POLITIK
Medizinische Patente: Profite über Menschenleben
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Kostengünstig und
unverzichtbar sind
indische Generika für
viele Hilfsorganisationen.
Foto: AP
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Einen solchen Fall deckte Ende November das SWR-Fernsehmagazin „Report aus Mainz“ auf.2 Der Hersteller Boehringer Ingelheim hatte in Indien ein Patent auf Nevirapin-Sirup angemeldet.3 Das gängige Präparat zur HIV-Behandlung von Kindern wurde von der Firma entwickelt. In Indien aber konnte es als Generikum hergestellt und für einen Bruchteil des Originalpreises vertrieben werden. Vorstandsmitglied Andreas Barner von der Herstellerfirma begründete den Antrag auf Produktschutz gegenüber dem TV-Magazin mit der notwendigen Qualitätssicherung. Auch müsse vermieden werden, dass Generika auf den europäischen Markt gelangten.
Beide Argumente werden von Hilfsorganisationen zurückgewiesen. Der Export solcher Medikamente nach Europa sei ohnehin illegal, hielt die BUKO-Pharma-Kampagne entgegen.4 Die Expertengruppe ist Teil der „Bundeskoordination Internationalismus“, eines Zusammenschlusses von rund 150 Aktions- und Solidaritätsgruppen, und setzt sich seit Jahren für einen freien Zugang bedürftiger Staaten zu Medikamenten ein. Die Qualität der Generika, so heißt es in der Erklärung weiter, könne allein durch unabhängige Kontrollorgane wie Zulassungsbehörden oder die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gewährleistet werden. „Nach unserer Einschätzung möchte die Firma mit dem Antrag testen, ob sie die Erteilung einer Zwangslizenz verhindern kann“, sagt Laurence Liang vom „Alternative Law Forum“ im indischen Bangalore. Gelänge dies, wären die Folgen für die Versorgung mit Nevirapine-Sirup fatal. Boehringer Ingelheim lässt das Präparat zwar auch in Südafrika herstellen. Dort kostet es aber umgerechnet 214 US-Dollar – im Gegensatz zu 99 US-Dollar in Indien. In Anbetracht der HIV-Durchseuchung in verschiedenen Ländern der sogenannten Dritten Welt und der knappen finanziellen Ressourcen würde ein solcher Preisanstieg unzählige Menschenleben fordern, sagen die Kritiker.
Die renommierte Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen weist auf eine weitere Gefahr hin. Einige der jüngst von der WHO empfohlenen Medikamente zur HIV-Therapie seien bis zu sechsmal teurer als die bislang angewandten Präparate. Besonders dramatisch sei die Situation für Patienten, die aufgrund von Resistenzen mit einer komplett neuen Medikamentenkombination behandelt werden müssten. Im Falle dieser sogenannten zweiten Therapielinie könnten die Kosten um das 50-Fache ansteigen. Hier gilt: Durch die Bestimmungen zum Patentschutz der WTO stehen die Chancen um so schlechter, preisgünstig nachzuproduzieren, je neuer das Pharmazeutikum ist.
Tido von Schön-Angerer, Direktor der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen, weist daher nachdrücklich auf die Notwendigkeit hin, in Entwicklungsländern günstige Nachahmerpräparate einzusetzen: „Was wir brauchen, ist eine komplett neue Strategie des Medikamentenzugangs.“ Werde die Versorgung mit Generika neuerer Medikamente unterbunden, sei eine Kostenexplosion zu erwarten, die kaum ein Hilfsprogramm überstehen könnte. „Pharmaindustrie und internationale Organisationen tun entschieden zu wenig, um diese Katastrophe aufzuhalten“, sagt von Schön-Angerer.
„Reiche Länder haben den Geist der Doha-Erklärung gebrochen“, ergänzt Celine Charveriat von der Hilfsorganisation Oxfam Deutschland, denn es sei politischer Wille notwendig, um die damals verabschiedeten Bestimmungen zum Schutz von Menschenleben auch durchzusetzen. Dass es daran mangelt, belegen die Zahlen: Nach Angaben der WHO stehen noch immer 74 Prozent der HIV-Medikamente unter Patentschutz. 30 Prozent der Weltbevölkerung haben keinen Zugang zu lebenswichtigen Präparaten. Der restriktive Umgang mit dem pharmazeutischen Produktschutz droht diese Situation weiter zu verschärfen.
Immer mehr Hilfsorganisationen fordern WTO und Industriestaaten daher auf, ihre Patentpolitik so zu ändern, dass alle Länder die öffentliche Gesundheit gewährleisten können. Zum fünften Jahrestag der Doha-Erklärung appellierte Oxfam nun an Pharmakonzerne – neben Boehringer Ingelheim betrifft das vor allem Novartis und Pfizer –, Patentklagen in Entwicklungsländern zurückzuziehen. Die damals festgelegten Verpflichtungen, sagt Charveriat, dürften nicht länger von „egoistischen Aktionen“ untergraben werden: „Mehr denn je brauchen wir jetzt ein globales Handelssystem, das Gesundheit über Profit stellt und das Medikamente für alle erschwinglich macht.“
Harald Neuber
1 Das Abkommen bezog sich direkt auf das sogenannte Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums (TRIPS), durch das international Patentschutz gewährleistet und – so die Befürchtung der ärmeren Staaten – zu-ungunsten der Entwicklungsländer ausgelegt wird. Der englische Originaltext im Internet: http://www.wto.org/English/thewto_e/minist_e/min01_e/mindecl_trips_e.htm (18. 12. 2006)
2 Eine Abschrift der Sendung ist im Internet einzusehen: http://www.swr.de/report/id=233454/nid=233454/did=1656202/v085la/index.html
(18. 12. 2006)
3 Nevirapin gehört der Gruppe der nichtnukleosidischen Reverse-Transkriptase-Hemmer an, die seit Mitte der Neunzigerjahre verwendet wird. Besonders in Staaten der „Dritten Welt“ wird das Mittel, das auch unter dem Handelsnamen Viramune bekannt ist, flächendeckend eingesetzt. Es hat sich auch bei der Vorbeugung der Mutter-Kind-Übertragung bewährt.
4 Die Erklärung der Organisation steht online unter: http://www.buko pharma.de/Aktuelles/pm_20061128_Boehrin
ger.pdf (18. 12. 2006)
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