ArchivDeutsches Ärzteblatt46/2006Anhörung zur Gesundheitsreform: Zweitmeinung ohne große Folgen

POLITIK

Anhörung zur Gesundheitsreform: Zweitmeinung ohne große Folgen

Rabbata, Samir; Rieser, Sabine

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LNSLNS Der Gesundheitsausschuss des Bundestags hat Experten zu möglichen Auswirkungen des geplanten GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes befragt. Dass die Antworten noch einen Sinneswandel bewirken, scheint ausgeschlossen.

Der Ärger ist da, noch bevor es richtig losgeht: „Die Bedingungen, unter denen wir hier tagen, sind des Bundestags nicht würdig“, schimpft der sonst eher besonnene FDP-Abgeordnete Heinz Lanfermann. Notgedrungen ist man von den Sitzungssälen der großen Fraktionen auf das Bundesfinanzministerium ausgewichen. Doch in der Unruhe zu Beginn des Anhörungsverfahrens zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz am 6. November gehen seine Worte unter. Sachverständige suchen im überfüllten Saal nach einem Platz. Etliche Zuschauer müssen stehen oder mit kalten Granitstufen vorliebnehmen.
Die richtigen Worte suchen Ärzte und Psychologen regelmäßig für Patienten – zuweilen auch für Politiker: Jörg-Dietrich Hoppe (rechts) und Andreas Köhler (links) während der Anhörung (in der Mitte Justiziar Horst Schirmer, dahinter Vertreter der Psychologen). Fotos: Georg J. Lopata
Die richtigen Worte suchen Ärzte und Psychologen regelmäßig für Patienten – zuweilen auch für Politiker: Jörg-Dietrich Hoppe (rechts) und Andreas Köhler (links) während der Anhörung (in der Mitte Justiziar Horst Schirmer, dahinter Vertreter der Psychologen). Fotos: Georg J. Lopata
Einfach „durchgepeitscht“
Die Hektik zum Auftakt der Expertenbefragung ist symptomatisch für das bisherige Gesetzgebungsverfahren zur Gesundheitsreform. Im Eiltempo sollen die Abgeordneten über den mehr als 550 Seiten starken Gesetzentwurf beraten, damit die Reform von April 2007 an greift. 26 Stunden lang, verteilt auf vier Tage, werden mehr als 60 Einzelsachverständige und Verbandsvertreter befragt. Allein deren schriftliche Stellungnahmen füllen mehrere Tische vor dem jeweiligen Sitzungssaal.
Zweifelhaft ist jedoch, ob die Parlamentarier Erkenntnisse aus der Befragung gegenüber den Koalitionsspitzen geltend machen können. „Ich befürchte, dass nur marginale Korrekturen möglich sind. Würden grundsätzliche Veränderungen vorgenommen, käme die gesamte Konstruktion der Koalitionäre ins Wanken“, meint der gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion, Frank Spieth. Dass ein solch kompliziertes Gesetzeswerk durch den Ausschuss „durchgepeitscht“ wird, komme erschwerend hinzu.
Tatsächlich sind viele Abgeordnete vergrätzt, weil die Koalitionsspitzen monatelang hinter verschlossenen Türen tagten und das Parlament bis zum Abschluss ihrer Beratungen außen vor ließen. Als Oppositionspolitiker könne man nichts anderes erwarten, findet Dr. med. Harald Terpe, Bundestagsabgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. „Die Koalitionspolitiker klagen aber hinter vorgehaltener Hand ebenfalls über die mangelnde Beteiligung“, sagt er. Der CDU-Gesundheitsexperte Dr. med. Hans-Georg Faust tut das offen: „Ich habe mich bei den Vorbereitungen des Gesetzes nicht ausreichend eingebunden gefühlt.“ Trotzdem oder gerade deshalb glaubt er fest daran, dass Änderungen am Entwurf nötig und möglich sind. „Allerdings mit Ausnahme der politisch entscheidenden Punkte“, schränkt er ein.
