ArchivDeutsches Ärzteblatt48/2006Folgen von Hartz IV: Flickschusterei

POLITIK

Folgen von Hartz IV: Flickschusterei

Neuber, Harald

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS
Die Krankenversichertenkarte, ein begehrtes Gut: Inzwischen wird die Zahl der Nichtversicherten in Deutschland auf 300 000 geschätzt. Foto: Vario Images
Die Krankenversichertenkarte, ein begehrtes Gut: Inzwischen wird die Zahl der Nichtversicherten in Deutschland auf 300 000 geschätzt. Foto: Vario Images
Arbeitsmarktreformen gefährden den Versicherungsschutz vieler Patienten. Was kann die Gesundheitsreform ändern?

Hartz IV war schon zwölf Monate in Kraft, als das Hessische Landessozialgericht Anfang dieses Jahres für Rechtssicherheit in einer lange drängenden Streitfrage sorgte: Am 10. Januar lehnten die Richter in Darmstadt den Antrag eines Langzeitarbeitslosen ab, der seine Wiederaufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung gerichtlich erzwingen wollte. Dem Antragsteller war am 1. August 2005 eine Verlängerung der Grundsicherung durch das sogenannte Arbeitslosengeld II (ALG II) aberkannt worden. Nach Ansicht des Sozialamtes verdiente seine Lebensgefährtin genug, um auch den Lebensunterhalt ihres Partners langfristig zu bestreiten.
Frist von drei Monaten
Der so Abgewiesene hatte damit aber nicht nur die staatliche Unterstützung verloren, sondern auch seine Kranken- und Pflegeversicherung. Den Antrag, sich bei der AOK, bei der er zuvor Mitglied war, freiwillig weiterzuversichern, lehnte diese noch am selben Tag ab. Das Gesuch war am 11. November eingegangen – zehn Tage zu spät. Denn: Verliert man die ALG-II-Förderung, bleiben bislang genau drei Monate, um den freiwilligen Wiedereinstieg zu beantragen. Das Gericht in Darmstadt hat den negativen Bescheid der AOK deswegen in zweiter Instanz bestätigt – auch wenn der Antragsteller angab, von der Frist nichts gewusst zu haben. Erfahrungen der Krankenkassen zeigen, dass dies kein Einzelfall ist. Zu viele Betroffene wurden von den Arbeitsagenturen über ihre Selbstversicherungspflicht offenbar nur unzureichend aufgeklärt.
Inzwischen wird die Zahl der nichtversicherten Staatsangehörigen auf 300 000 geschätzt, genaue Zahlen existieren nicht. Die steigende Zahl führen ärztliche Interessengruppen wie der NAV-Virchow-Bund, Verband der niedergelassenen Ärzte, ebenso wie die Kassen neben der allgemein schlechten Wirtschaftsentwicklung auch auf die Hartz-IV-Reform zurück. Zwar, das erkennen alle Experten übereinstimmend an, sind durch die neue Regelung ab 2005 wieder alle versichert, die ALG II erhalten. Also auch jene, die zuvor Mitglied in einer privaten Krankenversicherung waren und sich den Beitrag nicht mehr leisten konnten. Zu dieser Gruppe zählen vor allem ehemalige Selbstständige, unter ihnen viele gescheiterte „Ich-AGs“. Zudem wurde der gesetzliche Versicherungsschutz auch auf diejenigen ausgeweitet, die in der Vergangenheit in keiner Kasse waren. Dieser Trend war beabsichtigt und wird gemeinhin positiv bewertet.
Doch zugleich taten sich an anderen Stellen Lücken auf. Vor einem Jahr bereits wies die Gesundheitsexpertin der AOK Sachsen, Sabine Horn, in der ARD darauf hin, dass jene Sozialhilfeempfänger, die nicht erwerbsfähig sind, durch das neu gestrickte Sozialnetz zu fallen drohen. „Das ist der kleinere, aber auch der hilflosere Teil“, sagte Horn damals. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt erläuterte sie dieses auch weiterhin bestehende Problem. Wer die vom Gesetzgeber vorgegebene Erwerbstätigkeit von drei Stunden am Tag nicht erbringen könne, erhalte nach dem geltenden Sozialgesetz (SGB XII)1 eine monatliche Grundsicherung wegen Erwerbsminderung vom Träger der Sozialhilfe. Dies führt zugleich zu einer Meldung bei der zuständigen gesetzlichen Krankenkasse und somit auch zur Ausstellung einer Krankenversichertenkarte.
