MEDIZIN: Aktuell
Sinnvolle Diagnostik und Therapie des Symptoms Schwindel


Das subjektive Schwindelgefühl ist global gesehen Ausdruck eines gestörten neuronalen Entladungsmusters in
den kortikalen Projektionsgebieten. Die Vielzahl neuronaler Verschaltungen erklärt den Einfluß labyrinthärer,
propriozeptiver, spinaler, hirnbasaler, kortikaler, zerebellarer, optischer und psychischer Impulse auf das
gleichgewichtserhaltende System (Grafik 1). Ursachen der Fehlinformationen sind in der Regel Ausfälle oder
Blockierungen von Rezeptoren, Bahnsystemen und Koordinationszentren, ausgelöst durch hämodynamische,
metabolische, raumfordernde oder mechanische Veränderungen. Das ätiologische Spektrum reicht an den
verschiedenen Angriffspunkten von kardiovaskulären Störungen, Infektionskrankheiten, degenerativen
Prozessen, Stoffwechselstörungen und Neoplasien bis hin zu Traumen, Allergien und Autoimmunprozessen.
Diese Kenntnisse sind die Voraussetzung für eine sinnvolle Stufendiagnostik (Grafik 2).
Sie hat das Ziel, den Patienten auf direktem Wege einer Kausaltherapie zuzuführen, sofern dies möglich ist.
Dem erstbehandelnden Arzt obliegt die Entscheidung, ob der geklagte Schwindel allgemeinmedizinisch
ausreichend erklärbar ist oder ob noch weitere gezielte fachärztliche Untersuchungen durchgeführt werden
sollten.
Anamnese
Für die richtige Einschätzung von Schwindelbeschwerden ist eine exakte Anamnese häufig weit
aufschlußreicher als zahlreiche aufwendige Untersuchungen (7). Zu den Basisparametern der
Schwindelbeschreibung gehören Angaben über Zeit und Intensität. Aus diesem Intensitäts-Zeit-Verhältnis
lassen sich spontane Schwindelformen und provozierbare Schwindelformen ableiten (Grafik 3, 4). Zur
Einstufung der Beschwerden muß der Untersucher sich nach der Dauer der Beschwerden erkundigen. Ferner
fragt er nach einer abnehmenden, ansteigenden oder gleichbleibenden Intensität und erkundigt sich, ob der
Schwindel unter körperlicher oder situationsbedingter, psychischer oder anderer Belastung auftritt. Zur Analyse
von Schwindelbeschwerden gehört vorrangig die Berücksichtigung von Medikamenteneinnahmen, von
otologischen, neurologischen und internistischen Grunderkrankun-gen, die Fahndung nach abgelaufenen
Schädelhirntraumen, Schleudertraumen und Erkrankungen der Halswirbelsäule.
Orientierende Untersuchungen
Nach der Erhebung der Anamnese müssen die subjektiven Beschwerden objektiviert werden. Dazu dient
zunächst eine orientierende Untersuchung. Nach einer allgemeinen körperlichen Inspektion mit Palpation,
Perkussion, Auskultation sowie Blutdruckmessung an Armen und Beinen sollten einige
Koordinationsprüfungen durchgeführt werden, die sehr wichtig sind, da sie das Ausmaß der Störung am besten
erkennen lassen. Zu den gängigen Koordinationsprüfungen zählen zum Beispiel Romberg-Versuch,
Unterberger-Versuch, Blindgang, Armabweichreaktion, Armtonusreaktion, Finger-Nase-Zeigeversuch,
Diadochokineseprüfung, Knie-Hacke-Versuch, Zeigeversuch mit geschlossenen und geöffneten Augen sowie
ein vertikaler Zeichentest. Weisen Schwindelanamnese und orientierende Untersuchungen auf eine periphervestibuläre Erkrankung, so sind audiometrische Basisdiagnostik und Erhebung eines Ohrstatus unerläßlich (6,
8, 9). Zur Abklärung von Schwindelbeschwerden ist auch die Untersuchung mit der Leuchtbrille unbedingt
erforderlich (Abbildung), um einen Spontan- oder Provokationsnystagmus nachweisen zu können.
