ArchivDeutsches Ärzteblatt49/2006Von schräg unten: Schmerzfrei

SCHLUSSPUNKT

Von schräg unten: Schmerzfrei

Böhmeke, Thomas

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Eigentlich ist unsere Kunstfertigkeit, anderen Menschen in ihrer Not zu helfen, mit nichts zu vergleichen, schon gar nicht in nackte Zahlen zu fassen. Buchhalterische Charaktere jedoch reduzieren unser Können auf einen schnöden, weil messbaren prognostischen oder symptomatischen Gewinn. Ich kann dem schon aus narzisstischen Aspekten nicht zustimmen, gebe jedoch zu, dass mitunter derart profane Sichtweisen hilfreich bei medizinischen Entscheidungen sind. So auch bei meinem Patienten, der an einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit leidet. Hier bin ich in höchstem Maß gefordert, über die minutiöse Analyse des Leidensdruckes die optimale Entscheidung über die beste Therapiemodalität zu fällen. Also, wie war das mit seiner schmerzfreien Gehstrecke?
„Sie meinen, was mit meiner Verkalkung ist? Also hören Sie mal gut zu, die vom Versorgungsamt wollten mir nur 50 Prozent dafür geben, eine Schweinerei ist das!“ Das ist ganz furchtbar, die Versorgungsämter haben heutzutage kein Verständnis mehr für die Nöte der Menschen, aber wie viel Meter könne er denn noch gehen, bis nichts mehr geht? „Und das ,G‘, das ist auch nicht drin, meinen diese Halsabschneider, aber nicht mit mir, wir sehen uns vor Gericht wieder!“ Sicherlich in höchstem Maß traumatisierend, so eine Verschlusskrankheit und deren sozialgerichtliche Folgen, so versuche ich ihn zu trösten. Ob er mir schildern könnte, ab wann die Schaufensterschmerzen auftreten würden? „Und von wegen der Pflegekasse! Jahrelang einbezahlt, und jetzt kriegt man nix raus! Ich sage Ihnen, das ist ein einziger Betrug!“ Sicher, sicher, das ist für einen Kranken nicht mehr zu verstehen, wenn sein Leiden nicht berücksichtigt wird, aber: Wie viel Schmerzen habe er denn . . . „dass der Medizinische Dienst mich für arbeitsfähig erklärt hat, schlägt dem Bein den Schenkel weg!“ Diese Therapieform, also die Amputation, ist in seinem Stadium der Erkrankung mit Sicherheit noch nicht indiziert. Schließlich versuche ich gerade zu klären, ob es sich um ein Stadium IIa oder IIb nach Fontaine handelt. Wir stellen uns deswegen mal den Weg bis zum Versorgungsamt vor. Muss er nach 200 Metern stehen bleiben oder kann er noch länger laufen?
„Ach, mal ganz im Vertrauen, Herr Doktor: So ein Kerl wie ich, der kann doch Kilometer weit laufen, der lässt sich doch durch so eine Verkalkung nicht beeindrucken!“


Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener
Kardiologe in Gladbeck.

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