ reagierte Klaus Mann am 3. Mai 1933 mit einem offenen Brief aus dem südfranzösischen Exil, der seinerseits von Gottfried Benn mit einer infamen Replik unter dem Titel „Antwort auf die literarischen Emigranten“ am 2. April 1933 beantwortet wurde. Hier offenbarte sich Gottfried Benns Denken, das der NS-Ideologie zumindest sehr verwandt war. Es dauerte etwa ein Jahr, bis Benn den totalitären NS-Staat als kunst- und geistfeindlich erkannte. Er hatte aber auch den Mut, diese gewonnene Einsicht in einem Vortrag „Verteidigung des Expressionismus“ öffentlich zu formulieren. Die Antwort der NS-Machthaber ließ dann auch nicht lange auf sich warten: Benn wurde der Vorsitz der Sektion Dichtkunst entzogen, und er wurde im „Völkischen Beobachter“ und im „Stürmer“ in rüdester Weise beschimpft. Am 18. März 1938 wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was für ihn Schreibverbot bedeutete. Die Gefahr, auch physisch vernichtet zu werden, wurde in erster Linie dadurch abgewendet, dass Benn in die Wehrmacht eingetreten war und sich seine militärischen Vorgesetzten schützend vor ihn stellten.
Fortdauernde Faszination
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Gottfried Benn in der Bundesrepublik eine Phase späten Ruhms und offizieller Anerkennung. In der DDR wurde er lange Jahre hindurch von der offiziellen SED-Kulturpolitik weitgehend abgelehnt. Der Zugang zu seinem Werk war dort für Interessierte sehr erschwert. Gottfried Benn starb am 7. Juli 1956 in Berlin.
Zwei Tage vor seinem Tod waren Wirbelmetastasen diagnostiziert worden. Der Primärtumor blieb unentdeckt, sodass die Todesursache nach heutiger Terminologie ein CUP(Carcinoma unknown primary)-Syndrom war.
Während Gottfried Benn als Dermatologe heute nur noch aus biografischen Gründen erwähnenswert ist, geht auch 50 Jahre nach seinem Tod von seinen Gedichten eine fortdauernde Faszination aus.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2006; 103(26): A 1806–9
Literatur beim Verfasser
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Hans-Dieter Göring
Tumorzentrum Anhalt
am Städtischen Klinikum Dessau e.V.
Auenweg 38, 06847 Dessau
E-Mail: tzd@klinikum-dessau.de
Der Arzt II
Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch – :
geht doch mit anderen Tieren um!
Mit siebzehn Jahren Filzläuse,
zwischen üblen Schnauzen hin und her,
Darmkrankheiten und Alimente,
Weiber und Infusorien,
mit vierzig fängt die Blase an zu laufen – :
meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde
von Sonne bis zum Mond –? Was kläfft ihr denn?
Ihr sprecht von Seele – was ist eure Seele?
Verkackt die Greisin Nacht für Nacht ihr Bett –
schmiert sich der Greis die mürben Schenkel zu,
und ihr reicht Fraß, es in den Darm zu lümmeln,
meint ihr, die Sterne samten ab vor Glück . . .?
Äh! – Aus erkaltendem Gedärm
spie Erde wie aus anderen Löchern Feuer,
eine Schnauze Blut empor –:
das torkelt
den Abwärtsbogen
selbstgefällig in den Schatten.
Dyck, Joachim
Stübner, Gerhard