

Die Schauspielerin
Heidrun
Grote und die Saxofonistin
Anne
Kaftan in „Sigrids
Risiken“ von Klaus
Fehling.
Foto:Wolfgang Weimer
Manchmal ist alles anders in der internistischen Praxis von Dr. med. Martina Schneiders in Köln. Nach Ende der Sprechstunde füllt sich das Wartezimmer mit neugierigen Theaterbesuchern, die die zweimalige Theaterpreisträgerin Heidrun Grote in dem Monolog „Sigrids Risiken“ von Klaus Fehling erleben wollen. Die Eintrittskarte ist ein handgeschriebenes Rezept, mit dem die Dramaturgin Sandra Nuy in der Rolle der Sprechstundenhilfe Traubenzucker-Placebos in authentischen Arzneimittelverpackungen überreicht. Das Programm des Abends entnimmt der Besucher samt Risiken und Nebenwirkungen der Packungsbeilage. Art und Dauer der Anwendung: 50 Minuten, keine Pause.
In diesen 50 Minuten erzählt Sigrid von sich und ihrer Mutter Anni, für die sie in der Praxis ein Rezept abholen will. Anni braucht Schlafmittel. „Es ist ja eigentlich auch kein Wunder, dass Anni schlecht schläft“, sagt Sigrid. „Sie steht verkehrt herum. Ich meine, normalerweise geht man doch rückwärts. Man hat die Zukunft im Rücken und blickt auf seine Vergangenheit – oder? Das klingt auf den ersten Blick absurd, ist aber logisch, wenn man mal darüber nachdenkt. Bei Anni ist es andersherum. Bei vielen alten Leuten.“
Wie viele ältere Menschen, wartet Anni nicht gern. Heute wird sie auf Sigrid jedoch warten müssen – denn wie es scheint, ist diese nun selbst ernsthaft erkrankt und soll sich dem Doktor vorstellen. Derweil malt Sigrid sich und dem Publikum aus, wie ihre Mutter gerade im Fernsehen einen Heimatfilm sucht, da sie ihre Tochter nicht erreichen kann. „Hoffentlich findet sie was ohne Flugzeuge“, sorgt sich die Tochter, denn seit dem Krieg hat Anni Angst vor Flugzeugen.
In skizzenhaften Anekdoten zeichnet Autor Klaus Fehling die Geschichte und Beziehung zweier Generationen: derjenigen, die im Zweiten Weltkrieg Kinder waren, und der darauffolgenden Nachkriegsgeneration. Getreu dem Motto: „Vergiss ganz schnell. Darüber wird nicht geredet“ schwieg man und blickte nach vorn. Doch das Unausgesprochene blieb nicht ohne Nebenwirkungen für Sigrid und Anni.
Die Spuren der Erinnerung sind von Regisseur Stefan H. Kraft in Wiederholungsschleifen angelegt, welche die Figuren erst nach und nach in Fragmenten freilegen. Zur musikalischen Begleitung mit Improvisationen und Eigenkompositionen von Brigitte Angerhausen (Piano) und Anne Kaftan (Saxofon/Klarinette) spricht Heidrun Grote die Sigrid aus der Perspektive dreier verschiedener Persönlichkeiten. Mal sitzt sie breitbeinig da und gestikuliert raumgreifend, dann wieder lehnt sie kokett an der Wand oder verwandelt sich in eine unbeteiligte Erzählerin. Der Aktionsradius in der Wartezimmersituation ist minimal und kann als Metapher für die Handlungsmöglichkeiten der Protagonistin gelten. Postmodern zerfällt der Monolog. Was von einer Person begonnen wird, nimmt eine andere wieder auf. Diese setzt den Gedanken fort, um ihn bald darauf wieder abreißen zu lassen. Wie im Film fügen sich Worte, Musik, Geräusche und Bilder zusammen.
Gerade, als es Sigrid „langsam langweilig“ wird („Wie lange soll das denn noch dauern?!“), wird sie schließlich von der Sprechstundenhilfe aufgerufen – und so endet die vielleicht kurzweiligste Zeit, die man in einem Wartezimmer verbringen kann.
Elke Bartholomäus
Foto: Sandra Nuy