Mit Hilfe der Nystagmenanalyse ist in der Regel auch schon eine Unterscheidung zwischen peripher- und
zentral-vestibulärer Störung möglich. So sind beispielsweise peripher ausgelöste Ausfall- oder Reiznystagmen
richtungbestimmt, horizontal und zeitlich an ein Schwindelgefühl gebunden, während Nystagmen, die sich bei
Blickrichtung ändern und regellos schlagen, einem zentralen Geschehen zuzuordnen sind. Spontannystagmus
ohne Begleitschwindel ist nicht selten auf ein Augenleiden zurückzuführen (Fixationsnystagmus, Nystagmus
amblyopicus, Spasmus nutans).
Differenzierung der Schwindelbeschwerden
Nach Erhebung der Anamnese und orientierender Untersuchung erfolgt eine grobe Differenzierung. Dazu
empfiehlt sich eine Unterteilung in
1 peripher-vestibulären Schwindel;
1 zentralbedingten Schwindel;
1 nicht vestibulären Schwindel.
Der peripher-vestibuläre Schwindel entsteht bei Störungen im Bereich des Labyrinthes oder des
retrolabyrinthären Bereiches und wird meist sehr intensiv im Sinne eines systematischen Schwindels mit einer
Richtungstendenz empfunden. Typisch ist ein Drehschwindelgefühl, das in der Regel von einem lebhaften
richtungsbestimmten Nystagmus und einer richtungskonstanten Abweichreaktion beim Gehen und Stehen
begleitet wird. In der Akutphase treten auch vegetative Erscheinungen mit Übelkeit, Erbrechen und
Schweißausbruch auf. Ist auch der cochleäre Apparat von einer Störung betroffen, so sind zusätzlich
Hörbeeinträchtigung und Tinnitus vorhanden. Der zentralbedingte Schwindel wird häufig als
Schwankschwindel empfunden und ist weniger intensiv als der peripher-vestibuläre Schwindel. Der Schwindel
ist nicht streng an einen Nystagmus gekoppelt. Als Dauerschwindel hat er häufig wechselnde Intensität. Die
asystematischen Angaben schließen auch Gefühle wie Betrunkensein, Taumeligkeit oder allgemeine
Unsicherheit ein. Die begleitenden Koordinationsstörungen haben keine Richtungstendenz und sind als Ataxie
erkennbar.
Ursache eines nichtvestibulären Schwindels sind in der Regel Erkrankungen, die sekundär über eine zerebrale
Hypoxie, kardiovaskuläre oder Stoffwechselerkrankungen direkt über neuronale Membranpotentialstörungen
das gewohnte synaptische Übertragungsmuster beeinflussen. Die subjektive Schilderung bezieht sich auf
Empfindungen wie Kopfleere, Kopfdruck, Benommenheit, Schwarzwerden vor den Augen, Schwäche in den
Beinen, Atemnot, Doppeltsehen und Scheinbewegungen. !
Spezielle Untersuchungen
Die speziellen Untersuchungen sind verständlicherweise von Fach zu Fach verschieden. Aus der Sicht des
HNO-Arztes ergeben sich nachfolgende Prioritäten: Die spezielle Fahndung nach einem peripher-vestibulären
Geschehen schließt die Lage- und Lagerungsprüfung ein. Bei dieser Untersuchungsmethode, die
zweckmäßigerweise ebenfalls mit der Leuchtbrille durchgeführt wird, werden der gesamte Vestibularapparat
provoziert, der Liquor- und Blutdruck geändert, die Lymphokinese stimuliert und Halsrezeptoren gereizt. Da
die Lagerungsprüfung an viele Pathomechanismen gebunden ist, läßt sich der Provokationsnystagmus nicht
immer sicher zuordnen. Eindeutig ist bei benignem paroxysmalem Lageschwindel ein "CrescendoDecrescendo-Charakter", der durch eine Otolithenstörung verursacht wird. Tritt ein Provokationsnystagmus
ausschließlich in Seitenlage auf, so ist an ein Leck im Bereich der Fenster zu denken (Fenster-Fistel-Symptom).