Welche das sind, will der Anästhesist aus dem niedersächsischen Goslar noch nicht sagen. Doch schon in der ersten Anhörungsrunde hat ihm die harsche Kritik der Sachverständigen an der geplanten Bescheinigungsregelung für chronisch kranke Patienten zu denken gegeben. Das Gesetz sieht vor, dass Chroniker regelmäßig zu Vorsorge- und Krebsfrüherkennungsuntersuchungen gehen müssen, damit ihre Zuzahlungen von zwei auf ein Prozent ihres Einkommens begrenzt werden. Zusätzlich sollen Ärzte bescheinigen, dass ihre Patienten eine ausreichende Compliance aufweisen. Dass die Abgeordneten in diesem Punkt noch umsteuern, hält der Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Dr. med. Christoph Fuchs, für möglich. Man habe den Ausschussmitgliedern vor Augen geführt, welche Folgen eine solche Regelung hätte. Denn Ärzte dürften nicht zu Richtern ihrer Patienten gemacht werden, sagt Fuchs, der bei der Anhörung die Position der Bundesärztekammer vertritt.
Der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) teilt die Kritik der BÄK; Gleiches gilt seiner Auffassung nach auch für die vorgesehenen Leistungskürzungen bei Erkrankungen, die durch Piercings, Tätowierungen und Schönheitsoperationen hervorgerufen werden. Während die Spitzenverbände der Krankenkassen Einschränkungen begrüßen, äußert sich der VDÄÄ ablehnend. Dessen stellvertreten-der Vorsitzender, Gerhard Schwarzkopf-Steinhäuser, warnt, dass dann bald Leistungskürzungen etwa bei Sportunfällen folgen könnten.
Sterbenskranke entlasten
Spielraum für Korrekturen scheint es auch bei den geplanten Neuregelungen in der palliativmedizinischen Versorgung zu geben. Im Grundsatz begrüßen die Sachverständigen zwar einen rechtlichen Anspruch auf eine professionelle Sterbebegleitung. Die Juristin der Deutschen Hospizstiftung, Christine Eberle, fordert aber zugleich, die vorgesehene Genehmigungspflicht durch Krankenkassen zurückzunehmen. Sterbenskranken Menschen sei dieses Verfahren nicht zuzumuten, meint sie.
So wichtig Punkte wie diese für die Patientenversorgung sind – im Vergleich zu den großen, politisch heftig umstrittenen Themen wie dem Gesundheitsfonds, der Organisationsreform der Selbstverwaltung oder der Umgestaltung der privaten Krankenversicherung (PKV) handelt es sich eher um Nebenschauplätze. Das wird am Nachmitttag des ersten Anhörungstags deutlich, als es um den geplanten Dachverband für alle Krankenkassen und um eine stärkere Ausrichtung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hin zu hauptamtlichen Strukturen geht.
Kein Tageslicht fällt während der Anhörungen in den Sitzungssaal – aber manches Licht auf Gesetzespassagen, die nicht zu Ende gedacht sind.
Kein Tageslicht fällt während der Anhörungen in den Sitzungssaal – aber manches Licht auf Gesetzespassagen, die nicht zu Ende gedacht sind.
Kassenpleite kann auch KVen ins Trudeln bringen
Die Vertreter der Krankenkassenverbände äußern unisono Bedenken gegen einen neuen Dachverband. Sie sorgen sich, dass dieser zu einem „dirigistischen Steuerungsinstrument“ der Politik werden könne. Und sie geben zu bedenken, dass seine angeblich 181 Einzelaufgaben die Handlungsspielräume für alle Kassen einschränken könnten, von denen zugleich stärkere Anstrengungen im Wettbewerb verlangt werden. Er habe den Eindruck, dass die Politik „gar nicht weiß, was die Vorschläge für die Geschäftsprozesse der Kassen bedeuten“, fasst Rolf Stuppardt, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands der Innungskrankenkassen, seine Einwände zusammen.
Immer wieder geht es in der Anhörung auch darum, dass die Krankenkassen nach den Regeln des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes insolvent werden können. Prof. Dr. Rupert Scholz warnt in seinem Gutachten davor: „Für Krankenkassen, die überwiegend sogenannte schlechte Risiken, das heißt Kranke und Geringverdiener, versichern, enthalten die Entwürfe dramatische Risiken für die Finanzierungssituation.“ Nicht nur für sie. Dr. med. Andreas Köhler, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), weist darauf hin, dass eine insolvente Kasse auch KVen ins Trudeln bringen könne. Diese dürften Einnahmeausfälle durch Kasseninsolvenzen nämlich von Gesetzes wegen nicht durch Kredite abfangen, wären aber gleichzeitig verpflichtet, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten die ihnen zustehende Vergütung zu zahlen. Stefan Etgeton vom Verbraucherzentrale-Bundesverband geht noch einen Schritt weiter: In Zukunft sei nicht auszuschließen, dass Versicherte von Ärzten zur Kostenerstattung gedrängt würden, falls diese die Insolvenz einer Kasse befürchteten.
