THEMEN DER ZEIT
Spätabbrüche nach Pränataldiagnostik: Der Wunsch nach dem perfekten Kind
DÄ plus


Pränataldiagnostische
Reihenuntersuchungen
führen häufig zu
Verunsicherungen.
Foto: dpa
Allein in den letzten Monaten hatte ich in der Beratung zu pränataler Diagnostik (PND) vier Frauen/Paare, die mit der Mitteilung über die zu erwartende Behinderung oder Erkrankung ihres Kindes von ihren Frauenärzten/Pränatalmedizinern gleichzeitig zu einem Abbruch der Schwangerschaft* aufgefordert wurden. Sie konnten sich aus ihrer eigenen Sicht keinen Abbruch vorstellen, sind dann aber durch die ärztliche Beratung doch auf diesen Weg gebracht worden.
Dabei zitierten sie Sätze wie: „Das hat keinen Zweck, das muss weggemacht werden“ oder „Nur wenn Sie hundertprozentig hinter diesem Kind stehen, schaffen Sie das“. Solche Sätze werden in dieser extremen Krisensituation ungefiltert gehört, eine Distanzierung ist kaum möglich. Ein anderes Beispiel: Bei einem Paar, bei dessen Kind keine Nieren angelegt waren und somit ein Überleben des Kindes nicht möglich war und das sich dennoch für ein Austragen des Kindes entschieden hatte, kommentierte der Pränatalmediziner: „Haben Sie sich einmal überlegt, was für ein Kostenfaktor Ihre Entscheidung für Ihre Krankenkasse bedeutet?“
Hinzu kommt die Tatsache, dass bei unklaren Befunden ebenfalls häufig die Möglichkeit oder Empfehlung zum Abbruch ausgesprochen wird. Das kommt vor beim Nachweis von sogenannten Chromosomenbrüchen, die ein Risiko für eine zu erwartende spätere Behinderung beim Kind von circa zehn bis 15 Prozent (25 Prozent) aufweisen, oder auch nach bestimmten Infektionserkrankungen der Schwangeren. Ob diese Kinder tatsächlich behindert gewesen wären, lässt sich durch eine Qualitätssicherung nach solch einem Abbruch nicht oder nur unzulänglich nachweisen. In der ärztlichen Aufklärung vor PND werden die Möglichkeiten dieser Art von unklaren Befunden in der Regel nicht angesprochen.
Die Frauen beziehungsweise Paare müssen nach dem Schwangerschaftsabbruch in der Regel mit dem traumatischen Erleben, dem Erschrecken auch über sich selbst, allein fertig werden. Was der Verlust des Kindes körperlich, psychisch und seelisch in den Biografien der Frauen/Paare bedeutet, wird vor einem Abbruch selten angesprochen und im Blick auf eine Entscheidung für oder gegen einen Abbruch ungenügend ausgelotet. Die immer wieder in der Beratung und Begleitung nach Abbrüchen, aber auch schon bei Auffälligkeiten im Ersttrimesterscreening auftretenden Selbstvorwürfe und Klagen, „hätten wir doch diese Tests, diesen Ultraschall bloß nicht machen lassen, wir ahnten ja nicht . . ., und uns wäre dieses erspart geblieben . . .“, geben Einblick in die Folgen des Systems der PND, wohin es sich besonders in den letzten fünf Jahren entwickelt hat.