Zur Dokumentation eines peripheren Schadens ist die thermische Erregbarkeitsprüfung unerläßlich. Das
Prinzip dieser von Bárány (1906) vorgestellten Methode, die mit dem Nobelpreis gewürdigt wurde, ist
hinlänglich bekannt.
Elektronystagmogramm
Das Elektronystagmogramm (ENG) dient der Dokumentation und Verlaufskontrolle peripher-vestibulärer
Erkrankungen, der Differenzierung von zentralen und peripheren Schwindelbeschwerden, der Typisierung
verschiedener Nystagmusformen und der Objektivierung von Kompensationsvorgängen. Die graphische
Aufzeichnung bietet eine große Auswahl von Beurteilungskriterien, die für die zunehmend elektronisch
gesteuerte Auswertung von Bedeutung sind.
Das Prinzip des ENG beruht darauf, daß das Auge einem elektrischen Dipol entspricht. Zwischen der Cornea
und Retina besteht ein Potentialgefälle, das sich verstärken und ableiten läßt. Jede Augenbewegung führt zu
einer Spannungsänderung, die der Amplitude und Frequenz eines Nystagmus proportional ist.
Die Ableitung des Nystagmus beinhaltet eine Untersuchungspalette mit Suche nach Spontannystagmus, Suche
nach Blickrichtungs- und Fixationsnystagmus, Pendelblickfolgetests, optokinetische Tests sowie
Langzeitdrehungen und Pendeldrehungen (Grafik 5 und Abbildung).
Für eine sichere Diagnostik ist nicht die Einzeluntersuchung, sondern die gesamte Testbatterie entscheidend (1,
3).
Posturographie
Körperschwankungen lassen sich heute mit Hilfe spezieller elektronischer Waagen sehr gut objektivieren. Die
indirekte Messung der Schwerpunktverlagerung gilt als zuverlässiger Parameter für die Beurteilung der
Stehfähigkeit und somit für die Beurteilung der vestibulospinalen Funktion.
Prüfung der Otolithenfunktion
Die Funktion der Otolithen ist in ihrer klinischen Relevanz noch nicht endgültig geklärt. Derzeit sind einige
Testverfahren wie die exzentrische Rotation oder Ableitung der subjektiven Vertikalen in der klinischen
Routine. Untersuchungstechniken wie die Parallelschaukel nach Jongkees konnten sich im allgemeinen
Routineprogramm nicht durchsetzen und sind Speziallabors vorbehalten (9).
Weitere fachspezifische Untersuchungen
Die Abklärung des zentral-vestibulären Schwindels wird vorrangig von Neurologen und Internisten
vorgenommen. Für die kardiovaskuläre Beurteilung sind spezielle Untersuchungstechniken wie das 24Stunden-EKG und die 24-Stunden-Blutdruckmessung ebenso wie die Echokardiographie von großer
Wichtigkeit. Bei den bildgebenden Verfahren dominieren Kernspintomographie und kraniale
Computertomographie. Diese Untersuchungstechniken werden vor allem zum Ausschluß raumfordernder oder
degenerativer Veränderungen eingesetzt. Dabei ermöglicht die Kontrastdarstellung mit Gadolinium, die
Tumorausdehnung exakt festzulegen. Dies gilt vor allem für Akustikusneurinome, die in den
Kleinhirnbrückenwinkel vorgewachsen sind. Die Vielzahl der differentialdiagnostischen Möglichkeiten kann
hier nicht vollständig aufgeführt werden. Wichtige Bestandteile einer kompletten Untersuchung sind aber auch
die Abklärung von Schäden der Halswirbelsäule. Der Psychologe sollte erst zu Rate gezogen werden, wenn
organische Schäden sicherlich ausgeschlossen sind.