Kopfschüttelnd verfolgt der ehemalige Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Klaus Kirschner (SPD), als Zuschauer die Anhörung. „Ich glaube nicht, dass das alles bis zu Ende durchdacht ist“, ist sein Eindruck. Welche Folgen zulässige Insolvenzen von Krankenkassen für die Versorgung, aber auch für die Arzt-Patienten-Beziehung oder die Altersabsicherung von Angestellten der Krankenkassen hätten, sei offenbar nicht gesehen worden. Kirschner findet zudem die Unzufriedenheit über die gemeinsame Selbstverwaltung, die das Gesetz prägt, überzogen. „Im Gemeinsamen Bundesausschuss ist es doch hervorragend gelungen, die unterschiedlichen Interessen einzubinden“, sagt er. „Würde es besser, wenn der politische Durchgriff käme? Antwort: Nein.“ Ihn stört zudem die Kurzlebigkeit politischer Vorgaben: „Der G-BA existiert gerade einmal zwei Jahre, und schon wirft die Politik wieder alles über den Haufen. So kann Vertrauen in die Verlässlichkeit politischer Entscheidungen nicht entstehen.“
Über den Haufen geworfen werden soll nach Ansicht von Dr. Volker Leienbach, Direktor des PKV-Verbands, auch zu vieles, was bisher die private Krankenversicherung auszeichnete. Immer wieder wird er am zweiten Anhörungstag nach seiner Einschätzung gefragt. Wobei man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass die beiden Regierungsfraktionen die Fragezeit vor allem nutzen, um jenseits des erzwungenen Kompromisses ihre Meinung zu verdeutlichen: Den Abgeordneten der Union geht es hörbar darum, negative Folgen für die PKV zu erfragen und deren Vorzüge herauszustellen, während die SPD eher herausstreichen lässt, welche Wettbewerbsverzerrungen das bestehende Versicherungssystem nach sich zieht. „Man hat sich schon gefragt, ob die an einem oder an verschiedenen Gesetzen arbeiten“, wundert sich der FDP-Bundestagsabgeordnete Dr. med. Konrad Schily.
Im Mittelpunkt der kritischen Anmerkungen der Fachleute steht der geplante neue Basistarif, den die privaten Versicherungsunternehmen in Zukunft verpflichtend anbieten sollen. „Der Basistarif betreibt eine Entwicklung, die aus der PKV eine GKV macht“, kritisiert Leienbach. Er verweist darauf, dass den vorgesehenen Basistarif ein gesetzlich definierter Versicherungsumfang, nicht risikodeckende Beiträge und ein Aufnahmezwang zugunsten von Personen mit Vorerkrankungen, kennzeichneten.
Zudem würden Versicherte in den Normaltarifen durch Ausgleichsleistungen zugunsten des Basistarifs belastet: „Tatsache ist, dass der Basistarif hoch subventioniert wird“, stellt Leienbach klar. Weil sich die Prämien dafür am durchschnittlichen GKV-Beitragssatz orientieren sollen, den privaten Versicherern jedoch die Erhebung einer Zusatzprämie – wie in der GKV vorgesehen – untersagt ist, werden sie nach Darstellung des PKV-Verbandschefs die Prämien für ihre Wahltarife erhöhen müssen. Diese Kostensteigerungen wiederum würden dann aber Versicherte aus den bisherigen Verträgen in den vergleichsweise günstigen Basistarif treiben, prognostiziert er.
Mehrere Sachverständige formulieren ihre verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die geplanten Änderungen. Prof. Dr. Gregor Thüsing kritisiert unter anderem die erzwungene Umverteilung innerhalb der PKV zur Finanzierung des Basistarifs: „Hier werden privat Versicherte in Dienst genommen, um den Versicherungsschutz für Ärmere sicherzustellen.“ Wenn dies gewünscht sei, müsse aber der Staat diese Aufgabe übernehmen.
Hohe Honorarverluste drohen