Pränataldiagnostik – so die übliche Begründung für eine „flächendeckende“ Untersuchungspraxis – mindere die Ängste von Schwangeren. Dr. med. Alexander Scharf, Oberarzt an der Medizinischen Hochschule Hannover, vertrat unlängst die Ansicht, dass sie die Bindung zwischen Mutter und ihrem ungeborenen Kind stärke. Doch pränataldiagnostische Reihenuntersuchungen bewirken häufig das Gegenteil. Sie verunsichern und können zu einer Aufspaltung zwischen Mutter und Kind führen, besonders dann, wenn sich – selbst kleinste – Auffälligkeiten zeigen. Während der Anhörung der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ am 30. Mai 2005 zur aktuellen Entwicklung der Pränataldiagnostik hat der Heidelberger Humangenetiker Prof. Dr. med. Claus R. Bartram die verunsichernde Wirkung am Beispiel der Altersindikation bestätigt: „ . . . die Altersindikation macht klar, dass es zum Teil groteske Einschätzungen über das eigentliche Risiko gibt. Das Risiko durch das Alter ist – relativ gesehen – viel kleiner, als es sich die meisten vorstellen. …Selbst im Fall einer Altersindikation, bei der es vielfach eben nicht zu einer genetischen Beratung kommt, ist dies aus meiner Sicht ein nicht tragbarer Zustand . . .“
Rechtfertigungsdruck
Sicher gibt es auch gesellschaftliche Begehrlichkeiten nach dem perfekten und „gesunden“ Kind. Es kann aber weder Aufgabe, Ziel noch Verantwortung von Ärzten und Ärztinnen sein, diesen Wünschen nachzukommen. Die Gefahr, sich damit an einer selektiven Zielrichtung von pränatalen Untersuchungen zu beteiligen, ist groß. Studien belegen, dass mehr als 70 Prozent der vorgeburtlichen Untersuchungen in ihrer Zielrichtung selektiven Charakter haben. Es entsteht ein Rechtfertigungsdruck für Paare, die sich für das Austragen eines möglicherweise kranken oder behinderten Kindes entscheiden, der unweigerlich in die Nähe einer gesellschaftlichen Diskussion um lebenswertes beziehungsweise lebensunwertes Leben führt.
Dass die gesellschaftliche Akzeptanz und im Einzelfall auch die Forderung und Einklagbarkeit von pränataler Diagnostik aufgrund des „flächendeckenden“ Angebots so hoch geworden ist, kann auch von ärztlicher Seite nicht unkritisch und unproblematisch gesehen werden. Die Pränataldiagnostik lässt für alle Beteiligten kaum noch Entscheidungsspielräume zu. Die Diagnostik ist zur Regel geworden. Wer sie verweigert, muss das dokumentieren und unterschreiben – das Gefühl einer Regelverletzung liegt nahe. Die Hürde, sich gegen bestimmte vorgeburtliche Untersuchungen zu entscheiden, wird immer höher.
In den Anfangszeiten der Pränataldiagnostik wurde nur bei Auffälligkeiten oder Erkrankungen gehandelt, möglicherweise auch ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt. Heute wird Frauen mit der Fruchtwasseruntersuchung und den dazu wegbereitenden Screeningprogrammen inklusive Ultraschalluntersuchungen dieser letzte Ausweg schon im Vorhinein mit ins Paket der Schwangerenvorsorge gepackt. In der Praxis klingt das dann so: „Wenn eine Auffälligkeit entdeckt wird, haben Sie die Möglichkeit zur weiteren Diagnostik und zum Abbruch der Schwangerschaft . . .“
Die PND hat auch Auswirkungen auf die anderen professionell Beteiligten: Zwar gibt es mittlerweile in einigen Arztpraxen, Pränatalzentren oder Klinikambulanzen integriert auch eine psychosoziale Beratung. Sie soll bei krisenhaften Situationen wie der Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch helfen. Aber: Hebammen, Krankenschwestern, Psychologen und Psychologinnen, Berater und Beraterinnen, Seelsorger und Seelsorgerinnen laufen in diesem etablierten System Gefahr, lediglich für den reibungslosen Ablauf zu sorgen. Für sie entsteht ein schwieriger Konflikt, denn die Notlage der einzelnen Betroffenen fordert sie und zwingt sie mit ihrem menschlichen Mitgefühl zum Mithandeln, um wenigstens zusätzlichen Traumatisierungen
der Schwangeren entgegenzuwirken. Diese Ambivalenz müssen sich die beteiligten Berufsgruppen immer wieder vergegenwärtigen.
Unabhängige Beratung
Neben intensiver Bewusstseins- und Aufklärungsarbeit sind drei Maßnahmen von politischer Seite und vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen nötig:
1. Eine von Medizin und Humangenetik unabhängige Beratung, eine sogenannte Schwangerschaftsinformationsberatung schon vor Beginn des vorgeburtlichen Screening-Programms sollte fester Bestandteil der Schwangerenvorsorge und somit in den Mutterschaftsrichtlinien verankert sein. Hier kann die Frau zwischen einer Schwangerenvorsorge durch die Hebamme, durch Hebamme und Arzt oder Ärztin oder nur durch den Arzt oder Ärztin wählen. Sie kann nach ausführlicher Information und Aufklärung selbstbestimmt entscheiden, inwieweit sie vorgeburtliche Untersuchungen in Anspruch nehmen möchte oder nicht. Sie kann das Für und Wider dieser Testangebote in Ruhe abwägen und sie bezogen auf ihre Lebenssituation und Werte und Vorstellungen reflektieren.