Allerdings gelten sie nicht als Pflichtversicherte wie ALG-II-Empfänger, sondern werden in einem Sonderstatus als „Betreute“ im Auftrag des Trägers der Sozialhilfe geführt. Zu Folgeproblemen führte das bislang immer dann, wenn sich die persönliche und gesundheitliche Situation wieder verbessert und die Betroffenen erneut freiwillig in die gesetzliche Krankenversicherung eintreten wollen. Wegen des Sonderstatus konnten sie in diesem Fall oft nicht mehr die notwendige Vorversicherungszeit vorweisen. Überdies hat der Gesetzgeber eine neu beginnende Pflichtversicherung mit Vollendung des 55. Lebensjahrs für Arbeitnehmer und Bezieher des Arbeitslosengeldes I, das bei Arbeitsverlust als maximal einjährige Überbrückung von der Arbeitslosenversicherung ausgezahlt wird, explizit ausgeschlossen. Ursprünglich sollte auf diese Weise verhindert werden, dass privat Versicherte kurz vor der Rente auf Kosten des Solidarsystems wieder in die gesetzliche Kasse wechseln. Dieser Missbrauch wurde unterbunden, zugleich entstanden neue Probleme.
Der vor dem Hessischen Landessozialgericht verhandelte Streit belegte diese gesetzlichen Mängel. Durch sie waren die Richter Anfang des Jahres zu einer ethisch fragwürdigen Entscheidung gezwungen. Der Antragsteller argumentierte mit sozialer Härte: Er sei krank und benötige deswegen dringend Medikamente. Trotzdem lehnten die Juristen in zweiter Instanz ab, denn der Gesetzgeber nimmt die Lebenspartnerin bislang in die volle Versorgungspflicht, auch auf die Gefahr hin, dass in Anbetracht der nun selbst zu tragenden medizinischen Versorgungsausgaben beide – Antragsteller und Lebensgefährtin – in die Förderungsbedürftigkeit abrutschen. Besonders paradox: Der Staat sieht diese Pflicht, wie im vorliegenden Fall, auch bei „eheähnlichen Gemeinschaften“, die er, um Kosten zu sparen, als „Bedarfsgemeinschaft“ umdeutet. In Deutschland gibt es immerhin eine halbe Million dieser Haushalte. Die Krankenkassen dürfen die Partner von Mitgliedern aber erst dann in die kostenfreie Familienversicherung aufnehmen, wenn eine Ehe auch formell geschlossen wurde.
In einer Expertise für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hatte ein Autorenteam vom Lehrstuhl für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen Ende 2005 auf das zentrale politische Dilemma hingewiesen: „Beim Versuch, Sozialmissbrauch zu vermeiden, hat der Staat viele aus der Solidargemeinschaft gedrängt, die den Schutz dringend benötigen“, heißt es in der Studie über „Nichtversicherte Personen im Krankenversicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland“2. Die Opfer dieser Fehlentwicklung finden sich an beiden Enden der Alterspyramide.
Wer älter als 55 Jahre ist, kommt von der privaten nur dann in die gesetzliche Krankenversicherung zurück, wenn er entweder als ALG-II-Bezieher pflichtversichert wird – hier gilt keine Altersgrenze – oder als Rentner in der zweiten Hälfte seines Erwerbslebens zu mindestens 90 Prozent in die gesetzliche Kasse eingezahlt hat, um sich den Schutz im Solidarsystem so zu sichern. Das kommt jedoch nur in wenigen Fällen vor. Und im Einzelfall fragt niemand etwa danach, ob der Antragsteller über Jahre hinweg versucht hat, seinen Lebensunterhalt mit (schein-)selbstständigen Kleinjobs zu bestreiten und sich eventuell auch aus Kostengründen und in Unwissenheit der Folgen in dieser Zeit für die Privatkasse entschieden hat. Hier wird grundsätzlich Sozialschmarotzertum unterstellt. Doch gerade dies halten die Verfasser der Studie für problematisch, weil „immer weniger Biografien gradlinig verlaufen“. Das gilt auch für jüngere Leute. Wer mehr als 14 Fachsemester oder 30 Lebensjahre auf dem Buckel hat, muss in der gesetzlichen Krankenversicherung unter anderem mit höheren Sätzen rechnen.