KBV-Vorstand Köhler wiederum verweist darauf, dass Verluste an Privathonoraren die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte empfindlich treffen würden. Im Durchschnitt erhielten sie für einen GKV-Versicherten 375 Euro Honorar pro Jahr, für einen PKV-Versicherten dagegen 917 Euro. Würden alle privat Krankenversicherten aus ihrem Vertrag in den Basistarif wechseln, käme dies einem Honorarverlust von rund 2,1 Milliarden Euro gleich, rechnet er vor.
Andere Fachleute kritisieren allerdings das bestehende System aus GKV und PKV und dadurch bedingte Verzerrungen. So weist Werner Schneider vom AOK-Bundesverband darauf hin, dass die Ärzte in unterversorgten Gebieten kaum private Honorare erhielten: „Die Mittel fließen nicht dahin, wo sie benötigt werden.“ „Die Fairness unseres Systems leidet eindeutig an der Trennung zwischen PKV und GKV“, betont auch der Einzelsachverständige Dr. med. Jens Holst. Deshalb sei fraglich, ob eine Besitzstandswahrung auf Dauer richtig sei.
Kritik an der PKV kommt auch vom Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp). Er fordert, im Rahmen des geplanten neuen Basistarifs die Behandlung durch Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten vorzusehen. Dr. Birgit Clever vom bvvp weist darauf hin, dass es erhebliche Hürden für psychisch Kranke beim privaten Versicherungsschutz gebe: „Patienten haben große Schwierigkeiten, in die PKV aufgenommen zu werden, wenn sie schon einmal in Behandlung wegen einer psychischen Erkrankung waren.“ Auch sei der Umfang der Leistungen im Fall einer Therapie schlechter als in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Nach elf Anhörungsstunden ist die erste Runde beendet. Wie es weitergehen wird? „Es gibt immer Beiträge, die bedenkenswert sind“, sagt die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD, Dr. Carola Reimann. Korrekturen sind vorstellbar bei den Insolvenzregelungen für die Krankenkassen, bei der Neukonstruktion des G-BA oder in Details bei den Vergütungsvorgaben für die niedergelassenen Ärzte.
Da ist im Gesetzestext über Seiten vom bundesweiten Orientierungswert und regionalen Abschlägen die Rede, von Abstaffelungen und Mengenbegrenzungen, und zwar so, dass auch Systemkenner passen müssen. Eine „Zumutung“ nennt Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Günter Neubauer manche Passagen: „Es gibt Paragrafen, da werden acht Dimensionen untergebracht. Ein normaler Mensch kann höchstens vier erfassen.“ Dabei wäre vieles einfacher möglich – nur dass man dafür die Budgetierung beenden und „den Mut haben müsste, die Krankheitskosten von den Arbeitskosten abzukoppeln“.
Doch solche Vorschläge versanden wie zahlreiche grundsätzlichen Bedenken, die Vertreter der Ärzteschaft oder der Krankenkassen in ausführlichen schriftlichen Stellungnahmen formuliert haben. Fundamentalkritik nutze nichts, sagt Reimann: „Ich sehe keine Möglichkeit mehr, darauf einzugehen; dazu sind die Koalitionspartner zu weit auseinander.“
Es sei schon auffällig, wie viele Aspekte selbst der Umsetzung nicht durchdacht seien, findet der FDP-Abgeordnete Schily. Und trotzdem: Für ihn ist in dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ein „gerichteter Wille erkennbar, dass das ,Lobbyistengeschrei‘ endlich aufhören und eine große Vereinheitlichung greifen soll“. Überzeugend findet er diesen Ansatz nicht: „So verkalkt das System jetzt auch ist, es ist immer noch elastischer als das, was kommen soll.“
Die Länder verfolgen eigene Interessen – nur welche?
Um manches noch zu verändern, was kommen soll, setzen viele Verbände auf den Einfluss der Bundesländer. Stefan Etgeton vom Verbraucherzentrale-Bundesverband geht allerdings davon aus, dass die Landesregierungen vor allem dort auf Korrekturen pochen werden, wo sie unmittelbar betroffen sind: beim Insolvenzrecht oder den Neuerungen für die Krankenhäuser. Grundlegende Veränderungen erwartet er wie viele andere nicht mehr.
Samir Rabbata, Sabine Rieser

Infos zum Thema Anhörung:
www.aerzteblatt.de; www.aerzteblatt.de/artikel/031837

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