Konkret würde das erfordern, dass diese Beratung zur gesetzlichen Kassenleistung wird. Vergleichbar mit anderen Untersuchungen in der Schwangerschaft, sogenannten Solluntersuchungen, kann die Schwangere diese Beratung nutzen oder auch ablehnen. Der Arzt wäre dann nach Feststellung der Schwangerschaft gemäß den Richtlinien verpflichtet, der Schwangeren diese Beratung in gleicher Weise, wie die anderen Schwangerenvorsorgeleistungen anzutragen.
2. Um dem derzeit üblichen Automatismus und einer Selbstverständlichkeit der Beendigung einer Schwangerschaft bei einer pathologischen Diagnose nach PND entgegenzuwirken, darf in dieser Situation auf die Option eines Abbruchs weder hingewiesen noch diese angeboten werden. Ein Schwangerschaftsabbruch ist nur indiziert aufgrund einer psychosozialen oder medizinischen Gefährdung der Schwangeren, nicht durch eine Erkrankung oder mögliche Behinderung des zu erwartenden Kindes. Dies in Bezug auf die betroffene Frau festzustellen muss in einer unabhängigen Beratung geschehen. Die Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen formulieren an zentraler Stelle: „Keine Maßnahme der pränatalen Diagnostik hat eine eugenische Zielsetzung“ – an diesem Maßstab muss sich die ärztliche Praxis immer wieder selbst überprüfen und kritisch messen lassen.
Mit dem Herausnehmen des Angebots beziehungsweise einer vorauseilenden Aufklärung über die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs und der entsprechenden Indikationsstellung im Zusammenhang mit pränataler Diagnostik aus den ärztlichen Richtlinien würde ein großer Anteil der Diskussion um haftungsrechtliche Folgen für die Ärzte und Ärztinnen wegfallen. Die medizinische Indikation wäre nicht mehr eine an die Tests gekoppelte Folgemaßnahme und wäre auch als Möglichkeit für die Schwangere beziehungsweise das Paar zunächst ausgeschlossen.
Pränataldiagnostik und Pränatalmedizin kämen somit dem Wissensgewinn (Richtlinien PND, Vorwort und 2. Abs. 1) und therapeutischen Einsatzmöglichkeiten und der Beruhigung der Schwangeren nach: Als Sinn der PND ist zu definieren, ein erweitertes Wissen über den gesundheitlichen Zustand des Kindes zu bekommen. Dass damit auch ein möglicherweise belastendes Wissen mit in Kauf genommen werden muss, gehört zu den wie bei allen medizinischen Maßnahmen verbundenen Risiken und Nebenwirkungen, über die vorher eine angemessene Aufklärung stattfinden muss. Dazu gehört auch die Information darüber, dass pränatale Untersuchungen nicht von vornherein die Option eines Schwangerschaftsabbruches einschließen.
3. In der ärztlichen Aufklärung zu PND müssen die Schwangere und deren Partner über die Zielsetzung der Wissenserweiterung durch PND informiert und es muss ihnen deutlich gemacht werden, dass dieses Wissen zur Beruhigung beitragen kann, aber auch zu Verunsicherung, Beunruhigung und Belastung.
Nur bei einer nicht anders überwindbaren Notlage kann ein Abbruch von der Schwangeren gewünscht werden, wenn sie von sich aus, aufgrund einer dauerhaft zu schwer belasteten psychischen und physischen Situation diese selbst nicht mehr aushalten kann und die Schwangerschaft deshalb abbrechen möchte. Erst dann würde die medizinische Indikation des § 218 a StGB, die eigentlich eine psychosoziale ist, greifen und auch genügen.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2006; 103(40): A 2612-6
Anschrift der Verfasserin
Annegret Braun
Leiterin der PUA-Beratungsstelle zu Pränatalen Untersuchungen und Aufklärung
Diakonisches Werk Württemberg
Heilbronner Straße 180
70191 Stuttgart
E-Mail: pua@diakonie-württemberg.de
*Spätabbrüche sind rechtlich gesehen Abbrüche nach der zwölften Woche; in der Praxis handelt es sich meist um Abbrüche nach der 18. Woche. Ab der 22. Woche, also an der Grenze zur Lebensfähigkeit, ist es üblich – und rechtlich zulässig –, dass das Ungeborene im Mutterleib getötet wird („Fetozid“).
Die Gesamtfassung der Stellungnahme im Internet unter: www.aerzteblatt.de/plus4006
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