Die Wissenschaftler von der Universität Duisburg-Essen konstatieren zwar, dass „99 Prozent der Bevölkerung in Deutschland“ noch krankenversichert sind. Eben das könnte sich aber bald ändern. 1995 waren, soweit die raren Angaben des Statistischen Bundesamtes oder anderer Bundesstellen rückschließen lassen, noch 105 000 Menschen ohne Krankenversicherung. 2003 waren es bereits 188 000. Inzwischen sind es bis zu 300 000. Überdurchschnittlich betroffen sind vor allem Ärmere mit einem Haushaltsnettoeinkommen von monatlich unter 1 100 Euro. Ihnen bleibt nur der Weg in die private Versicherung. Weil diese aber auf der Basis von Risikokriterien über die Beitragssätze entscheidet, zahlt, wer alt ist oder eine lange Krankengeschichte hat, viel, oder wird gar nicht genommen. Die Untersuchung von der Universität Duisburg-Essen schlussfolgert, dass immer mehr Menschen deswegen auf einen Krankenversicherungsschutz verzichten. Der soziale Rückstoßeffekt ist absehbar. Wer nicht versichert ist, zögert eine Behandlung so weit wie möglich hinaus, mitunter bis zum Notfall. Die Behandlung darf spätestens dann kein Arzt mehr ablehnen, selbst wenn er auf den Kosten sitzen bleibt.
Bislang nur Behelfslösungen
Dass diese Perspektive nicht vom Zukunftspessimismus geleitet, sondern durchaus realistisch ist, bestätigt Klaus Greppmeier, Hauptgeschäftsführer des NAV-Virchow-Bundes. Immer häufiger berichteten niedergelassene Ärzte über Probleme mit Nichtversicherten, sagte der Verbandssprecher gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt: „Die Patienten erklären sich gegenüber ihrem Arzt erst nach einem langen Prozess der Vertrauensbildung.“ Gemeinhin aber stellten sich Nichtversicherte in den Praxen als Privatpatienten vor und beglichen dann die Rechnungen nicht. Auch Greppmeier sieht hier Nachbesserungsbedarf beim Gesetzgeber: „Es kann nicht sein, dass die niedergelassenen Ärzte für ein gesellschaftliches Problem aufkommen müssen.“
Wie der Ärztevertreter hält auch Stefan Gress, Mitverfasser der Böckler-Studie, eine Problemevaluation für notwendig. Da es bislang nur „Behelfslösungen“ für das Problem der Nichtversicherten gebe, plädiert der Wirtschaftswissenschaftler für die Einführung einer Versicherungspflicht für die gesamte Wohnbevölkerung. Kurzfristig, so Gress, sei es unabdingbar, die Hürden für die Wiederaufnahme der Betroffenen in ihre letzte Versicherung zu senken. Bei den gesetzlichen Kassen könnte das vergleichsweise einfach vorgeschrieben werden. Konflikte im Umgang mit den privaten Kassen hätten sich schon in der frühen Phase der Reformdebatte abgezeichnet.
In der aktuellen Debatte um die Gesundheitsreform versuchen sich beide Seiten daher in Flickschusterei. Mit der Reform von § 5 Sozialgesetzbuch V (Versicherungspflicht) soll den gegenwärtig Nichtversicherten grundsätzlich die Rückkehr in ihre letzte Kasse zu einem Basistarif wieder ermöglicht werden. Das beträfe Fälle wie den eingangs geschilderten. Umstritten aber ist schon die Kostenregelung. Nach dem derzeit im Bundestag diskutierten Entwurf sollen etwa arbeitslos gewordene Selbstständige zu Bedingungen der gesetzlichen Kassen in private Krankenversicherungen zurückkehren können. Können sie sich die Prämie nicht leisten, weil sie dadurch unter die Bedarfsgrenze gerieten, soll die private Krankenversicherung die Hälfte tragen. Genügt diese Entlastung nicht, tragen die Sozialbehörden wiederum die Hälfte des Restbetrages. Bei immer noch unzureichender Kostenübernahme treten entweder wieder das PKV-System oder der Staat in die Pflicht. Trotz dieser vergleichsweise zurückhaltenden Lösung scheint sich Gress’ Konfliktprognose zu erfüllen: Der Verband der privaten Krankenversicherungen läuft gegen die Regelung Sturm.
Unklarheit bei Zusatzbeitrag
Unklarheit besteht auch bei der möglichen Belastung von ALG-II-Beziehern durch Zusatzbeiträge der Krankenkassen im Rahmen der geplanten Gesundheitsreform. Der Caritasverband hat bereits bemängelt, dass Leistungsbezieher davon nicht grundsätzlich befreit sind. Und schließlich bleibt auch die strittige 55-Jahre-Hürde zur Rückkehr in die vormalige Kasse nach dem aktuellen Entwurf in Kraft.
Harald Neuber

1 Im SGB XII, § 41, heißt es dazu: „Zur Sicherung des Lebensunterhaltes im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung können Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 65. Lebensjahr vollendet haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 des Sechsten Buches sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann, auf Antrag die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach diesem Kapitel erhalten.“

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote