

Ich dämmere nun in 10 000 Metern Flughöhe so vor mich hin, als der gefürchtete Medizinerruf ertönt: „Hier spricht der Kapitän. Falls sich ein Arzt an Bord befindet, möge er sich im hinteren Kabinenabteil beim Flugbegleiter melden . . .“ Mein Helfersyndrom lässt mich aufspringen. Wer könnte denn besser als ein deutscher Arzt geeignet sein, diese brenzlige Situation, zehn Kilometer von jeglicher Bodenhaftung entfernt, zu meistern?! Von meinen Patienten weiß ich, dass es in anderen Ländern üblich ist, erst Geld zu verlangen, dann zu behandeln. Welcher arme Flugpassagier hat in solch luftiger Höhe schon Bares parat? Sind wir nicht international die Einzigen, die alle glücklich und gesund machen, um uns danach in Regress nehmen zu lassen? Mit stolz geschwelltem Thorax mache ich mich auf den Weg in das hintere Abteil. Zwischen Sitzreihe 18 und 19 kommen mir allerdings Zweifel. Was ist, wenn ich in die unangenehme Lage gerate, eine Pneumonie oder gar einen Mantelpneumothorax diagnostizieren zu müssen? Mehr als ein Stethoskop haben die hier sicher nicht an Bord. Wenn in Deutschland jemand über Luftnot klagt, wird er gar nicht erst abgehorcht, sondern kriegt sofort eine Überweisung zum CT und zum Lungenfacharzt. Schließlich muss man sich in jeglicher Hinsicht juristisch absichern, und so ein läppischer Auskultationsbefund hat vor Gericht keine Chance. Unter uns: Meine französischen Kollegen, die nicht so viele Verfahren am Hals haben, können mit Sicherheit damit besser umgehen als ich, der aus juristischen Gründen das Auskultieren bereits verlernt hat. Zwischen Sitzreihe 21 und 22 kommt mir ein anderer unangenehmer Gedanke. Was ist, wenn ich die Differenzialdiagnose durch eine ziselierte Anamnese stellen muss? Auch das habe ich, und das bleibt bitte auch unter uns, völlig verlernt: Die deutsche Stakkatomedizin zwingt zu Viertelminutenanamnesen, die höchstens zwei Diagnosen zulassen, und diese müssen DMP-kompatibel sein. Ganz ehrlich, solch eine profunde, ins Detail gehende Anamnese könnten meine englischen Kollegen, die sich noch mit viel Zeit, Hingabe und Empathie ihren Patienten widmen, ungleich besser . . ., meine Unsicherheit wächst. Zwischen Sitzreihe 24 und 25 wächst nun meine Furcht, gar einer Afrikanerin mit drohender Mehrlingsgeburt behilflich sein zu müssen, die ich nicht verstehe. Die Afrikanerin, meine ich. Welcher deutsche Arzt hat bei unserer derzeitigen Geburtenrate noch Erfahrungen in der Geburtshilfe? Kann man mir das international zum Vorwurf machen?
Mit Schweiß auf der Stirn melde ich mich, im hinteren Kabinenabteil angekommen, beim Flugbegleiter. „Sehr freundlich, dass Sie sich auch melden, aber Ihr italienischer Kollege hat das Problem bereits gelöst, wir brauchen Sie nicht, Sie können sich wieder setzen, vielen Dank!“
Immer diese Italiener. Können die sich denn nicht mit der gewonnenen Fußballweltmeisterschaft zufriedengeben?!
Dr. med. Thomas Böhmeke ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.