Therapie des Schwindels
Die vorangestellten Ausführungen sollten klarmachen, daß eine Kausaltherapie des Symptoms Schwindel
unbedingt anzustreben ist. Bevor die Kausaltherapie einsetzen kann, ist jedoch häufig schon eine
symptomatische Therapie erforderlich, die sogar in eine Dauertherapie übergehen kann.
In der Akutphase eines peripher-vestibulären Schwindels, der auf eine Neuropathia vestibularis, eine Menièresche Erkrankung, einen Hörsturz mit Labyrinthbeteiligung oder eine Felsenbeinfraktur zurückzuführen
ist, sollten Medikamente mit antivertiginöser und sedierender
Wirkung eingesetzt werden (Tabelle). Die akute vestibuläre Störung kann das Allgemeinbefinden derart
reduzieren, daß eine stationäre Aufnahme erforderlich erscheint.
Da die pathogenetischen Vorstellungen der Krankheitsbilder häufig an eine Mikrozirkulationsstörung
gebunden sind, empfehlen wir durchblutungsfördernde Therapien, die sich bewährt haben. Diese
Infusionsbehandlungen können durch Kortikosteroide ergänzt werden, wenn eine richtungweisende Ätiologie
den Einsatz dieses Medikamentes als sinnvoll erscheinen läßt.
Nach Abklingen der Akutphase sind ergänzend physikalische Maßnahmen hilfreich. Sie helfen bei der frühen
Mobilisation des Patienten. Die Trainingseinheiten beziehen sich auf gymnastische Übungen im Bett,
Blickfolgeübungen sowie ein Training, das sowohl die Propriorezeptoren als auch das vestibulospinale System
beansprucht. Dazu zählen Tätigkeiten wie Zeigen, Zeichnen, Gehen, Stehen, Balancieren, Tischtennisspielen,
gymnastische Übungen im Liegen, Sitzen und Knien. Der Betroffene soll stets bis an seine Belastungsgrenze
gehen. In dieser Phase wird auch eine medikamentöse Dauertherapie empfohlen. Diesbezüglich sind Präparate
wie Betahistin durchaus geeignet, die anfallsartig auftretenden Beschwerden, wie zum Beispiel beim Morbus
Menière, günstig zu beeinflussen. Schwindelintensität und Anfallhäufigkeit werden reduziert. !
Schlußfolgerung
Die sinnvolle Stufendiagnostik beginnt mit der Erhebung einer genauen Schwindelanamnese. Die Analyse der
Beschwerden ist in den meisten Fällen richtungweisend, so daß mit gezielter Diagnostik die Objektivierung der
Beschwerden angestrebt werden muß.
Bei intakter interdisziplinärer Zusammenarbeit wird der Patient möglichst schnell einer Kausaltherapie
zugeführt. Akute Beschwerden sollten möglichst unter stationärer Kontrolle behandelt werden.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-460–464
[Heft 8]
Literatur
1. Claussen CF: Der schwindelkranke Patient. Edition Dr. W. Rudat, Hamburg, 1992
2. Diener HD, Fetter M: Schwindel: Ursachen und Behandlung. Stuttgart: Medpharm, 1991
3. Haid CT: Vestibularisprüfung und vestibuläre Erkrankungen. Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1990
4. Hamann KF: Training gegen Schwindel. Berlin: Springer, 1987
5. Hofferberth B: Otoneurologische Befunde bei vertebrobasiliärer Insuffizienz. Stuttgart: Thieme, 1985
6. Scherer H: Das Gleichgewicht. Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1984
7. Stoll W, Matz D, Most E: Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Stuttgart: Thieme, 2. Aufl., 1992
8. Stoll W et al: Schwindel und schwindelbegleitende Symptome. Wien, New York: Springer, 1994
9. Westhofen M: Die klinische Diagnostik der Otolithenfunktion. Otorhinolaryngol Nova 1991; 1: 26–36
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Wolfgang Stoll
Hals-Nasen-Ohrenklinik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Kardinal-von-Galen-Ring 10
48149 Münster
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